Liebe Eltern,

als erwachsene Geschwister einer psychisch erkrankten Schwester bzw. eines psychisch erkrankten Bruders möchten wir Ihnen mit den folgenden Ausführungen Aspekte unserer Erfahrungen mit dieser für die gesamte Familie belastenden Situation schildern1, denn viele von uns Geschwistern haben in den ersten Jahren nach dem Auftre­ten der Erkrankung sehr gelitten:

  • unter dem Verlust unserer Schwester bzw. unseres Bruders, wie wir sie oder ihn kannten,
  • unter dem Leid, das sie oder er zu tragen hatte und oft heute noch zu tragen hat,
  • aber auch unter den Belastungen, die wir bei unseren Eltern beobachten mussten.

Viele von uns haben daraus falsche Schlüsse gezogen

  • wir haben nicht gewagt nachzufragen, was in unserer Familie auf einmal los ist;
  • wir haben gespürt, dass unsere Eltern uns von schwierigen bis schrecklichen Dingen fern halten wollten – aber das hat unsere Phantasien, was los sein könnte, nur noch angeheizt;
  • wir haben uns bemüht, unseren Eltern weitere Belastungen zu ersparen und haben die Rolle des starken, gesunden, erfolgreichen Kindes gespielt – obwohl wir uns ganz anders empfunden haben;
  • wir haben Schuldgefühle entwickelt, da wir gesund sind und unser Geschwister so leiden muss – einige von uns haben sich deshalb sogar verboten, glücklich zu sein, was ihre Lebens- und Entwicklungschan­cen deutlich reduziert hat;
  • wir haben das Schweigen über das, was ‚in unserer Familie los ist‘, mit nach draußen getragen und gezielt vermieden, darüber zu sprechen;
  • wir haben große Angst verspürt, von unseren Freunden gemieden zu werden oder der Familie zu schaden, wenn wir darüber sprechen; denn
  • wir hatten ja auch erfahren, dass die Gespräche unserer Eltern mit Außenstehenden ins Stocken gerie­ten, wenn die Sprache auf unsere Schwester oder unseren Bruder kam;
  • als uns klar wurde, dass der Hintergrund all dessen eine psychische Erkrankung ist – da hat uns die Angst gepackt, vielleicht selbst psychisch krank zu sein oder zu werden;
  • wir haben begonnen, uns selbst überkritisch zu beob­achten, was die Sache nur noch schlimmer machte – wir haben so manche Eigenart an uns entdeckt2;
  • fast das Schlimmste für uns war jedoch:
    viele von uns hatten niemanden, absolut niemanden innerhalb oder außerhalb der Familie, mit dem wir über das hätten sprechen können, was uns umgetrieben hat.

Für einige Autoren ist dieser letzte Aspekt ein Merkmal von fast allen Geschwistern chronisch kranker oder behinderter Kinder und Jugendlicher; in vielen Publikationen ist die Rede von „Schattenkindern“.

Erst als wir erwachsen wurden und irgendwie in Kontakt mit anderen Geschwistern kamen, traten die Besonderheiten unserer Situation so langsam aus einem dunklen und beängstigenden Untergrund ins Bewusstsein. In diesem Prozess haben viele von uns eine tiefe Enttäuschung gespürt, die sich bei nicht wenigen in Wut, bei anderen in Depressionen geäußert hat: Die Enttäuschung darüber, in einer für uns so schweren Zeit allein gelassen worden zu sein, zumindest nicht in dem Maße wahrgenommen bzw. unter­stützt worden zu sein, wie wir es für eine gesunde Entwicklung gebraucht hätten. Gleichwohl wissen wir als Erwachsene noch besser um die damaligen Probleme unserer Eltern und dass so manches Ehepaar es nicht geschafft hat, die Last gemeinsam zu tragen. Einige von uns haben das späte Gespräch mit unseren Eltern gesucht und mit Erstaunen erfahren: ihnen war sehr bald nach Erkrankungsbeginn bewusst, dass sie uns andere Geschwister in unseren Bedürfnissen und Eigenheiten eher übersehen haben und dass ihnen das heute ein schlechtes Gewissen bereitet.

Andere haben ihre Erfahrungen als Chance wahrgenommen

Dafür haben wir uns die Erfahrungen von Geschwistern angeschaut, die den Einzug der Erkrankung in die Familie in wesentlichen Punkten anders als oben beschrieben erlebt haben und andere Schlussfolgerungen daraus gezogen haben. Diese Geschwister sehen als Erwachsene die Belastungen, die die Familie getroffen haben, in erster Linie als Herausforderung, die ihre persönliche Entwicklung – was ihr Selbstbewusstsein, ihre sozialen Kompetenzen etc. angeht – befördert hat.

Aus ihren Schilderungen zeichnet sich ein Muster ab

  • Die Familien haben sehr schnell nach Ausbruch der Erkrankung die Herausforderungen als gemeinsame Aufgabe erkannt und angegangen.
  • Sie haben – unabhängig von Lebensalter der Geschwister – nicht versucht, sie von den belastenden Erfahrungen fern zu halten, sondern ihnen altersentsprechend erklärt, was in der Familie und mit der Schwester/dem Bruder los ist, häufig mit Unterstützung der Behandler des erkrankten Geschwisters.
  • Sie haben sich gezielt bemüht, die bisherigen Alltagsroutinen beizubehalten.
  • Sie haben trotz aller Belastungen Zeit mit dem oder den gesunden Geschwistern verbracht.

Unser Lerngewinn – ein möglicher Gewinn für andere Familien

Nachdem wir mutig genug waren und uns die Zeit genommen haben, über unser Erleben nachzudenken, ist uns heute wichtig, den ‚Lerngewinn‘ nicht für uns allein zu nutzen. Können wir Eltern, die heute diese schwierige Zeit zu meistern haben, etwas aus unseren Erfahrungen mitgeben:

  • um es ihren Kindern leichter zu machen als wir es erlebt hatten,
  • um sie dabei zu unterstützen, den erkrankten und den anderen Kindern gegenüber kein schlechtes Gewissen haben zu müssen,
  • um es allen Kindern der Familie zu ermöglichen, die geschwisterlichen Beziehungen aus der Zeit vor der Erkrankung in die Zukunft zu retten3?

Aus den Erfahrungen und Schlussfolgerungen der beiden hier idealtypisch vorgestellten Gruppen haben wir Tipps zusammengestellt, die wir gern in unserer Kindheit bzw. beginnenden Jugend unseren eigenen Eltern gegeben hätten: „Eltern-Geschwister-Beziehung: Tipps“.

1 Unsere Erfahrungen haben wir mit denen sehr vieler weiterer Geschwister abgeglichen, die sich in Foren geäußert haben, Interviews gegeben haben oder in größeren Studien befragt wurden.
2 Als Jugendlicher kommt man sich ohnehin immer wieder ‚komisch‘ vor, aber was wir als Geschwister erlebten hatte dieses ‚sich komisch fühlen‘ wohl noch verstärkt – und wir hatte ja auch irgendetwas von ‚angeboren‘ gehört oder gelesen.
3 Studien haben bestätigt: Eine gute Beziehung zwischen den Geschwistern spielt für das Wohlbefinden der oder des Erkrankten eine große Rolle, wobei es gerade die Attribute von Geschwisterbeziehungen sind, die sich als positiv wirksam erwiesen haben (und nicht etwa die Bereitschaft, als Betreuungsperson zur Verfügung zu stehen).

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