Brief an Mama
Gagi K. (eine Schwester)
erschienen in der Zeitschrift Psychosoziale Umschau 3/2017
Neuerdings überkam mich wieder Panik. Panik, dass es dich nicht mehr gibt und ich die Scherben aufsammeln muss und alleine entscheiden muss, was nun mit meinem Bruder passiert.
Er bekommt keine Rente, besucht keinen Arzt, nimmt keine Hilfe an, geht nicht raus.
Ich erzählte meine Gedanken meinem Mann und er sagte: „Seit ich dich kenne, machst du dir diese Sorgen. Bisher hat sich nichts geändert. Alles ist immer noch, wie es war, es gibt immer noch keine Lösung und deine Mutter lebt noch!“
Das ging auf! Ich fing an zu lachen.
Tatsächlich lebe ich in diesem Zukunftshorror-Moment schon so lange, in der Angst vor dem, was mal wird. Was für eine Vergeudung!
Wenn einer so krank ist, ist irgendwie jeder in der Familie krank, auf seine Art und Weise.
Ich weiß nicht, wie es dir dabei geht, zuzusehen wie dein Kind und mein Bruder niemals wird. So viel Hoffnungen und Liebe, Pflege und Geduld hast du investiert, damit er eines Tages seinen Platz in dieser Welt einnehmen kann. Im Leben Fuß fassen, heiraten, selbst Kinder haben, im Job aufsteigen.
Er hatte ganz große Pläne und viele Talente, der goldene Junge.
In diesem März ist er fünfzig geworden. Kein Job, keine Kinder, keine Freunde mehr, keine Zukunftspläne, Tage, die sich öde von einem Schlafzyklus in den nächsten ziehen.
Seit über zwanzig Jahren. Ihr zwei, zusammen. Papa ist nicht mehr, ich lebe weit weg.
Die ersten zehn Jahre (Hut ab dafür!) hast du mich sogar überzeugen können, dass er nur ein wenig braucht, dann klappt alles schon. Du wolltest nicht, dass er krank ist, keiner von uns wollte das.
In dieser Zeit habe ich mehr gehofft, dass er endlich einen Job kriegt und Fuß fasst, als dass ich mich um mich gekümmert habe. Ich dachte, dann können wir alle endlich aufatmen.
Lange versuchte ich zu helfen, ja, dich sogar zu beeinflussen. Ich wollte, dass du weißt, dass du auf mich zählen kannst und ich für dich da bin. Wir führten endlose Gespräche darüber, dass etwas getan werden muss. Ich war jung.
Heute weiß ich, dass ich hoffte, so werde ich wieder das Kind und du wieder meine Mutter. Ich wollte, dass es dir gut geht, damit du dich auch um mich kümmern kannst. Dass du hin und wieder nur für mich da bist, ohne den Schatten meines Bruders, mehr wollte ich nicht. Ich wollte auch, dass es dir gut geht, dass du ein Privatleben hast, dass du glücklich bist.
Als ich weggegangen bin, habe ich euch in meinem Gepäck und meiner Seele mitgenommen. Es hat sehr lange gedauert, bis ich es geschafft habe, in mir auch Platz für mich zu befreien, ohne Schuldgefühle dabei zu haben. Um diesen Platz für mich zu gewinnen, pendelte ich zwischen Trauer, Wut, Schuldgefühlen, Trostlosigkeit, Leere, Wut und manchmal verdrängte ich euch. Niemals für lange, denn das kann ich nicht.
Ich redete bisher mit niemandem über diesen Schatten über unserer Familie, außer mit meinem Mann. Jetzt treffe ich mich mit einer Gruppe einmal im Monat. Die Geschwister psychisch Kranker – romantisch.
In der Gruppe haben wir alle dieses schwarze Mal, keiner starrt mich deswegen an, jeder hat sein eigenes. Ich kann darüber sprechen, wie es mir geht und was mich bewegt, ohne Angst, dass ich mein Gegenüber überfordere. Alle kennen es. Wenn ich erzähle, werden manche mit traurig, andere wirken durch mein Erzählen in die eigene Geschichte zurückgeschleudert, manch einer wirkt aufgeklärt, fast hart, bloß keine Schwäche zeigen. Wir alle sind Hilfesuchende.
Unabhängig davon, wie jeder von uns damit umgeht, sitzen wir alle in diesem Zug zusammen. In dem Zug, in dem wir wenig zu sagen haben, viel miterleben müssen, viel unfreiwillig. Einige von uns sehen mit großer Klarheit, wie die gesamte Familie mit 300 km/h gegen die Wand fährt, doch wir sitzen nicht am Steuer– es sind ja nicht unsere Kinder.
Wenn nichts anderes im Leben geht, der Selbsterhaltungstrieb unserer Geschwister funktioniert meist einwandfrei.
Fühlend, wie deine Kraft schwindet, tastet sich mein Bruder vorsichtig an mich ran, ob ich als neuer „Wirt“ tauge. Er hat Angst, was aus ihm wird. Ich habe Angst, was aus ihm wird – was aus mir wird.
Nach allem, was für ihn getan wurde, soll ich mich noch um ihn kümmern? Ich? Das gefühlt unwichtige, selbsterhaltende, fremde, scheinbar aus der Situation gelöste Kind und doch die Geisel dieser Familiengeschichte.
Mein Bruder soll mein Erbe sein? Alles in mir schreit: NEIN!
Was werde ich wirklich tun, wenn das so ist?
Das weiß ich nicht.
One comment on “Das schwarze Mal”
Nein. Genau so. Ja zur eigenen Liebe und Ehe, zum Glück, zum eigenen Weg. Wenn man es so stark spürt, ist das der Wegweiser. Es war und ist auch meiner. Eltern und speziell Mütter sind da wie Alkoholiker. Ich trink da nicht mit und kaufe auch nie Gt den Alkohol.