Gründungsgeschichte
Als sich in den 1970er Jahren erste Selbsthilfegruppen von Angehörigen psychisch erkrankter Menschen bildeten, musste ‚Angehörige‘ in der Regel gleichgesetzt werden mit ‚Eltern‘, meistens sogar vorrangig mit ‚Müttern‘, noch genauer: Mütter von erwachsenen Kindern mit psychotischen Erkrankungen. Andere Angehörige wie Partner, Kinder oder auch Geschwister kamen höchst selten als Einzelfälle vor, ebenso erkrankte Angehörige mit anderen Diagnosen. Dies setzte sich fort, als sich in den 1980er und 1990er Jahren Bundes- und Landesverbände gründeten. Viele Anliegen und Forderungen ‚der Angehörigen‘ an das Versorgungssystem sind nahezu identisch und werden bis heute ähnlich formuliert; das sind Fragen zu Krankheitsbildern, Therapiemöglichkeiten, ambulanten, klinischen und rehabilitativen Versorgungsstrukturen, Krisenhilfen, auch juristische Themen wie Sozialrecht und Betreuungsrecht. Lange unbeachtet blieb aber, dass die verschiedenen Angehörigengruppen durch ihre jeweiligen Rollen in der Familienstruktur sehr unterschiedlich von der psychischen Erkrankung eines Familienmitglieds betroffen sind.
Während sich in den letzten Jahren Partner mit ihrer spezifischen Sichtweise vermehrt zu Wort meldeten und auch Kinder von psychisch erkrankten Eltern (endlich) deutlich mehr Aufmerksamkeit erfahren können, gilt dies nicht für die Geschwister kranker Kinder und Jugendlicher, die noch immer häufig in ihrer Betroffenheit übersehen werden – von den Eltern genauso wie von im Versorgungssystem Tätigen und von wenigen Ausnahmen abgesehen auch in der Forschung. Und dies, obgleich sie oft über Jahrzehnte hinweg mit in dieser Zeit (und später) erlebten Belastungen, teilweise auch Traumatisierungen leben müssen und nicht selten ein Risiko haben, dadurch selbst zu erkranken.
Es dauerte 20 Jahre, bis sich nach dem ersten ‚Weckruf‘ einer Schwester (Lotte Mucha 1982, Link) erstmals 2003 einige Geschwister im Rahmen einer Angehörigentagung zusammenfanden (Link) und nochmals 14 Jahre, bis sich 2017 ebenfalls im Rahmen einer Angehörigentagung das Netzwerk von Geschwistern psychisch erkrankter Menschen (GeschwisterNetzwerk.de) gründete (Link).
Gründungsidee
Manche Schwestern und Brüder im GeschwisterNetzwerk haben Erfahrungen als Teilnehmende in den herkömmlichen Selbsthilfegruppen von Angehörigen, wobei sie die Teilnahme oft als wenig hilfreich erlebt haben, denn nach wie vor werden die meisten Gruppen von Eltern resp. Müttern mit deren Sorgen und Problemen dominiert. Fast alle Geschwister haben zwar Verständnis für die mitunter großen Belastungen der Eltern, fühlen sich in diesen Gruppen aber mit ihren eigenen Ängsten und Konflikten wenig oder gar nicht wahrgenommen. Ganz anders die Erfahrungen aus den wenigen reinen Geschwistergruppen, die als äußerst hilfreich beschrieben werden.
Triebfeder für die Gründung des GeschwisterNetzwerks war folgerichtig der Wunsch, Kontakt zu Menschen mit ähnlichen Erfahrungen herzustellen und sich mit diesen auszutauschen.
Herausforderungen
Übereinstimmung bestand von Beginn an darin, dass das Netzwerk:
- eine Website aufbaut mit Informationen für ‚neue‘ Geschwister und tiefergehenden Informationen für besonders Interessierte (ist vorhanden und wird ständig erweitert), Link;
- ein Forum für erwachsene Geschwister zur Verfügung stellt (wurde unmittelbar nach der Netzwerkgründung eingerichtet und wächst seither langsam aber kontinuierlich; inzwischen auch mit einem nicht-öffentlichen Teil), Link;
- persönliche Begegnungsmöglichkeiten organisiert (wurde mit mehreren Veranstaltungen und Seminaren realisiert), Link;
- die Gründung weiterer Geschwister-Selbsthilfegruppen fördert und unterstützt (2018 wurde eine Gruppe im Raum Kassel gegründet, 2019 eine Gruppe im Raum Stuttgart), Link;
- eine Peer-to-Peer-Beratung konzipiert, telefonisch, per Email und/oder durch andere digitale Verfahren, Link;
- Öffentlichkeitsarbeit betreibt, um zum einen die Wahrnehmung der Geschwisterbedürfnisse gegenüber den Eltern zu befördern und zum anderen in der Fachöffentlichkeit ein Bewusstsein für die ‚übersehenen Geschwister‘ zu wecken (initiiert durch mehrere Publikationen in Fachzeitschriften, Workshopangebote, Empfehlungen, Stellungnahmen), Link (Artikel) und Link (Aktivitäten und Projekte).
Noch nicht abgeschlossen ist die Diskussion über den organisatorischen Rahmen des Netzwerks, wobei folgende Punkte Berücksichtigung finden sollen:
- Form und Häufigkeit von persönlichen Begegnungen (Zeit- und Finanzbedarf bei überregionalen Veranstaltungen);
- Wunsch der Netzwerk-Mitglieder nach weitgehender Autonomie bei möglichst geringem Verwaltungs-Overhead;
- Entwicklung einer ‚modernen‘, d.h. den heutigen Lebensverhältnissen angepasste Selbsthilfestruktur; hierbei soll besonderes Augenmerk darauf gerichtet werden, dass die herkömmlichen Strukturen in der Selbsthilfe (nicht nur bei Angehörigen psychisch erkrankter Menschen) für viele Menschen an Attraktivität verloren haben;
- die erfreuliche Erfahrung seit Bestehen des Netzwerks, dass sich (anders als bei den herkömmlichen Selbsthilfeangeboten) ein vergleichsweise hoher Anteil an jungen Menschen sowie an Menschen mit Migrationshintergrund dem Netzwerk anschließen, was sich auch in der Struktur widerspiegeln soll;
- formalisierte Kooperationsverfahren mit Landes- und Bundesverbänden sowie Selbsthilfegruppen von Angehörigen psychisch erkrankter Menschen;
- formalisierte Kooperationsverfahren mit Geschwisterorganisationen im deutschsprachigen und im angelsächsischen Raum (bereits 2017 wurde die Europäische Geschwisterorganisation EUSIMI gegründet, Link);
- Institutionalisierung eines Beratungsgremiums, auf dessen Expertisen bereits in verschiedenen Zusammenhängen zurückgegriffen werden konnte, Link.
Trägerverein „AngehörigenNetzwerke.de“
Auch wenn angestrebt wird, organisatorische (verbandliche) Zwänge so gering wie möglich zu halten, so bedarf es doch eines rechtlichen Rahmens, um handlungsfähig zu werden. Wir können beobachten, dass neben dem GeschwisterNetzwerk sich auch andere Angehörigengruppen auf den Weg hin zu einem Netzwerk gemacht haben. Diese werden sich, wenn es denn zu einer Netzwerkgründung kommt, den gleichen juristischen Herausforderungen gegenüber sehen wie das GeschwisterNetzwerk. Darum haben wir uns entschieden, nicht wie ursprünglich angedacht, einen „GeschwisterNetzwerk e.V.“ zu begründen sondern den „AngehörigenNetzwerke e.V.“, dem sich auch weitere Netzwerke unter Wahrung weitestgehender Autonomie anschließen können (Link). Die Gründung erfolgte im November 2018.
Ziel dieses Vereins ist es, der Pluralität der Angehörigenpotenziale gerecht zu werden und ergänzend zu den bestehenden Selbsthilfe-Strukturen einen Rahmen zu gestalten, in dem ein Netzwerk bzw. Netzwerke sich mit einem Minimum an verbandlichen Verbindlichkeiten entfalten können. Die Wahrnehmung, dass über solche Netzwerke offenkundig Menschen erreicht werden können, die die traditionelle Selbsthilfe – zumindest in unserem Indikationsbereich – bisher nur schwer oder gar nicht erreichen oder halten kann, hat uns darin bestärkt.
Als Selbsthilfe-Organisation ist der Verein ausschließlich den Interessen der Menschen in den von ihm vertretenen Netzwerken von Angehörigen psychisch erkrankter Menschen verpflichtet. Zweck des Vereins ist, durch gemeinsame, solidarische Anstrengungen die Lebensbedingungen für die Menschen in den von ihm vertretenen Netzwerken, sowie für deren Familien und die erkrankten Familienmitglieder zu verbessern. Wesentliche Aufgaben des Vereins sind deshalb u.a., den Netzwerken eine Infrastruktur zur Verfügung zu stellen, wie sichere und geschützte Kommunikationswege, Webseiten, Foren und ähnliches sowie die Entwicklung und Implementierung von Standards für die Peer-to-Peer-Beratung. Ziele und Aufgaben sind in der Satzung des Vereins niedergelegt (herunterladen).
Der Verein AngehörigenNetzwerke.de legt großen Wert auf seine Unabhängigkeit und auf Transparenz in seiner Geschäftsführung. Daher lehnt er finanzielle Zuwendungen von Wirtschaftsunternehmen im Gesundheitswesen ab, erkennt dessen ungeachtet aber die Leitlinien an, die die Dachorganisationen der gesundheitlichen Selbsthilfe, die BAG Selbsthilfe und FORUM im Paritätischen zur Zusammenarbeit mit Wirtschaftsunternehmen festgeschrieben haben (herunterladen).
Keinesfalls wird der Verein medizinische Produkte oder Verfahren bewerben oder entsprechende Empfehlungen aussprechen; dies gilt auch für die angeschlossenen Netzwerke.
Um die Unabhängigkeit des Vereins gegenüber seinen Mitgliedern, den durch ihn vertretenen Netzwerken, den Förderern und der Öffentlichkeit zu dokumentieren, veröffentlicht er jährlich neben dem Geschäftsbericht auch einen vollständigen Finanzbericht, erstmals für das Jahr 2019, dem Jahr der Eintragung ins Vereinsregister.