Der Selbsthilfetag zum Thema „Neue Wege der Selbsthilfe – Teilhabe und Selbstbestimmung“ am 30.10.2019 in Berlin wurde gemeinschaftlich ausgerichtet von der Aktion Psychisch Kranke mit Bundesnetzwerk Selbsthilfe seelische Gesundheit (NetzG), Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen (BApK), Ex-In-Deutschland, Deutsche DepressionsLiga (DDL), MutTour, Deutsche Gesellschaft für Bipolare Störungen (DGBS), Deutsche Alzheimergesellschaft und GeschwisterNetzwerk. Er richtete sich an Menschen, die eigene Erfahrungen mit psychischen Erkrankungen haben, an Angehörige und an Profis.
Das GeschwisterNetzwerk hatte bereits zum zweiten Mal die Möglichkeit, sich an dem Selbsthilfetag zu beteiligen. Anders als im Jahr zuvor stand kein spezielles ‚Geschwisterthema‘ im Programm, aber mit ’neue Wege der Selbsthilfe‘ ein Thema, das natürlich auch das GeschwisterNetzwerk betrifft und ganz besonders, weil das Netzwerk ja noch jung ist und andere Herausforderungen hat als die etablierten Verbände.
Die wesentlichen Aspekte der lebendigen und teils kontroversen Diskussion wurden in einem Bericht zusammengefasst, der im Tagungsband der APK erscheinen wird.
"Das Gleiche lässt uns in Ruhe; aber der Widerspruch ist es, der uns produktiv macht."
Johann Peter Eckermann in ‚Gespräche mit Goethe‘
Bericht:
Leonore Julius
Moderatoren:
Horst Harich
Deutsche Gesellschaft für Bipolare Störungen
Leonore Julius
GeschwisterNetzwerk.de und LV Rheinland-Pfalz der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen
Transkription:
Lara Golob
Teilnehmende:
Über 20 Teilnehmende aus unterschiedlichen Altersgruppen; die meisten Menschen, die eigene Erfahrungen mit einer psychischen Erkrankung haben sowie einige Angehörige; Frauen und Männer etwa gleichmäßig verteilt; die meisten Teilnehmenden mit mehr- oder langjähriger Erfahrung in Selbsthilfegruppierungen; einige mit Ex-In-Ausbildung
Internet und die unterschiedlichen Sozialen Netzwerke – das wird derzeit häufig als die Lösung für eine Reihe aktueller Herausforderungen in der Selbsthilfe und an die Selbsthilfe kommuniziert. So stand das Thema auch bei dieser Arbeitsgruppe gleich zu Beginn im Zentrum. Der Kreis der Teilnehmenden konnte sicher nicht als repräsentativ angesehen werden, dennoch war die übereinstimmende Bewertung doch erstaunlich: Nützliche Instrumente – ja, aber nicht mehr und nicht weniger, wie sich in der weiteren Diskussion sehr deutlich zeigte.
- Nutzung des Internet und der Sozialen Netzwerke spielen eine wichtige Rolle zur Vermittlung von Informationen, Bekanntmachung von Veranstaltungen, zur Kontaktaufnahme und ähnlichem.
„…so können wir auch Leute erreichen, die sonst nicht kommen würden.“ - Einen Ersatz für die persönliche Begegnung im geschützten Raum sah allerdings niemand in den Sozialen Netzwerken.
„… also ich würde meine persönlichen Probleme, die ich in der Selbsthilfegruppe bespreche, die würde ich glaube nicht auf öffentlichem Facebook ausdiskutieren.“
Es ist nicht nur die wichtige Frage des Schutzes der sehr persönlichen Daten und Gefühle, sondern vor allem das Fehlen eines menschlichen ‚Gegenüber‘, mit dem die Skepsis begründet wurde. - Dennoch gibt es gute Gründe, zusätzlich zu Gruppentreffen die Möglichkeiten der digitalen Kommunikation in der Selbsthilfearbeit zu nutzen. Dazu gehören u.a.
- dass regionale Gruppen nicht (mehr) vorhanden sind,
- insbesondere im ländlichen Bereich Gruppen nicht oder sehr schlecht erreichbar sind,
- Gruppen einen größeren geographischen Raum abdecken müssen und deshalb persönliche Treffen nur in größeren Zeitabständen möglich sind.
Das GeschwisterNetzwerk entwickelt derzeit ein Modell, Präsenztreffen mit einem geschlossenen, geschützten Kommunikationssystem für Menschen zu verbinden, die sich bereits persönlich bekannt sind. Damit soll ein Weg eröffnet werden, der eine größere Reichweite für den Austausch bietet, ohne die menschliche Komponente zu vernachlässigen.
Eine der Kernfragen, ob die bewährten Selbsthilfegruppen mit regelmäßigen persönlichen Treffen noch zeitgemäß seien, förderte eine wesentliche Übereinstimmung zu Tage: ein Plädoyer für die persönliche Begegnungen in geschützten Räumen.
„… ich finde es auch ganz ganz wichtig, dass wir wieder mehr auf Begegnungsräume gucken und … viele Menschen, mit denen wir zu tun haben, haben keine Begegnungsräume mehr …“
„… wo man einfach sein darf. Ich finde solche Räume gab es früher viel mehr, solche Räume gibt es so gut wie gar nicht mehr und das finde ich einen ganz wichtigen Aspekt.“
„Und ich habe gemerkt, dass es ganz wichtig ist, dass man Räume hat, wo man sich treffen kann, miteinander reden kann, das ist absolut wichtig und das muss auch bleiben.“
Bekannte Vorbehalte kamen von einigen jüngeren Aktivisten, die sich in sowohl in Gruppen, mehr noch aber in den Selbsthilfeorganisationen an den Rand gedrückt fühlen.
„Ich habe wirklich das Bedürfnis was daraus zu machen und gleichzeitig betrachte ich so das Feld der etablierten Vereine, Verbände und es gibt da gewisse Schwierigkeiten … Ich war da die letzten Jahre sehr aktiv tätig, das ist natürlich gerne gesehen, wenn da so ein junger Mensch aufschlägt. … (Es) ist natürlich nie so attraktiv, wenn man der einzige jüngere Mensch ist und vor allem ist es dann nicht mehr attraktiv, wenn man sich ambitioniert einbringen möchte und sobald es aber um Macht geht, wirkliche Mitsprache und Gestaltung, dass da ganz schnell Ende Gelände ist …“.
Auf der anderen Seite wurde aber auch Flexibilität eingefordert, wenn es darum geht, inzwischen alt (und immobil) gewordene Gruppenmitglieder nicht zu isolieren.
Viel Wert wurde auf die Feststellung gelegt, dass länger bestehende Selbsthilfegruppen und -organisationen über die Jahre hinweg keineswegs statisch verharrt haben, sondern sich entwickelt haben. Dabei wurden unterschiedliche Richtungen deutlich:
- Betroffenen-Gruppen lösen sich von der Bezogenheit auf einzelne ‚Diagnosen‘ oder Erfahrungen und öffnen sich für alle Interessierte mit ähnlichen Anliegen und Problemen
„… wir haben definiert, dass jeder Mensch, der unsere Ziele unterstützt, auch in unsere Selbsthilfegruppe kommen kann und das ist eine ganz neue Definition.“
„Mich hat der Begriff Psychiatrie-Erfahrene – so gut er inhaltlich ist – aber immer gestört, ich empfinde ihn heute noch als stigmatisierend und Leute die sich (so) bezeichnen … kokettieren in meinen Augen mit dem Begriff Psychiatrie-Erfahrung, denn die grenzen ja jene aus, die nicht in der Klinik gewesen waren …“. - Die Vertreterinnen des Münchner Angehörigenvereins mit 17 Selbsthilfegruppen und des GeschwisterNetzwerks betonten die positiven Erfahrungen mit Angeboten, die der jeweiligen Rolle der Angehörigen in der Familienstruktur gerecht werden.
„…Angehörige unterhalten sich mit anderen Angehörigen die das selbe erleben, also Geschwister, Partner, usw., jeder hat so seine eigene Verständnisclique und das hat sich als sehr positiv herausgestellt, weil Eltern reden mit Kindern anders, Kinder reden mit Eltern anders, Geschwister kommen dann meistens sowieso nicht zu Wort.“ - Allen Gruppierungen von der kleinen Gruppe vor Ort bis zu einer großen Organisation wie der DGBS ist die Erfahrung gemeinsam, dass sie als ‚Dienstleister‘ für Informationen genutzt werden, aber diese ‚Konsumenten‘ darüber hinaus kein Interesse an Selbsthilfeaktivitäten haben und sich schnell wieder abwenden. Dies muss hingenommen werden, darüber waren sich alle Teilnehmenden einig.
Diese Frage musste auch mit Blick auf eine Weiterentwicklung kontrovers bleiben. Während einzelne Teilnehmende sich explizit dafür aussprachen, nicht ‚politisch‘ werden zu wollen, sahen andere einen wesentlichen Teil ihres Engagements darin, in die Gesellschaft hineinzuwirken; „das ist ja auch so ein bisschen Hintergrund von NetzG.“
„Selbsthilfe kann entweder innenorientiert sein, oder außenorientiert mit Selbstdarstellung (vorpolitischer Raum); dann kommt die politische Ebene auf Landes- oder auf Bundesebene. Das muss immer in der Diskussion unterschieden werden, damit nichts durcheinandergerät. Es ist unbedingt notwendig, dass man Bezug zu seiner Gruppe hat, sonst weiß man nicht mehr, was man tut. Nur dort lernt man die Bedürfnisse der anderen kennen.“ Auch in diesem Zitat wird die herausragende und jegliches Engagement ‚erdende‘ Funktion der Face-to-Face-Selbsthilfe herausgestellt.
„Und soll die Selbsthilfe jetzt wirklich den Weg gehen, als gleiche Säule neben dem Gesundheitsministerium stehen? Oder sind das nur verknüpfte Säulen? Es gibt unterschiedliche politische Vertretungen mit ungleichen Mitteln. Dafür haben wir hier Solidarität auf breiter Ebene, die wir durch die Selbsthilfe erreichen. … Mitunter wird die Selbsthilfe auch missbraucht bzw. gebraucht als billige Hilfeleistung und dafür sollte sich die Selbsthilfe auch nicht hergeben, ich bin da auch im Zwiespalt.“
In engem Zusammenhang mit der vorherigen Frage steht die (Teil-) Professionalisierung der Selbsthilfe. Wie nicht anders zu erwarten wurde dieser Aspekt mit großer Spannbreite diskutiert.
„Professionalität in der Selbsthilfe heißt auch institutionalisiert werden und da muss man aufpassen nicht missbraucht zu werden als Statement-Man!“
„In Kanada, USA und England gibt es mehr Peer geleitete Strömungen, anders als in Deutschland. Professionalisierung heißt: Buchhaltung, Gruppenstrukturen, Mediation und Ressourcen finden. Beteiligung ermöglichen und Beteiligungsprozesse schaffen. Das Krisenverständnis ist sehr viel weltlicher, das Erfahrungswissen ein weniger hierarchisches. Davon sollte man sich inspirieren lassen. Peer-Professionalität ist wichtig.“
- Bei der Frage, ob Selbsthilfe ‚kostenlos‘ sein solle oder ob ein Anspruch auf Vergütung der Leistungen bestehe, prallten die Meinungen voll aufeinander.
„Für Selbsthilfe nimmt man nix: Meine Motivation kommt aus der Beratung und dem Umgang in der Gruppe, diese Dankbarkeit ist meine Motivation, mich mit den Gremien rumzuschlagen.“
„Für Gremienarbeit braucht es dennoch eine Entschädigung und das ist gerechtfertigt … 40 Euro Bezahlung pro Sitzung bzw. Stunde. Gremienarbeit können fast auch nur die Menschen machen, die nicht im Berufsleben stehen, denn dazu braucht es Zeit und die hat jemand mit Vollzeitstelle eventuell einfach nicht.“
„Die Selbsthilfe hat einen großen Wert daraufgelegt, dass es nicht darum geht, Geld damit zu verdienen. Wir sind nicht mehr 68! Nicht mehr die Bürgerbewegung, trotzdem müssen wir uns diese alten Fragen neu stellen und die unterschiedlichen Modelle genau anschauen. Es ist auch schön, eine Übungsleiterpauschale als Wertschätzung und Aufwandspauschale zurückzugeben.“ - Auch bei der Frage, ob ‚Ex-In‘ eine Weiterentwicklung der Selbsthilfe sei oder mit der Selbsthilfe nichts mehr gemein habe, gingen die Meinungen sehr auseinander.
„Es bieten sich aber auch neue Wege der Betroffenenarbeit, also es geht ja einerseits um die Selbsthilfe, andererseits um die Selbstvertretung. Also was ganz deutlich ist, aus der Ex-In-Bewegung kommen jetzt ganz viele Impulse.“
„Ich habe die Erfahrung mit Ex-In-lern gemacht und ich spreche jetzt hier von einem ländlicheren Raum, dass unsere Selbsthilfegruppen sich auflösen, weil diese Ex-In-ler kein Interesse mehr daran haben Selbsthilfe zu betreiben. Die sind da in ihren Einrichtungen und dort sind ihre Bedürfnisse genügend gedeckt, die wollen sich auch nicht mehr artikulieren in Selbsthilfe … Und ich bin jetzt ein Mensch der EXIT-Strategien verfolgt, keine Ex-In-Strategien. Das ist also was anderes.“ - Ein ähnliches Bild zeigte sich im Hinblick auf eine Beteiligung / Nichtbeteiligung an Beratungsstellen im Rahmen des Teilhabegesetzes (EUTB).
Während die Aufrechterhaltung von Selbsthilfegruppen (überall da, wo es möglich ist) unisono befürwortet wurde, zeigten sich Differenzen, wenn es um die Offenheit ging, sich den örtlichen und gesellschaftlichen Gegebenheiten kontinuierlich anzupassen. Es blieb kontrovers, ob die Partizipationsansätze in den letzten Jahren der Selbsthilfe-‚Bewegung‘ eher nützen oder sie beschädigen und am Ende gar überflüssig machen. Bei der Einordnung sollte aber beachtet werden, dass die Teilnehmenden sich vorwiegend aus dem großstädtischen Milieu rekrutierten und Meinungen aus dem kleinstädtischen und ländlichen Raum deutlich unterrepräsentiert waren. Dennoch gab der Workshop – so die einhellige Meinung – eine Menge Denkanstöße, die in die ‚Tagesarbeit‘ mitgenommen werden konnten.