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Der Selbsthilfetag zum Thema „Jahr der Vielfalt – Diversität in Selbsthilfe und Selbstvertretung“ am 08.09.2021 in Bremen wurde gemeinschaftlich ausgerichtet von der Aktion Psychisch Kranke mit Bundesnetzwerk Selbsthilfe seelische Gesundheit (NetzG), Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen (BApK), Ex-In-Deutschland, Deutsche DepressionsLiga (DDL), MutTour, Deutsche Gesellschaft für Bipolare Störungen (DGBS), ADHS Deutschland, Deutsche Alzheimergesellschaft und GeschwisterNetzwerk. Er richtete sich an Menschen, die eigene Erfahrungen mit psychischen Erkrankungen haben, an Angehörige und an Profis.

Wir hatten Gelegenheit, herauszustellen, wie unterschiedlich das Erleben einer psychischen Erkrankung in der Familie ist, abhängig von der familiären Rolle. So empfinden Geschwister und Kinder von psychisch erkrankten Menschen die Herausforderungen und Belastungen meist völlig anders als die Eltern einer oder eines Erkrankten. Zudem konnten wir ausführen, dass sich Angehörige (nicht nur Geschwister) mit Migrationshintergrund oder multikulturellem Hintergrund zusätzlich noch mit anderen Problemen konfrontiert sehen, die in der Selbsthilfe, aber auch im professionellen Hilfesystem, wesentlich mehr Aufmerksamkeit erfordern.

In einem Beitrag im Tagungsband der APK sind diese Aspekte ausgeführt und es wird auch auf die (angestrebte) Diversität in den Selbsthilfevertretungen eingegangen.

Artikel:
Leonore Julius
GeschwisterNetzwerk.de und LV Rheinland-Pfalz der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen

Referat:
Eine Kurzfassung des Artikels wurde bei der Tagung referiert.
Die Tagung fand als Präsenzveranstaltung mit begrenzter Teilnehmerzahl statt und wurde online übertragen. 

Als ich vor fast 30 Jahren zur Angehörigen-Selbsthilfe kam, ohne Vorkenntnisse und aus einer dramatischen Situation heraus, wurde ich sehr bald mit ganz unterschiedlichen Haltungen konfrontiert:

  • In der Selbsthilfegruppe in Mainz, meiner ersten Anlaufstelle, begegnete mir eine Haltung, die von Lotte Mucha bereits 1982 so beschrieben wurde: „Wir Angehörigen sollen unser Leid nicht abwägen, es wiegt für jeden immer gleich schwer.“ (Mucha 1982, S. 56) Das erschien mir ganz selbstverständlich, aber ich musste bald erkennen, dass es das keineswegs war.
  • Wenig später nahm ich erstmals an einer bundesweiten Tagung des Bundesverbands der Angehörigen (BApK) teil. Dort erlebte ich ganz unerwartet eine völlig andere Einstellung, auch diese hatte schon mehr als 10 Jahre früher Lotte Mucha für sich auf den Punkt gebracht: „… nur eine Schwester?“ (Ebenda) Ich war nun keine Schwester sondern Partnerin, aber ich musste mir den vermeintlich wohlmeinenden Rat geben lassen: „Sie können sich ja trennen – bei Eltern ist das etwas ganz anderes.“

Was ich damals ‚nur‘ als verletzend empfand, sollte sich später als strukturell bedingt herausstellen: Der BApK und seine Mitglieder, die Angehörigenverbände auf Landesebene, sowie viele Angehörigengruppen waren getragen und geprägt von Eltern bzw. Elternteilen. Die mit Abstand größte Gruppe stellen dabei Mütter, deren Söhne an einer psychischen Störung mit psychotischen Episoden erkrankt sind (Angermeyer u.a. 1997; EUFAMI 1996; Pretzmann 1998; Quist 1999; Steiner 1999; Mory 2000; Lauber u.a. 2001). Nahezu identisch zeigte sich auch die Beteiligung an einer Befragung von Angehörigen, die vom BApK 2001 durchgeführt wurde: Eltern(teile) – 75%, Partner – 11%, Kinder – 9%, Geschwister – 1%, Sonstige – 4%. Die langjährigen Beobachtungen der Autorin lassen die Annahme zu, dass die Zusammensetzung vieler Selbsthilfegruppen bis heute eine ähnliche Struktur aufweist. Gleichzeitig erheben diese Verbände und Gruppen den Anspruch, ‚für alle Angehörigen da zu sein‘, unabhängig von dem Verwandtschaftsverhältnis und auch unabhängig von der Art der psychischen Störung des erkrankten Familienmitglieds.

Nicht nur in der Angehörigen-Selbsthilfe, auch in der Forschung wurden ‚die Angehörigen‘ lange als homogene Gruppe betrachtet (Studien s.o.). In kaum einer dieser Studien wurde nach der verwandtschaftlichen Beziehung der Befragten unterschieden, und wenn doch, waren Eltern, vornehmlich Mütter, mit 70-80% überrepräsentiert, Geschwister erschienen meist unter ‚Sonstige‘. Während die besondere Situation von Kindern psychisch erkrankter Eltern Ende der 1990er Jahre allmählich in den Blick kam (Mattejat/Lisofsky 1998; Lenz u.a. 2011; 2013; 2017), wurde den Geschwistern im deutschsprachigen Raum erstmals durch die Studien von Schmid u.a. Beachtung geschenkt (Schmid u.a. 2004a; 2005; 2006; 2009; Schmid 2004b). Dies ist nur schwer nachvollziehbar, denn bereits 1993 wiesen in den USA Marsh u.a. in wegweisenden Studien auf das Erleben von Kindern und Geschwistern psychisch Erkrankter hin (Marsh u.a. 1993a; 1993b) und forderten Konsequenzen sowohl für die Forschung als auch für die Versorgungspraxis.

In der bereits genannten Umfrage (BApK 2001) wurde von über 90% der Teilnehmenden ‚Erfahrungsaustausch‘ als wichtiger Grund für den Besuch einer Selbsthilfegruppe angegeben. Es ist schon statistisch offenkundig, dass in von Eltern dominierten Gruppen Partnerinnen und Partner, Kinder und Geschwister nur ausnahmsweise auf Partner für einen Austausch der spezifischen Erfahrungen treffen können. Folgerichtig bildeten sich unabhängige Netzwerke und Verbände, wie z.B.: 1987 der BVEK[1]; 1996 Schatten & Licht[2]; 1999 Netz und Boden[3]; 2014 Seelenerbe[4]; 2017 das GeschwisterNetzwerk[5].

Dabei ist es naheliegend, dass sich Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, seien es Geschwister oder solche mit einem erkrankten Elternteil, völlig anderen Herausforderungen gegenübersehen und andere Bedürfnisse haben als erwachsene Angehörige, seien es Eltern erwachsener Kinder, Partnerinnen und Partner oder junge Eltern nach der Geburt eines Kindes. Während sich etwa Eltern beim Auftreten einer chronischen Erkrankung in der Regel von eigenen Lebensplänen und -träumen und/oder den Wünschen im Hinblick auf ihre (erwachsenen) Kinder zeitweilig oder endgültig verabschieden müssen, haben die jugendlichen Angehörigen ihre eigene Persönlichkeitsentwicklung noch längst nicht abgeschlossen; sie befinden sich in einem ständigen Spannungsfeld, geprägt von vielfältigen Ambivalenzen und Dilemmata. Es zeigt sich, dass diese Umstände bis weit ins Erwachsenenalter und sogar bis ins Alter hinein Folgen zeitigen (siehe Peukert/Julius 2022). Hier seien nur einige wesentliche Unterschiede im Erleben herausgehoben:

  • Kinder von erkrankten Eltern und Geschwister haben zu erwarten, dass der Einfluss der psychischen Erkrankung auf ihr eigenes Leben in der Regel deutlich länger währt als dies bei Menschen der Fall ist, deren Familienmitglied erkrankt, wenn sie selbst schon erwachsen sind. Dies gilt am ausgeprägtesten bei Geschwistern, die mit ihrer erkrankten Schwester oder ihrem erkrankten Bruder häufig von der Kindheit an bis ins hohe Alter verbunden sind – unabhängig von der Intensität oder der Distanz in der geschwisterlichen Beziehung. Viele dieser Kinder und Geschwister werden schon früh belastet von der Aussicht, sich dauerhaft mehr oder weniger intensiv um die oder den Erkrankten kümmern zu müssen – nicht selten prägt diese Befürchtung ihren beruflichen und persönlichen Lebensweg maßgeblich mit und führt unter ungünstigen Verhältnissen zu Defiziten in der Persönlichkeitsentwicklung und der Lebensführung (ebenda).
  • Während für die Eltern oder Partner eines oder einer Erkrankten die Frage der Erblichkeit in Bezug auf ihre eigene Person keine oder eine untergeordnete Bedeutung hat, sehr häufig sogar eine entlastende Funktion haben kann, empfinden Kinder und Geschwister die allgegenwärtige Frage nach einem möglichen ererbten Risiko für sich selbst und ggf. ihre eigenen Kinder in vielen Fällen als Damoklesschwert, das permanent über ihnen schwebt und zu schweren Belastungen führt (ebenda, Kapitel ‚Die Angst, selbst psychisch zu erkranken‘).
  • Bei sehr vielen Angehörigen spielt die ‚Schuldfrage‘ – zumeist unberechtigt – eine außerordentlich große Rolle. Doch auch diese zeigt sich bei Erwachsenen sowie Kindern und Geschwistern in ganz unterschiedlichem Gewand. Während sich Eltern häufig mit einer ‚Verursachungsschuld‘ plagen, werden Kinder und Geschwister – auch wenn sie längst erwachsen sind – von Schuldgefühlen ganz anderer Art umgetrieben: der Solidaritätsschuld (das Gefühl, dem Geschwister und/oder den Eltern nicht genügend Solidarität entgegenzubringen), der Interaktionsschuld (das Gefühl, zu wenig Kontakt zu der oder dem Erkrankten zu haben und/oder nicht erfolgreich bei Unterstützungsversuchen zu sein), das Schuldgefühl, selbst gesund zu sein oder sogar von der Erkrankung zu profitieren, oder sie erleben Schuldgefühle wegen ‚hässlicher‘ Gedanken gegenüber der oder dem Erkrankten, um nur einige zu benennen (ebenda, Kapitel ‚Scheinbar unvermeidbare Schuldgefühle – und das Verbot eigenen Glücks‘ sowie Kapitel ‚Ambivalenzen und Schuldgefühle‘).
  • Das Erleben von Stigmatisierung oder die Befürchtung, stigmatisierbar zu sein, betrifft nicht nur erkrankte Menschen, sondern auch nahezu alle Angehörigen (siehe Peukert 2001). Die Wirkung indes ist bei jungen Menschen, die ihre eigene Persönlichkeit noch entwickeln müssen, gravierender. Während etwa in der Angehörigenstudie von Angermeyer u.a. (1997) ‚nur‘ 30% von Diskriminierungserfahrungen berichten, benennen in mehreren Studien 50–60% der Geschwister solche Erfahrungen oder Befürchtungen (Friedrich u.a. 1999; Barak u.a. 2005; Schmid u.a. 2005; 2006; Sin u.a. 2012); in der Studie von Greenberg u.a. (1997) äußern jüngere Geschwister deutlich mehr Ängste vor Stigmatisierung und Peinlichkeiten als ältere. Es darf wohl davon ausgegangen werden, dass diese Befunde in vergleichbarer Größenordnung für Kinder psychisch erkrankter Eltern zutreffen.

Die unterschiedliche Wahrnehmung der familialen Situation durch Eltern und durch Kinder sowie Geschwister werden indes nicht nur aus Familien mit psychisch Erkrankten berichtet. Sie finden sich teilweise bis in die Wortwahl hinein identisch in Familien mit einem an Diabetes oder Krebs erkrankten Kind oder mit einem Kind mit physischen oder kognitiven Einschränkungen (siehe z.B. Boeger u.a. 1995; 1996; Seiffge-Krenke u.a. 1996; Schmid u.a. 2005; Stålberg u.a. 2004; McKenzie Smith u.a. 2018).

Aus dem unterschiedlichen Erleben einer psychischen Erkrankung in der Familie bzw. der Krankheitsfolgen ergibt sich geradezu zwangsläufig, dass sich – abhängig von der familialen Rolle – auch (erfolgreiche) Coping-Strategien unterscheiden müssen (siehe Peukert/Julius 2022, Kapitel ‚Ähnliche Erfahrungen – unterschiedliche Reaktionen und Wirkungen‘).

Soziale Unterstützung einschließlich Austausch mit Peers wird von vielen Kindern und Geschwistern als wichtiges Element von Bewältigungsversuchen genannt. Solche Peers stehen in den beschriebenen ‚Elterngruppen‘ kaum zur Verfügung. Erschwerend kommt hinzu, dass die Einstellung zu psychischen Erkrankungen und zum Umgang mit den Erkrankten bei Kindern und Geschwistern häufig von der Sichtweise von Eltern erheblich abweicht und diese Unterschiede mitunter auch zu Konflikten innerhalb der Familien führen, welche nicht in einer Angehörigengruppe ausgetragen werden können oder sollen. Das erklärt die Notwendigkeit und das Entstehen von eigenen Angehörigengruppen von und für Menschen in anderen als der Elternrolle.

Ein weiterer Aspekt, der für rollenbezogene Selbsthilfeangebote spricht: Während in Studien lange Zeit vorrangig die aus der Erkrankung eines Familienmitglieds resultierenden Belastungen erhoben wurden, haben Kinder und Geschwister von Erkrankten in den bereits erwähnten Studien von Marsh u.a. (1993a; 1993b) von sich aus darauf hingewiesen, dass sie neben den Belastungen auch positive Impulse für ihre Persönlichkeitsentwicklung erfahren haben. Diese Aussagen wiederholen sich in vielen späteren Studien. Gelegentlich werden solche Impulse auch von Eltern berichtet, allerdings unterscheiden diese sich deutlich in Art und Wirkungsintensität (Literatur siehe Peukert/Julius 2022). Einen Rahmen zu schaffen, in dem neben den durch die Erkrankung bedingten Belastungen und Ängsten eine Herausforderung erkannt wird, die förderliche Persönlichkeitsentwicklungen anstößt und in dem diese Ressourcen unterstützt und begleitet werden, kann im Austausch mit Peers eher gelingen.

In einigen Regionen, vor allem in Großstädten wie Berlin, Hamburg oder München, haben die jeweiligen Angehörigenverbände dieser Tatsache zwischenzeitlich Rechnung getragen und eigene Gruppen für erwachsene Kinder und/oder Geschwister etabliert.

Dessen ungeachtet gibt es auch Bereiche, in denen sich die Bedarfe von allen Angehörigen nicht oder nicht wesentlich unterscheiden; das sind vor allem Informationsbedarfe über Erkrankungen, zu Therapiemöglichkeiten sowie den Angeboten des jeweiligen regionalen Versorgungssystems. Solche Fragen stehen insbesondere zu Beginn einer Erkrankung im Vordergrund. Diese Gemeinsamkeiten (ver)führen ganz offenbar Anbieter von Angehörigenprogrammen dazu, darin deren vorrangigen Unterstützungsbedarf zu sehen und z.B. Psychoedukation zu offerieren, die diesen Schwerpunkt bedient und sich in gemeinsamen Gruppen an die ‚ganze Familie‘ richtet. Etliche Studien (siehe Peukert/Julius 2022, Kapitel ‚Unterstützungsmodule und ihre Wirksamkeit‘) fanden demgegenüber nur eine geringe Wirksamkeit solcher Angebote für Kinder und Geschwister von psychisch Erkrankten. Lukens und Thorning (2011) teilten sogar Psychoedukations-Gruppen für Familien nachträglich auf und bildeten separate Gruppen für Geschwister, nachdem immer deutlicher hervortrat, wie sehr sich die Probleme und Sorgen von Geschwistern von denen der Eltern unterschieden. Andere Studien schlagen zur Erreichung besserer Ergebnisse Peer-geleitete Gruppen für Kinder und Geschwister vor.

Damit zeigt sich, dass Anspruch und Angebote vom Zuschnitt ‚Eines für Alle‘ weder in der Angehörigen-Selbsthilfe noch bei professionellen Unterstützungsangeboten hinreichend sind, vielmehr der Diversität Rechnung getragen werden muss.

[1] Bundesverband der Elternkreise suchtgefährdeter und suchtkranker Söhne und Töchter; http://www.bvek.org
[2] Selbsthilfeorganisation zu peripartalen psychischen Erkrankungen; https://schatten-und-licht.de
[3] Initiative für Kinder psychisch erkrankter Eltern; https://www.netz-und-boden.de
[4] Erwachsene Kinder psychisch erkrankter Eltern; http://seelenerbe.de
[5] Netzwerk für Geschwister psychisch erkrankter Menschen; https://geschwisternetzwerk.de

Es ist keine neue Erkenntnis, dass der kulturelle Hintergrund der Beteiligten das Erleben von und den Umgang mit psychischen Erkrankungen maßgeblich beeinflusst. In einer Fülle von Literatur werden die besonderen Herausforderungen beschrieben, vor die sich das professionelle System im Hinblick auf Therapieangebote und -möglichkeiten für Menschen mit psychischen Erkrankungen und einem von der Mehrheitsgesellschaft abweichenden kulturellen Hintergrund gestellt sieht. Auch in der Selbsthilfeszene wird seit langem diskutiert, wie es gelingen kann, die Attraktivität von Selbsthilfeangeboten für Menschen mit Migrationsgeschichte oder multikulturellem Hintergrund zu erhöhen. Zumindest für die Selbsthilfe im Bereich der psychischen Erkrankungen besteht hier noch enormes Entwicklungspotenzial.

Anders als in anderen Netzwerken und Verbänden der Angehörigen-Selbsthilfe hat sich im GeschwisterNetzwerk eine nennenswerte Anzahl von Geschwistern mit Migrations- oder multikulturellem Hintergrund eingeschrieben, es dürften ca. 20% sein. Eine etwa ebenso große Zahl von solchen Geschwistern hat an den letzten Geschwistertreffen teilgenommen. Die folgenden Ausführungen beziehen sich daher überwiegend auf Geschwister psychisch erkrankter Menschen.

Die Geschwister haben Wurzeln in sehr unterschiedlichen Kulturkreisen: in vielen europäischen Ländern bis hin zu Japan und China. Alle gehören der Generation zwischen 25 und 50 Jahren an. Über die Gründe, warum gerade bei den Geschwistern vergleichsweise viele einen Zugang zur Selbsthilfe finden, kann (bisher) nur spekuliert werden.

Eindeutig sind demgegenüber die Belastungen und Anforderungen, die diese Geschwister zusätzlich zu bewältigen haben, und über die sie bei Geschwistertreffen und in Interviews berichten. Dazu gehört – ohne Anspruch auf Vollständigkeit:

  • Einige Geschwister können sich der Inanspruchnahme in nahezu allen Belangen der Sorge für die oder den Erkrankten nicht entziehen, da sie in der Familie die einzigen sind, die über ausreichend gute Deutschkenntnisse verfügen und als Übersetzerin bzw. Übersetzer zur Verfügung stehen müssen – auch aus eigener Sicht (Julius/Peukert 2020a).
  • Bei manchen von ihnen umfasst die Aufgabe des Dolmetschens nicht nur die Sprache, sondern auch eine Art von ‚kultureller Übersetzung‘ (ebenda).
  • Als Geschwister aus der zweiten Generation mit dem empfundenen Stigma ‚Kinder bzw. Heranwachsende mit Migrationshintergrund‘ sahen sie sich besonders gefordert, gute schulische Leistungen zu erbringen und nicht negativ aufzufallen, um ‚in der Gesellschaft anzukommen‘. Sie sehen diese Anstrengungen gefährdet, wenn zu dem Stigma ‚Migrationshintergrund‘ noch die Stigmatisierbarkeit durch ein psychisch erkranktes Familienmitglied hinzukommt (Interviews).
  • Mitunter können sich insbesondere Töchter – auch im fortgeschrittenen Erwachsenenalter – nicht gegen den Anspruch der Eltern bzw. der weiteren Familie wehren, in das Elternhaus zurückzukehren und sich um das erkrankte Geschwister (mit) zu kümmern. Sie begründen dies mit den kulturellen Normen ihres Herkunftslandes (Interviews).
  • Auch wenn sie selbst der Meinung sind, dass Unterstützung von außen (inkl. Inanspruchnahme einer Therapie) notwendig und wichtig wäre, werden solche Möglichkeiten nicht in Anspruch genommen, da die Eltern und das soziale Umfeld der Ansicht sind, bei einer psychischen Erkrankung handle es sich um ein Familienproblem, das eine ‚Einmischung‘ Fremder ausschließe (Munkert/Peukert 2009).
  • Einzelne Geschwister berichten auch davon, dass in ihren Familien psychische Erkrankungen mit einem Tabu belegt seien, sodass nicht nur keine Unterstützungsangebote angenommen würden, sondern darüber hinaus nicht über die mit der Erkrankung zusammenhängenden Probleme gesprochen werden dürfe (Julius u.a. 2019).

Diese Erkenntnisse beruhen auf empirischen jedoch nicht systematischen Beobachtungen. Leider konnten im deutschsprachigen Raum keine Studien gefunden werden, die das Erleben von psychischen Erkrankungen durch Geschwister oder auch Angehörige allgemein mit anderem kulturellem Hintergrund zum Gegenstand haben, wohl aber gibt es eine Fülle von internationalen Studien aus allen Kontinenten, in denen ethnische Gruppen vergleichend untersucht werden und/oder das Erleben im jeweiligen kulturellen Kontext thematisiert wird (siehe Peukert/Julius 2022, Kapitel ‚Der kulturelle Hintergrund macht einen Unterschied‘). Die Aussagen solcher Studien liefern nicht nur Hinweise darauf, wie sich das GeschwisterNetzwerk der Herausforderung stellen kann, auch und gerade für diese Geschwister Angebote zu entwickeln; nach Ansicht der Autoren sind sie auch geeignet, das eine oder andere von professionellen Helfern gepflegte Paradigma zumindest zu hinterfragen.

In diesem Rahmen kann nur eine Auswahl von Ergebnissen aus diesen Studien angerissen werden:

  • Bei vergleichbaren Pflichten unterscheidet sich das subjektive Belastungserleben von Geschwistern aus weißen und nicht-weißen Communities in den USA (Horwitz u.a. 1995)
  • Während in der westlichen Sichtweise ‚Überbehütung‘ als ‚toxischer Faktor‘ bezeichnet wird, nehmen sowohl Erkrankte als auch deren Geschwister im traditionellen türkischen Kulturkreis sie eher als Fürsorge und Schutz wahr; sie erwarten geradezu entsprechendes Verhalten (Avcıoğlu u.a. 2019, Zypern/Türkei; Karanci/İnandılar 2002, Türkei). Auch Renate Schepker (1998) stellt in einer repräsentativen Studie eine einseitige Sicht auf Familienstrukturen und -dynamiken fest und sieht in türkischen im Vergleich zu westlichen Familien eine stärkere Kohäsion (ebenda, S. 90).
  • López u.a. (2004) fanden bei einer Studie mit angloamerikanischen Familien und aus Mexiko stammenden amerikanischen Familien im Hinblick auf Krankheitsverständnis, ‚expressed emotions‘ und familiäre Wärme nur in Familien mit mexikanischem Migrationshintergrund, dass die familiäre Wärme ein ‚bedeutender Schutzfaktor‘ sei.
  • Vor allem im angelsächsischen Raum gibt es eine große Zahl von Studien, die sich mit der frühen Verpflichtung von Kindern und Jugendlichen als sog. ‚young carer‘ beschäftigen. Untersucht wird, wie sich diese Inanspruchnahme auf ihre Entwicklung auswirkt und wie (langfristige) negative Wirkungen auf die mentale Gesundheit der jugendlichen Carer vermieden werden können. Ziel ist regelmäßig, Maßnahmen zu identifizieren, die die familiären Bande der jungen Angehörigen stärken und (wieder) festigen – um diese als zukünftige Carer zu gewinnen bzw. zu erhalten.

Zusammenfassend kann man feststellen, dass die Prägungen durch kulturelle Kontexte zwei Gesichtspunkte aufweisen:

  • Zum einen beeinflussen tradierte kulturelle Normen im Zusammenleben von Familien das Erleben und Verhalten. Diesen Normen können sich junge Angehörige kaum entziehen, ohne schwere Konflikte oder gar einen Bruch mit der Familie und dem sozialen Umfeld zu riskieren.
  • Zum anderen können außerfamiliäre Faktoren im Herkunftsland einen nachhaltigen Einfluss ausüben, indem sie ‚kulturell erwünschtes‘ Verhalten fördern, ggf. auch einfordern. So wird bei defizitären Versorgungssystemen die Bereitschaft zur Übernahme von Carer-Funktionen durch (insbesondere jüngere) Angehörige forciert, wie z.B. in den USA. In Gesellschaften, in denen psychische Erkrankungen tabuisiert sind, werden die Erkrankten und ebenso deren Angehörige in Abschottung oder Isolation gezwungen. Auch restriktive politische, religiöse und rechtliche Rahmenbedingungen nötigen alle Beteiligten (aktiv und passiv) zu speziellen Verhaltensweisen und prägen das Erleben mit (siehe z.B. Chan 2001 zum chinesischen Kontext).

Beide Aspekte gilt es zu beachten, wenn der kulturellen Diversität Raum gegeben werden soll – und dies gilt nicht nur für Aktivitäten der Selbsthilfe.

In aller Regel befinden sich erkrankte Menschen oder deren Angehörige[6] in einer als bedrückend erlebten Situation, wenn sie sich entschließen, Teilnehmerin bzw. Teilnehmer in einer Selbsthilfegruppe zu werden oder mit Gleichgesinnten eine neue Gruppe zu gründen. Im Vordergrund stehen dabei die eigene Situation und der Wunsch nach Unterstützung, Beratung, Informationen, Austausch und Verständnis. Für viele Menschen ist diese originäre Selbsthilfe genau das, was ihnen hilft, ihre Schwierigkeiten anzugehen oder besser mit ihnen umzugehen.

In vielen Gruppen wird jedoch über kurz oder lang ein Punkt erreicht, an dem die Beteiligten oder einige von ihnen feststellen: Es gibt auch externe Faktoren, die (mit) ursächlich für bittere, vielleicht traumatisierende Erfahrungen sind, es gibt Grenzen und Unzulänglichkeiten der gesundheitlichen und sozialen Hilfesysteme, deren Regularien irgendwo auf Gemeindeebene, im Land oder im Bund festgeschrieben sind. Man muss dort aktiv werden, wo diese Bedingungen geschaffen und beschlossen werden. Durch die UN-Behindertenrechtskonvention (2009) erhielten solche emanzipatorischen Bestrebungen neuen Auftrieb.

Mit der Entscheidung, sich politisch zu engagieren, geht ein Rollenwechsel einher – aus Teilnehmenden an einer Selbsthilfegruppe werden Selbsthilfeaktivistinnen bzw. Selbsthilfeaktivisten.

Mit diesem Übergang erfolgt eine Transformation vom subjektiven Erleben von Erkrankten bzw. Angehörigen in eine auch institutionelle und vom Blick Dritter definierte Rolle. So sprechen – und so wird es auch gehört – Erkrankte und Angehörige nicht länger nur und ausschließlich von sich und den individuellen Erfahrungen, sondern zugleich für ‚die Erkrankten‘, ‚die Angehörigen‘ als Vertreter einer sozial definierten Gruppe – und das unabhängig davon, ob jemand in einer Selbsthilfegruppe oder einem Selbsthilfeverband eine Funktion innehat oder nicht. Damit geht zunächst unbemerkt, aber unweigerlich eine Verallgemeinerung und tendenzielle Abstraktion der eigenen Erfahrungen einher – vielmehr sollte sie einhergehen (Peukert/Julius 2022, Exkurs ‚Vom ‚Angehörigen für sich‘ zum ‚Angehörigen an sich‘).

Der Rollenwechsel einzelner Mitglieder einer Selbsthilfegruppe wirkt auf die Gruppe zurück: eine Art von Diversität, die sich bereichernd, aber auch spaltend auswirken kann.

[6] Wegen der besseren Lesbarkeit werden nachfolgend die Begriffe ‚Erkrankte‘ für Menschen mit einer psychischen Störung und ‚Angehörige‘ für Menschen im engen sozialen Umfeld von diesen verwendet – unabhängig von Art oder Ausprägung der Störung bei den ‚Erkrankten‘ und unabhängig von der Art der Beziehung zwischen ‚Angehörigen‘ und ‚Erkrankten‘.

Dieser Rollenwechsel stellt hohe Anforderungen an die Aktivistin bzw. den Aktivisten. In der Welt der Gremien, Lobbys, Ausschüsse herrschen eigene Regeln; es geht (auch) um Macht, Geld und wirtschaftliche Interessen. Es gilt, verlässlich an Sitzungen, Tagungen etc. teilzunehmen, sich in mitunter komplexe Fachthemen einzuarbeiten, auch aus der Anonymität herauszutreten und sich ein Stück weit ‚öffentlich‘ zu machen. Zudem wird fast Jede und Jeder früher oder später feststellen, wie langwierig und zäh Änderungs- und Weiterentwicklungsprozesse sind, wie von der eigenen Sichtweise abweichende Prioritäten gesetzt werden und wie gering die Einflussmöglichkeiten letztendlich sind.

Nicht unerwähnt bleiben soll auch die Erfahrung, dass noch längst nicht in allen Gremien und Ausschüssen die Vertreterinnen und Vertreter der Selbsthilfe auf eine Weise gesehen und behandelt werden, die gemeinhin als ‚auf Augenhöhe‘ beschrieben wird.

Es ist ein großer Strauß unterschiedlicher Anforderungen, und die Selbsthilfevertreterinnen und -vertreter erbringen diese Leistung, im Gegensatz zu den übrigen Beteiligten, in den allermeisten Fällen ehrenamtlich.

Kann es da verwundern, wenn sich nicht für jede Beteiligungsfunktion, die vorgesehen und bestenfalls auch erwünscht ist, Menschen finden, die bereit und in der Lage sind, sich diese Bürde aufzuladen?

Allerdings sind die Herausforderungen häufig begleitet von Benefits, die Aktivistinnen und Aktivisten durch ihr Engagement erfahren. Viele berichten von erhöhter Aufmerksamkeit durch die professionellen Helfer und leichteren Zugang zu diesen; gelegentlich trifft das auch auf Mitarbeitende in Behörden zu. Darüber hinaus liegen viele eindeutige Hinweise darauf vor, dass das ‚Sich-Einbringen‘ als wirkungsvolle Coping-Strategie gesehen werden kann (Peukert/Julius 2022, Kapitel ‚Coping: Sieben übergeordnete Strategien der Bewältigung‘).

Die Vielzahl und Vielfalt der Beteiligungsmöglichkeit in Selbsthilfevertretungen auf den unterschiedlichen Organisationsebenen einerseits und die durchaus begrenzte Anzahl von Erkrankten und Angehörigen, die sich dafür zur Verfügung stellen können und wollen, andererseits führt die Autorin zu einigen kritischen Anmerkungen.

  • Die sicher prominenteste und wahrscheinlich auch anspruchsvollste Selbstvertretung von Patienten findet seit 2004 im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) statt. Dort wird in Unterausschüssen und Arbeitsgruppen zeitweise eine Vielzahl von Themen behandelt, die den Bereich Psychiatrie betreffen (siehe z.B. Übersicht in Julius 2013). Im Lauf der Jahre hat sich für dieses gesundheitspolitisch wichtige Gremium ein Verfahren zur Berufung und zur Arbeitsweise von Patientenvertreterinnen und -vertretern herausgebildet, das im Wesentlichen demokratischen Grundsätzen entspricht und geeignet ist, die Vielfalt der Selbsthilfelandschaft abzubilden. Dennoch: Abhängig von der Komplexität der anstehenden Themen und der Dauer der Beratungen (mitunter Jahre) ist es für Erkrankte und Angehörige, die voll berufstätig sind, kaum möglich, sich hier einzubringen, was die angestrebte Repräsentativität wieder relativiert.
  • Für die allerwenigsten Gremien – auch auf Bundesebene – gibt es jedoch für die Berufung von Vertreterinnen und Vertretern der Selbsthilfe geregelte Verfahren. Hier erfolgt die Rekrutierung häufig über die Kontaktaufnahme mit ‚nahestehenden‘ Verbänden, die ihrerseits ihre Vorschläge nach eigenen Regeln (oder Nicht-Regeln) vornehmen. Das macht es für Organisationen mit kritischen oder auch nur vom Mainstream abweichenden Positionen schwer oder unmöglich, sich und ihre Standpunkte einzubringen.
  • Dieses Problem verschärft sich, wenn man über die nachgeordneten Zuständigkeitsebenen bis auf die kommunale Ebene sieht. Oft stehen seitens der Selbsthilfe keine oder nur dürftige Strukturen zur Verfügung, die – auch bei gutem Willen – ein systematisiertes Berufungsverfahren ermöglichen würden. Und es ist auch keine Ausnahme, wenn kommunal und regional konkurrierende Selbsthilfegruppierungen einen Anspruch auf Beteiligung erheben. Somit kann und darf es nicht überraschen, wenn die Berufung von Selbsthilfevertretungen mitunter zufällig wirkt.

Aus Sicht der Autorin ist jedoch entscheidender, dass durch solche – wahrscheinlich nicht vermeidbaren – Verfahren die Ernsthaftigkeit des Beteiligungsanspruchs untergraben wird, und zwar von allen Beteiligten. Somit kann es nicht ausbleiben, dass Selbsthilfevertreterinnen und -vertreter nicht selten in einer Feigenblattfunktion gesehen werden – und es steht zu befürchten, auch tatsächlich eine solche Funktion bekleiden.

  • Beeinflusst werden Beteiligungsmöglichkeiten zusätzlich durch die Art der Selbsthilfeförderung durch die Krankenkassen und andere, die (eine) materielle Basis für politisches Agieren bildet. Die fortgeschriebenen Förderrichtlinien und deren Interpretation schließen bestimmte Organisationsformen aus und schränken damit deren Handlungsspielraum entscheidend ein.      

Resümee: Über alles gesehen darf man wohl davon ausgehen, dass die Diversität in der Selbstvertretung gegeben ist. Aber gleichzeitig lässt sich der Eindruck von Beliebigkeit nicht wegwischen.

Beim APK-Selbsthilfetag 2019 kam es zu einer sehr kontroversen Diskussion, die aus Sicht der Autorin die Selbstvertretung von Erkrankten und Angehörigen zukünftig noch prägen wird, siehe Julius/Harich (2020b).

Von einigen Teilnehmenden des Arbeitskreises wurde die Frage aufgeworfen, ob Personen, die im Rahmen von ExIn bereits heute Teil des Versorgungssystem sind, gleichzeitig in Gremien auch die Selbsthilfe vertreten können oder sollen. Während diejenigen, die eine ExIn-Ausbildung haben und zumindest in Teilzeit einer Beschäftigung in Einrichtungen nachgehen, darauf verwiesen, dass ihr Ursprung in der Selbsthilfe lag und sie deren Interessen vertreten könnten und würden, lehnten reine Selbsthilf’ler diesen Anspruch vehement ab. Sie verwiesen auf den ganz offensichtlichen Interessenskonflikt. Einige von ihnen beklagten zudem aus ihrer eigenen Erfahrung, dass viele ExIn’ler kein Interesse mehr an der originären Selbsthilfe hätten, diese sogar schwächen würden.

Es muss offenbleiben, ob die ExIn-Bewegung als Weiterentwicklung der Selbsthilfe zu sehen ist und ihre Protagonisten somit auch die Selbsthilfe vertreten könnten, oder ob es sich bei der Bewegung um eine eigenständige, von der Selbsthilfe abgekoppelte Entwicklung handelt, sie daher auch nicht als Vertretung der Selbsthilfe gesehen werden kann. Bei einer Einordnung von ExIn als Selbsthilfevertretung sind jedenfalls Konflikte vorprogrammiert, die durch die Vermischung von ideellen und wirtschaftlichen Interessen bzw. von ehrenamtlichem und professionellem Engagement entstehen. Für beide Positionen gibt es Pros und Kontras – und es ist offensichtlich, dass ein Regelungsbedarf besteht.

Im Sinne der Diversität muss jedoch die Repräsentation der ursprünglichen Selbsthilfe, die ausschließlich ihren eigenen Belangen verpflichtet und frei von wirtschaftlichen oder anderen wesensfremden Interessen ist, unbedingt gewährleistet werden.

Es liegt in den Genen der Selbsthilfe, dass sie vielfältig ist, und das sollte im Rahmen der realen Möglichkeiten auch für Selbsthilfevertretungen gelten – nicht nur für das ‚Jahr der Vielfalt‘, wie es der Titel des Selbsthilfetags 2021 suggeriert.

Angermeyer, M.C.; Matschinger, H.; Holzinger, A. (1997): Die Belastung der Angehörigen chronisch Kranker. In: Psychiatrische Praxis 24(5), 215-220

Avcıoğlu, M.M.; Karanci, A.N.; Soygur, H. (2019): What is related to the well-being of the siblings of patients with schizophrenia: An evaluation within the Lazarus and Folkman’s Transactional Stress and Coping Model. In: International Journal of Social Psychiatry, 65(3), 252-261

BApK (2001): Aufbau verbesserter Selbsthilfestrukturen für Angehörige psychisch Kranker. Bericht über die Befragungsergebnisse des Pretests. Website: BApK (nicht mehr verfügbar)

Barak, D.; Solomon, Z. (2005): In the shadow of schizophrenia: A study of sibling’s perceptions. In: The Israel Journal of Psychiatry and Related Sciences 42(4), 234-241

Boeger, A.; Seiffge-Krenke, I.; Schmidt, C. (1995): Ein Körper für zwei: Beobachtungen an chronisch kranken Jugendlichen und ihren Müttern. In: Forum der Psychoanalyse 11(2), 150-159

Boeger, A.; Seiffge-Krenke, I. (1996): Geschwister chronisch kranker Jugendlicher: Hat die chronische Erkrankung Auswirkungen auf ihre Entwicklungsmöglichkeiten? In: Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 45(10), 356-362

Chan, W.L. (2001): Caregiving for people with schizophrenia in Guangzhou: coping, adaptation and quality of life. Dissertation, University of Hong Kong

EUFAMI (1996): Die stummen Partner. Die Bedürfnisse der Angehörigen psychisch Kranker. Ein europäischer Überblick. Leuven: EUFAMI

Friedrich, R.M.; Lively, S.; Buckwalter, K.C. (1999): Well siblings living with schizophrenia. Impact of associated behaviors. In: Journal of Psychosocial Nursing and Mental Health Services 37(8), 11-19

Greenberg, J.S.; Kim, H.W.; Greenley, J.R. (1997): Factors associated with subjective burden in siblings of adults with severe mental illness. In: The American Journal of Orthopsychiatry 67(2), 231-241

Horwitz, A. V.; Reinhard, S. C. (1995): Ethnic differences in caregiving duties and burdens among parents and siblings of persons with severe mental illnesses. In: Journal of Health and Social Behavior 36(2), 138-150

Interviews (2003-2018): Zitate aus als ‚Interviews‘ gekennzeichneten Quellen stammen aus unveröffentlichten Interviews, die im Rahmen von Studien von R. Peukert geführt wurden bzw. ihm zur Verfügung standen.

Julius, L. (2013): Partizipation ermöglichen: Psychiatriethemen im Gemeinsamen Bundesausschuss. In: Aktion Psychisch Kranke; Weiß, P.; Heinz, A. (Hrsg.): Gleichberechtigt mittendrin – Partizipation und Teilhabe. Bonn: APK, Tagungsband 39, 213-219

Julius, L.; Hansen, H.; Wetterhahn, C. (2019): Ihr seid auch m e i n e Eltern. Seminarbericht. Website: GeschwisterNetzwerk.de (04.09.2021)

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Der Selbsthilfetag zum Thema „Neue Wege der Selbsthilfe – Teilhabe und Selbstbestimmung“ am 30.10.2019 in Berlin wurde gemeinschaftlich ausgerichtet von der Aktion Psychisch Kranke mit Bundesnetzwerk Selbsthilfe seelische Gesundheit (NetzG), Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen (BApK), Ex-In-Deutschland, Deutsche DepressionsLiga (DDL), MutTour, Deutsche Gesellschaft für Bipolare Störungen (DGBS), Deutsche Alzheimergesellschaft und GeschwisterNetzwerk. Er richtete sich an Menschen, die eigene Erfahrungen mit psychischen Erkrankungen haben, an Angehörige und an Profis.

Das GeschwisterNetzwerk hatte bereits zum zweiten Mal die Möglichkeit, sich an dem Selbsthilfetag zu beteiligen. Anders als im Jahr zuvor stand kein spezielles ‚Geschwisterthema‘ im Programm, aber mit ’neue Wege der Selbsthilfe‘ ein Thema, das natürlich auch das GeschwisterNetzwerk betrifft und ganz besonders, weil das Netzwerk ja noch jung ist und andere Herausforderungen hat als die etablierten Verbände.

Die wesentlichen Aspekte der lebendigen und teils kontroversen Diskussion wurden in einem Bericht zusammengefasst, der im Tagungsband der APK erscheinen wird.

"Das Gleiche lässt uns in Ruhe; aber der Widerspruch ist es, der uns produktiv macht."

Johann Peter Eckermann in ‚Gespräche mit Goethe‘

Bericht:
Leonore Julius

Moderatoren:
Horst Harich
Deutsche Gesellschaft für Bipolare Störungen
Leonore Julius
GeschwisterNetzwerk.de und LV Rheinland-Pfalz der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen

Transkription:
Lara Golob

Teilnehmende:
Über 20 Teilnehmende aus unterschiedlichen Altersgruppen; die meisten Menschen, die eigene Erfahrungen mit einer psychischen Erkrankung haben sowie einige Angehörige; Frauen und Männer etwa gleichmäßig verteilt; die meisten Teilnehmenden mit mehr- oder langjähriger Erfahrung in Selbsthilfegruppierungen; einige mit Ex-In-Ausbildung

Internet und die unterschiedlichen Sozialen Netzwerke – das wird derzeit häufig als die Lösung für eine Reihe aktueller Herausforderungen in der Selbsthilfe und an die Selbsthilfe kommuniziert. So stand das Thema auch bei dieser Arbeitsgruppe gleich zu Beginn im Zentrum. Der Kreis der Teilnehmenden konnte sicher nicht als repräsentativ angesehen werden, dennoch war die übereinstimmende Bewertung doch erstaunlich: Nützliche Instrumente – ja, aber nicht mehr und nicht weniger, wie sich in der weiteren Diskussion sehr deutlich zeigte.

  • Nutzung des Internet und der Sozialen Netzwerke spielen eine wichtige Rolle zur Vermittlung von Informationen, Bekanntmachung von Veranstaltungen, zur Kontaktaufnahme und ähnlichem.
    „…so können wir auch Leute erreichen, die sonst nicht kommen würden.“
  • Einen Ersatz für die persönliche Begegnung im geschützten Raum sah allerdings niemand in den Sozialen Netzwerken.
    „… also ich würde meine persönlichen Probleme, die ich in der Selbsthilfegruppe bespreche, die würde ich glaube nicht auf öffentlichem Facebook ausdiskutieren.“
    Es ist nicht nur die wichtige Frage des Schutzes der sehr persönlichen Daten und Gefühle, sondern vor allem das Fehlen eines menschlichen ‚Gegenüber‘, mit dem die Skepsis begründet wurde.
  • Dennoch gibt es gute Gründe, zusätzlich zu Gruppentreffen die Möglichkeiten der digitalen Kommunikation in der Selbsthilfearbeit zu nutzen. Dazu gehören u.a.
    • dass regionale Gruppen nicht (mehr) vorhanden sind,
    • insbesondere im ländlichen Bereich Gruppen nicht oder sehr schlecht erreichbar sind,
    • Gruppen einen größeren geographischen Raum abdecken müssen und deshalb persönliche Treffen nur in größeren Zeitabständen möglich sind.

Das GeschwisterNetzwerk entwickelt derzeit ein Modell, Präsenztreffen mit einem geschlossenen, geschützten Kommunikationssystem für Menschen zu verbinden, die sich bereits persönlich bekannt sind. Damit soll ein Weg eröffnet werden, der eine größere Reichweite für den Austausch bietet, ohne die menschliche Komponente zu vernachlässigen.

Eine der Kernfragen, ob die bewährten Selbsthilfegruppen mit regelmäßigen persönlichen Treffen noch zeitgemäß seien, förderte eine wesentliche Übereinstimmung zu Tage: ein Plädoyer für die persönliche Begegnungen in geschützten Räumen.

„… ich finde es auch ganz ganz wichtig, dass wir wieder mehr auf Begegnungsräume gucken und … viele Menschen, mit denen wir zu tun haben, haben keine Begegnungsräume mehr …“
„… wo man einfach sein darf. Ich finde solche Räume gab es früher viel mehr, solche Räume gibt es so gut wie gar nicht mehr und das finde ich einen ganz wichtigen Aspekt.“
 „Und ich habe gemerkt, dass es ganz wichtig ist, dass man Räume hat, wo man sich treffen kann, miteinander reden kann, das ist absolut wichtig und das muss auch bleiben.“

Bekannte Vorbehalte kamen von einigen jüngeren Aktivisten, die sich in sowohl in Gruppen, mehr noch aber in den Selbsthilfeorganisationen an den Rand gedrückt fühlen.

„Ich habe wirklich das Bedürfnis was daraus zu machen und gleichzeitig betrachte ich so das Feld der etablierten Vereine, Verbände und es gibt da gewisse Schwierigkeiten … Ich war da die letzten Jahre sehr aktiv tätig, das ist natürlich gerne gesehen, wenn da so ein junger Mensch aufschlägt. … (Es) ist natürlich nie so attraktiv, wenn man der einzige jüngere Mensch ist und vor allem ist es dann nicht mehr attraktiv, wenn man sich ambitioniert einbringen möchte und sobald es aber um Macht geht, wirkliche Mitsprache und Gestaltung, dass da ganz schnell Ende Gelände ist …“.

Auf der anderen Seite wurde aber auch Flexibilität eingefordert, wenn es darum geht, inzwischen alt (und immobil) gewordene Gruppenmitglieder nicht zu isolieren.

Viel Wert wurde auf die Feststellung gelegt, dass länger bestehende Selbsthilfegruppen und -organisationen über die Jahre hinweg keineswegs statisch verharrt haben, sondern sich entwickelt haben. Dabei wurden unterschiedliche Richtungen deutlich:

  • Betroffenen-Gruppen lösen sich von der Bezogenheit auf einzelne ‚Diagnosen‘ oder Erfahrungen und öffnen sich für alle Interessierte mit ähnlichen Anliegen und Problemen
    „… wir haben definiert, dass jeder Mensch, der unsere Ziele unterstützt, auch in unsere Selbsthilfegruppe kommen kann und das ist eine ganz neue Definition.“
    „Mich hat der Begriff Psychiatrie-Erfahrene – so gut er inhaltlich ist – aber immer gestört, ich empfinde ihn heute noch als stigmatisierend und Leute die sich (so) bezeichnen … kokettieren in meinen Augen mit dem Begriff Psychiatrie-Erfahrung, denn die grenzen ja jene aus, die nicht in der Klinik gewesen waren …“.
  • Die Vertreterinnen des Münchner Angehörigenvereins mit 17 Selbsthilfegruppen und des GeschwisterNetzwerks betonten die positiven Erfahrungen mit Angeboten, die der jeweiligen Rolle der Angehörigen in der Familienstruktur gerecht werden.
    „…Angehörige unterhalten sich mit anderen Angehörigen die das selbe erleben, also Geschwister, Partner, usw., jeder hat so seine eigene Verständnisclique und das hat sich als sehr positiv herausgestellt, weil Eltern reden mit Kindern anders, Kinder reden mit Eltern anders, Geschwister kommen dann meistens sowieso nicht zu Wort.“
  • Allen Gruppierungen von der kleinen Gruppe vor Ort bis zu einer großen Organisation wie der DGBS ist die Erfahrung gemeinsam, dass sie als ‚Dienstleister‘ für Informationen genutzt werden, aber diese ‚Konsumenten‘ darüber hinaus kein Interesse an Selbsthilfeaktivitäten haben und sich schnell wieder abwenden. Dies muss hingenommen werden, darüber waren sich alle Teilnehmenden einig.

Diese Frage musste auch mit Blick auf eine Weiterentwicklung kontrovers bleiben. Während einzelne Teilnehmende sich explizit dafür aussprachen, nicht ‚politisch‘ werden zu wollen, sahen andere einen wesentlichen Teil ihres Engagements darin, in die Gesellschaft hineinzuwirken; „das ist ja auch so ein bisschen Hintergrund von NetzG.“

„Selbsthilfe kann entweder innenorientiert sein, oder außenorientiert mit Selbstdarstellung (vorpolitischer Raum); dann kommt die politische Ebene auf Landes- oder auf Bundesebene. Das muss immer in der Diskussion unterschieden werden, damit nichts durcheinandergerät. Es ist unbedingt notwendig, dass man Bezug zu seiner Gruppe hat, sonst weiß man nicht mehr, was man tut. Nur dort lernt man die Bedürfnisse der anderen kennen.“ Auch in diesem Zitat wird die herausragende und jegliches Engagement ‚erdende‘ Funktion der Face-to-Face-Selbsthilfe herausgestellt.

„Und soll die Selbsthilfe jetzt wirklich den Weg gehen, als gleiche Säule neben dem Gesundheitsministerium stehen? Oder sind das nur verknüpfte Säulen? Es gibt unterschiedliche politische Vertretungen mit ungleichen Mitteln. Dafür haben wir hier Solidarität auf breiter Ebene, die wir durch die Selbsthilfe erreichen. … Mitunter wird die Selbsthilfe auch missbraucht bzw. gebraucht als billige Hilfeleistung und dafür sollte sich die Selbsthilfe auch nicht hergeben, ich bin da auch im Zwiespalt.“

In engem Zusammenhang mit der vorherigen Frage steht die (Teil-) Professionalisierung der Selbsthilfe. Wie nicht anders zu erwarten wurde dieser Aspekt mit großer Spannbreite diskutiert.

„Professionalität in der Selbsthilfe heißt auch institutionalisiert werden und da muss man aufpassen nicht missbraucht zu werden als Statement-Man!“
„In Kanada, USA und England gibt es mehr Peer geleitete Strömungen, anders als in Deutschland. Professionalisierung heißt: Buchhaltung, Gruppenstrukturen, Mediation und Ressourcen finden. Beteiligung ermöglichen und Beteiligungsprozesse schaffen. Das Krisenverständnis ist sehr viel weltlicher, das Erfahrungswissen ein weniger hierarchisches. Davon sollte man sich inspirieren lassen. Peer-Professionalität ist wichtig.“

  • Bei der Frage, ob Selbsthilfe ‚kostenlos‘ sein solle oder ob ein Anspruch auf Vergütung der Leistungen bestehe, prallten die Meinungen voll aufeinander.
    „Für Selbsthilfe nimmt man nix: Meine Motivation kommt aus der Beratung und dem Umgang in der Gruppe, diese Dankbarkeit ist meine Motivation, mich mit den Gremien rumzuschlagen.“
    „Für Gremienarbeit braucht es dennoch eine Entschädigung und das ist gerechtfertigt … 40 Euro Bezahlung pro Sitzung bzw. Stunde. Gremienarbeit können fast auch nur die Menschen machen, die nicht im Berufsleben stehen, denn dazu braucht es Zeit und die hat jemand mit Vollzeitstelle eventuell einfach nicht.“
    „Die Selbsthilfe hat einen großen Wert daraufgelegt, dass es nicht darum geht, Geld damit zu verdienen. Wir sind nicht mehr 68! Nicht mehr die Bürgerbewegung, trotzdem müssen wir uns diese alten Fragen neu stellen und die unterschiedlichen Modelle genau anschauen. Es ist auch schön, eine Übungsleiterpauschale als Wertschätzung und Aufwandspauschale zurückzugeben.“
  • Auch bei der Frage, ob ‚Ex-In‘ eine Weiterentwicklung der Selbsthilfe sei oder mit der Selbsthilfe nichts mehr gemein habe, gingen die Meinungen sehr auseinander.
    „Es bieten sich aber auch neue Wege der Betroffenenarbeit, also es geht ja einerseits um die Selbsthilfe, andererseits um die Selbstvertretung. Also was ganz deutlich ist, aus der Ex-In-Bewegung kommen jetzt ganz viele Impulse.“
    „Ich habe die Erfahrung mit Ex-In-lern gemacht und ich spreche jetzt hier von einem ländlicheren Raum, dass unsere Selbsthilfegruppen sich auflösen, weil diese Ex-In-ler kein Interesse mehr daran haben Selbsthilfe zu betreiben. Die sind da in ihren Einrichtungen und dort sind ihre Bedürfnisse genügend gedeckt, die wollen sich auch nicht mehr artikulieren in Selbsthilfe … Und ich bin jetzt ein Mensch der EXIT-Strategien verfolgt, keine Ex-In-Strategien. Das ist also was anderes.“
  • Ein ähnliches Bild zeigte sich im Hinblick auf eine Beteiligung / Nichtbeteiligung an Beratungsstellen im Rahmen des Teilhabegesetzes (EUTB).

Während die Aufrechterhaltung von Selbsthilfegruppen (überall da, wo es möglich ist) unisono befürwortet wurde, zeigten sich Differenzen, wenn es um die Offenheit ging, sich den örtlichen und gesellschaftlichen Gegebenheiten kontinuierlich anzupassen. Es blieb kontrovers, ob die Partizipationsansätze in den letzten Jahren der Selbsthilfe-‚Bewegung‘ eher nützen oder sie beschädigen und am Ende gar überflüssig machen. Bei der Einordnung sollte aber beachtet werden, dass die Teilnehmenden sich vorwiegend aus dem großstädtischen Milieu rekrutierten und Meinungen aus dem kleinstädtischen und ländlichen Raum deutlich unterrepräsentiert waren. Dennoch gab der Workshop – so die einhellige Meinung – eine Menge Denkanstöße, die in die ‚Tagesarbeit‘ mitgenommen werden konnten.

"Raum für die eigenen Bedürfnisse"

Das 2. bundesweite Geschwistertreffen fand am 3. August 2019 in Wiesbaden statt. Wie bei früheren Treffen war die Atmosphäre wieder sehr offen und vertrauensvoll. Und es gab auch diesmal wieder Tränen und Lachen – vor allem aber das Gefühl, nicht allein zu sein mit den Sorgen und der Hilflosigkeit und manchmal auch der Verzweiflung.

Der folgende Bericht ist mehr als ein Protokoll der Veranstaltung. Einige der angesprochenen Themen wurden wesentlich erweitert; so der für Geschwister besonders brisante Diskussionspunkt um die Vererblichkeit von psychischen Erkrankungen und die scheinbar unvermeidliche ‚Schuldfrage‘.
Hinweis:
Beide Themen werden in der (noch nicht publizierten) umfangreichen Geschwister-Monographie ausführlich behandelt; die beiden Kapitel wurden hier vorab veröffentlicht. Links am Ende des Artikels.  

Bericht von der Veranstaltung

Veranstalter:
Netzwerk von Geschwistern psychisch erkrankter Menschen

Impulsreferat:
Prof. Dr. Reinhard Peukert (GeschwisterNetzwerk.de):
„Streiflichter …..“
Wahrnehmung von Geschwistern und Unterstützung für Geschwister psychisch Erkrankter im In- und Ausland

Moderation:
Prof. Dr. Reinhard Peukert (RP)

Protokoll:
Leonore Julius (GeschwisterNetzwerk.de)
Prof. Dr. Reinhard Peukert (GeschwisterNetzwerk.de)

Trotz einiger kurzfristiger Absagen waren mehr als 20 Geschwister zu dem Netzwerktreffen gekommen. Die meisten Teilnehmenden waren zwischen 25 und 50 Jahre alt und blickten häufig bereits auf eine langjährige ‚Geschwister-Biographie‘ zurück. Das Treffen startete mit einer Vorstellungsrunde, bei der Themenschwerpunkte gesetzt und Erwartungen formuliert wurden.

Ein typisches Bild zeigte sich bei den Teilnehmenden: Zwei Brüder und viele Schwestern; dieses Bild ist aus Studien bekannt.

RP: Schwestern sind eher bereit, sich zu kümmern und Verantwortung zu übernehmen, und sie haben folglich die größeren Probleme, einen Ausgleich zu finden in der Diskrepanz zwischen ihren eigenen Erwartungen in Bezug auf ihre Hilfe für die Schwester bzw. den Bruder sowie den Unterstützungs-Erwartungen der Eltern auf der einen Seite (‚Fremdsorge‘) und ihren eigenen Bedürfnissen und Interessen (‚Selbstsorge‘) auf der anderen Seite.

Knapp ein Viertel der Teilnehmenden hatte bereits im Vorjahr an dem Netzwerktreffen teilge­nommen, eine Teilnehmerin war von ihrer Mutter auf die Veranstaltung aufmerksam gemacht worden, alle übrigen hatten über die Website, das Forum oder den Newsletter des Geschwister-Netzwerks von dem Treffen erfahren.

Eher untypisch für Veranstaltungen der Selbsthilfe ist dagegen die Teilnahme von mehreren Geschwistern mit Migrationshintergrund, die sich alle mit zusätzlichen Herausforderungen konfrontiert sehen. Beispielhaft seien hier genannt: ein kulturell bedingtes unterschiedliches Verständnis von psychischen Erkrankungen und die fehlende Entscheidungsfreiheit, ob und in welchem Umfang die Geschwister sich an der Sorge für das erkrankte Familienmitglied beteiligen, da nur sie über gute Deutschkenntnisse verfügen und für Eltern und andere Angehörige jegliche Kommunikation dolmetschen müssen.

RP stellt dazu fest, dass im deutschsprachigen Raum keine Untersuchungen zur Verfügung stehen, die Unterschiede im eigenen Erleben und in den Erwartungen der Herkunftsfamilien zum Thema haben, die durch die Herkunft aus Ländern mit anderem kulturellem Hintergrund markiert werden – anders als z.B. in den USA, wo Ethnien häufig berücksichtigt werden.

In seinem Impulsreferat trug Reinhard Peukert vor, welchen Stand seine in Arbeit befindliche Monographie erreicht hat. Die ursprüngliche Absicht war, deutschsprachige Studien zu ermitteln und auszuwerten, um dieses Wissen interessierten Geschwistern zugänglich machen, was diesen die Möglichkeit des Abgleichs und der Reflexion der eigenen Erfahrungen und Einstellungen im Spiegel der wissenschaftlichen Erkenntnisse eröffnet. Es stellte sich jedoch heraus, dass die Quellenlage im deutschsprachigen Raum sehr dürftig ist, sodass die Recherche auf den englischsprachigen Raum ausgeweitet wurde, wo eine Fülle von Material verfügbar ist. Die Monographie wird voraussichtlich Anfang 2020 veröffentlicht werden.

Bei seinen Ausführungen griff der Referent schwerpunktmäßig die bereits in der Vorstellungsrunde formulierten Themen und Anliegen auf. Diese wurden bei den jeweiligen Diskussionspunkten eingefügt und teilweise um weitere Aspekte erweitert.

Die Diskrepanz zwischen Fremdsorge und Selbstsorge war ein Thema, das sich durch den ganzen Tag zog; nachdem die Frage nach der eigenen Rolle etwa in der Mitte der Vorstellungsrunde zum ersten Mal angesprochen worden war, stand dieses Problem schließlich fünf Mal auf der Tagesordnung, und in zwei der drei Kleingruppen am Nachmittag wurde es aus unterschiedlichen Perspektiven reflektiert.

Unter der Perspektive der Gruppe 1, die sich mit der Erfahrung als außenstehendes Familienmitglied angesichts einer ‚symbiotischen Beziehung zwischen der Mutter und dem erkrankten Geschwister‘ beschäftigte (drei Mal wurde die eigene familiäre Situation mit diesen Worten beschrieben), wurde neben der erlebten Trauer, dem emotionalen Rückzug aus der Familie und einer erhofften Unter­stützung von außen durch Freunde und Profis als Ausweg aus der emotional belastenden Situation ‚erdiskutiert‘: Man müsse sich fragen ‚Wie geht es mir dabei?‘, um dann für sich eine Konsequenz zu ziehen, bei der die unbedingt notwendige Selbstsorge nicht zu kurz kommt. In der Beschäftigung mit dieser subjektiv bedeutsamen Fragestellung haben sich die regionalen Geschwistergruppen bewährt, was z.B. aus dem Bericht von Gagi K. bei einer Tagung herausgelesen werden kann (Gagi K.: Der schwierige Weg zur Autonomie).

Vier der Teilnehmenden äußerten Sorge um die Mutter, die seit vielen Jahren die Hauptlast der familiären Unterstützung für das erkrankte, inzwischen erwachsene Kind trägt – ein sehr häufiges Belastungserleben von Geschwistern psychische erkrankter Menschen. Darauf gibt es zwei Antworten: Die Mutter entlasten, indem man selbst viele Dinge übernimmt – oder die Mutter entlasten, indem man ihr hilft, auf professionelle Hilfe zuzugreifen.

Aber da schaut bereits die nächste Frage um die Ecke: Wo ist die Hilfe zu finden? Welche Hilfen gibt es eigentlich?

Die bisherige Antwort des GeschwisterNetzwerks lautet: In jeder Kommune gibt es einen Sozialpsychiatrischen Dienst, dessen Aufgabe u.a. die Organisation von Hilfen für psychisch Erkrankte ist, und in nahezu jedem Bundesland gibt es einen Landesverband der Angehörigen, der sich seit Jahren mit den verfügbaren Hilfen beschäftigt und auch beraten kann (ggf. durch Weitervermittlung an eine örtliche Gruppe). Die Hilfe-Landschaft ist zu komplex und regional zu unterschiedlich gestaltet, als dass das bundesweite GeschwisterNetzwerk regional und situativ angemessene Antworten finden könnte.

Bei der zweiten Gruppe war das Gruppenthema: Verantwortung und Verantwortungsübernahme, dies wurde in der Vorstellungsrunde sechs Mal als Problem benannt (eine der häufigsten Nennungen, gefolgt von Aggressivität, fünf Nennungen). In diese Gruppe fand folgerichtig auch die Fragestellung Eingang, die in der Vorstellungsrunde ebenfalls sechs Mal genannt wurde: Was wird später?

Die gefundenen Antworten gleichen denen der ersten Gruppe: Die Sichtweisen aller Beteiligten müssen reflektiert, also berücksichtigt werden. Das bedeutet ggf. eine harte Auseinandersetzung, um von den Sichtweisen zu gemeinsamen Strategien zu finden; ‚Strategien zu entwickeln‘ war der Gruppe wichtig. Die Gruppe gibt den Rat, dass das am sinnvollsten von einem Austausch unter Gleichen (also Geschwistern) begleitet werden sollte – und eines sollte auf keinen Fall vergessen werden: ‚Man kann nur helfen, wenn man Kraft hat‘. Dabei könne z.B. eine Distanzierung auf Zeit hilfreich sein.

Die Entscheidung, ob Geschwister die rechtliche Betreuung für ihre erkrankte Schwester oder ihren erkrankten Bruder übernehmen sollten war ein mehrfach angesprochener Teilaspekt der Frage, was werden wird, wenn die Sorge tragenden Eltern bzw. Elternteile dazu nicht mehr in der Lage oder bereits verstorben sind. Während einige der anwesenden Geschwister dies bereits entschieden haben, ist sie für andere noch völlig offen. Diese seien auf einen Selbstprüfungs-Katalog verwiesen, den der Landesverband Bayern der Angehörigen entwickelt und 2019 aktualisiert hat (www.lvbayern-apk.de/index.html).

‚In einer Verantwortung‘ sahen sich einige Geschwister auch (sechs Nennungen), wenn das erkrankte Geschwister Suizidabsichten äußert, bereits Suizidversuche unternommen hat oder dessen Leben durch andere krankheitsbedingte Umstände gefährdet ist, wobei ihnen gleichzeitig schmerzlich bewusst ist, dass ihre Handlungsmöglichkeiten sehr begrenzt sind. Diese existentielle Herausforde­rung in Verbindung mit der empfundenen Hilflosigkeit, den Ängsten und vielfältigen anderen Gefühlen stellt für die betroffenen Geschwister eine extrem hohe (Dauer-) Belastung dar.

Dieses keinesfalls auf Einzelfälle beschränkte Thema konnte in dem vorgegebenen Rahmen nicht behandelt werden; dafür ist ein noch zu erarbeitendes anderes Format erforderlich.

Die dritte Gruppe nahm sich das Thema der allgegenwärtigen Ambivalenzen im Umgang mit der erkrankten Schwester bzw. dem erkrankten Bruder vor.

RP: Ambivalenzen können Wut erzeugen und neben Wut ist die Wahrnehmung von Neid ein belastendes Gefühl (Neid, da man selbst beruflich und sozial erfolgreich ist, die Schwester oder der Bruder aber erkrankungsbedingt in ihrer/seiner Entwicklung stecken geblieben ist). Aus der Literatur sind jedoch auch erkrankte Geschwister bekannt, die im Gegensatz dazu stolz auf die Erfolge ihrer Schwester bzw. ihres Bruder sind.

Die Gruppe hebt hervor: Die Gefühle der Erkrankten müssen nicht nur wahrgenommen werden, auch deren Ambivalenzen sollten gesehen werden. Und obgleich es schwer fällt, sei deren Recht auf eine Lebensweise, die mit einer ‚üblichen‘ wenig gemein hat, zu respektieren, man müsse ihnen ‚ein Recht auf Verlottern‘ zugestehen, so die unwidersprochene Äußerung eines Bruders.

Zum geschwisterlichen Umgang schlagen sie vor, Zeiten miteinander zu verbringen, in denen die Erkrankung sowie deren Folgen kein Thema seien, sondern das gemeinsame Erleben von angeneh­men Aktivitäten.

RP: Auch hierfür finden sich Entsprechungen in der Literatur. Viele befragte Geschwister in Deutschland und im Ausland sehen ihre Rolle als ‚ganz normale Schwester oder Bruder‘ im Sinne einer ganz normalen, üblichen Geschwisterbeziehung: sich streiten, gemeinsam etwas unternehmen etc., und ‚Lachen ist auch möglich.‘
Studien belegen, dass diese Haltung für das erkrankte Geschwister gesundheitsförderlich ist.

Dies vermittelt den Eindruck eines fast problemlosen Umgangs mit der oder dem Erkrankten. Dem stehen jedoch u.a. die Ablehnung jeglicher Hilfeangebote durch die oder den Erkrankten entgegen sowie Aggressionen, die immerhin von fünf der Anwesenden angesprochen wurden.

RP: Gemäß der internationalen Literatur sehen sich ca. die Hälfte aller Geschwister stark bis sehr stark vom Verhalten der Schwester bzw. des Bruders beeinträchtigt; selbst erlittene Aggressivität sowie Aggressivität gegenüber den Eltern zählen dazu.

RP berichtete aus seiner Monographie ‚Wie geht es denn den Schwestern und Brüdern‘ von den Distanzierungsstrategien, mit denen Geschwister in allen Ländern, aus denen Studien und Berichte vorliegen, sich bemühen, mit folgender Ambivalenz klar zu kommen: der erkrankten Schwester bzw. dem erkrankten Bruder hilfreich zur Seite zu stehen, die Eltern nicht zusätzlich zu belasten und zugleich die eigenen Ziele und Interessen verfolgen zu können.

RP: Folgende Strategien konnten identifiziert werden:

  • Die psychisch-mentale Distanzierung (schwächere Bindungen zum Geschwister und den Eltern unterhalten)
  • Die körperlich-physikalische Distanzierung: Das ‚Moratorium‘ (RP) bzw. die ‚konstruktive Flucht‘ (constructive escape) (Kinsella u.a.), in Abgrenzung zu ‚unhealthy escapes‘ wie unumstößliche Kontaktabbrüche oder Substanzmissbrauch. ‚Moratorium‘ steht für die sehr frühe ‚Flucht‘ von Geschwistern aus ihrer Herkunftsfamilie, um z.B. möglichst weit weg zu arbeiten oder zu studieren oder eine Partnerschaft zu pflegen. Dies dient der Entwicklung der eigenen Persönlich­keit ohne ‚Störungen‘ durch die schwierige familiäre Situation mit einem erkrankten Geschwister, hält allerdings trotz des räumlichen Abstands die Beziehungen kontrollierbar aufrecht und ermöglicht (soweit gewünscht) eine Rückkehr mit Rollenklärungen nach der Distanzierungsphase.
  • Die systemische Vermeidung, das ‚funktionale partielle familiäre Schweigen‘ (RP). Diese Strategie wurde erstmals in Gesprächen des GeschwisterNetzwerks mit Eltern über deren Umgang mit den gesunden Geschwistern so benannt und wird in der Monographie in einen familiendynamischen Kontext gestellt, außerdem werden die teilweise gravierenden Folgen beschrieben. Die Benennung eines belastenden Schweigens in Familien mit einer psychischen Erkrankung findet sich allerdings bereits in älteren angelsächsischen Studien.
    Kurz gesagt: Nach einer sehr schwierigen Zeit zu Beginn der Erkrankung spielen sich in der Familie Rollenverteilungen ein sowie das nachvollziehbare Bedürfnis, diese labile Ruhe nicht mit schwierigen Thematisierungen zu stören, nämlich über die Erkrankung und ihre Folgen zu sprechen, da dies sehr wohl Kontroversen hervorrufen könnte. Dieses Schweigen ist funktional: es hält die gefundene familiäre Ordnung aufrecht; es ist partiell: denn über alle anderen Themen wird sehr wohl kommuniziert.
    Allerdings muss dieses Schweigen irgendwann durchbrochen werden, um langfristige psychische Störungen bei den Beteiligten zu vermeiden und um Lösungen zu finden.
  • Die kognitive Vermeidung (von Stålberg u.a. als ‚cognitive avoidance‘ eingeführt). Diese Geschwister vermeiden die Beschäftigung mit den Problemen und Ambivalenzen, indem sie sich intensiv anderen Beschäftigungen zuwenden, sich also regelmäßig oder von Fall zu Fall handwerklich betätigen, Lesen, Sport treiben etc. etc.
  • Der kognitive Überstieg. RP verwendet diese Bezeichnung hier erstmals für eine Strategie, die offensichtlich eine Reihe von Geschwistern gewählt hat. Bei dieser Strategie beschäftigt man sich (zunächst nur halb-) professionell mit Psychiatrie, was zu einer beruflichen Karriere in der oder nahe der Psychiatrie hinführt. Viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der (Gemeinde-) Psychiatrie sind Geschwister, die damit offensichtlich für sich einen gangbaren Weg gefunden haben.
    So gibt es z.B. einen bedeutenden Forscher im Bereich Entwicklungspsychologie und -psychiatrie, der sein Forschungsinteresse eindeutig auf seine Rolle als Bruder einer erkrankten Schwester zurückführt, die sich schließlich suizidierte. Er kommt immer wieder auf sie zurück, sie war und ist so etwas wie ein subkutaner Wegweiser durch seine wissenschaftliche Biographie. (W. Thomas Boyce: Orchidee oder Löwenzahn? Warum Menschen so unterschiedlich sind und wie sich alle gut entwickeln können;
    Boyce-2019).

Die Strategie ‚kognitiver Überstieg‘ verweist auf einen weiteren Zusammenhang: Die positiven Effekte als Folge der Herausforderungen, Schwester oder Bruders eines erkrankten Geschwisters zu sein.

Ein Blick in die internationale Literatur zeigt: Selbst in den Jahren, als ausschließlich die Belastungen von Geschwistern auf vielfältige Weise erhoben wurden, haben viele der Geschwister für sich selbst ungefragt (!!!) positive Effekte der Herausforderungen zu Protokoll gegeben: Erweiterte Empathie, ein mit der Zeit gewachsenes Selbstvertrauen, die Fähigkeit, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen, eine deutlich gesteigerte Wahrnehmung der sozialen Verhältnisse in der Gesellschaft bis hin zu einer überdurchschnittlich häufigen Wahl von sozialen Berufen.

Eine Teilnehmerin unseres Geschwistertreffens sagte im Anschluss daran: Als die potentiell positiven Effekte angesprochen wurden habe sie dies erstmals auch für sich erkannt.

Bei der Frage potentieller Schuld und faktischer Schuldvorwürfe entstand eine Kontroverse.

RP stellte in den Raum, dass von Angehörigen sehr häufig Schuldvorwürfe erlebt würden, obwohl sie heute von professioneller Seite sowie in der Fachliteratur nicht mehr erhoben würden; allerdings wurden und werden in Studien und in theoretischen Überlegungen zur Rolle der Familie bei psychischen Erkrankungen sehr wohl nach wie vor Wirk-Effekte herausgestellt, aber nicht im Sinne der Verursachung. Diese würden häufig so gelesen, als würde damit Schuld zugewiesen, was aller­dings ganz und gar nicht der Fall sei (zumindest in den letzten Jahren).

Zu Recht wurde erwidert: „Es werden Schuldvorwürfe ausdrücklich erhoben – und zwar ganz ausdrücklich – z.B. von anderen Familienmitgliedern und von Bekannten, mitunter auch eher subtil von Mitarbeitenden im Sozial- und Gesundheitssystem.“ Dem ist so, und das ist eine große Belastung für alle Angehörigen. Diese Schuldzuweisungen verschärfen zudem die generelle Stigmatisierung aufgrund psychischer Erkrankungen.

Es ist sinnvoll, das subjektive Erleben von Schuldgefühlen auseinander zu halten von faktischen Schuldvorwürfen seitens anderer Personen, die es sehr wohl immer noch gibt. Allerdings wird häufig etwas gesagt, was sehr schnell eine Assoziation zu Schuldgefühlen hervorruft, obwohl dies nicht beabsichtigt war – und dann wird das Gesagte schnell als Schuldvorwurf verstanden, obwohl ein anderer und zumeist komplizierterer Zusammenhang gemeint war.

RP: Hier folgt ein Versuch, dieses Phänomen der ‚fälschlich verstandenen Schuldvorwürfe‘ zu erklären.

Es gibt viel Literatur, die sich mit familiären Strukturen und Dynamiken befasst, denen eine wie auch immer geartete Mitwirkung am Erkrankungs- und/oder Wieder-Erkrankungsgeschehen bescheinigt wird, indem gesundheitsförderliches und gesundheitsabträgliches Verhalten identifiziert wird. Dabei geht es um die Entschlüsselung der Bedingtheit jedes Einzelnen in der Abfolge der Generationen in einer je spezifischen Umwelt. Damit ist gemeint:

Jeder Einzelne (also auch jedes Familienmitglied) bringt zu jedem Zeitpunkt aus seiner individuellen Geschichte etwas Spezifisches in die aktuellen sozialen Situationen ein; sein Verhalten ist in diesem Sinne immer auch ‚bedingt‘, es hat sich ‚unter bestimmten Bedingungen‘ etwas herausgebildet, was in der aktuellen Situation in seinem Denken, Fühlen und Handeln mitwirkt. Der Mensch ist daneben grundsätzlich in der Lage, sich in Auseinandersetzung und Reflexion (einem Teil) seiner Bedingtheiten gewahr zu werden und sich zu verändern; nur so sind wir Menschen unter unseren sich ständig verändernden Lebensbedingungen zufriedenstellend lebensfähig.

Die Schwierigkeit bei der Debatte um Schuld ist diese Gleichzeitigkeit von Bedingtheit und der Möglichkeit, sich durch Weiterentwicklung (Lernen) Stück für Stück daraus zu befreien. Dabei darf nicht übersehen werden: Das ist ein oft langwieriger Prozess und nicht jeder hat die Möglichkeit dazu, wenn seine soziale Situation z.B. sehr begrenzend und/oder hoch belastet ist. Das Konzept von Schuld ist dazu geeignet, diese Dialektik von ‚Bedingtheit‘ und ‚Freiheit zur Weiterentwicklung‘ zu zer­schlagen! In dem hier beschriebenen Zusammenhang wird mit einer (die Kompliziertheit drastisch reduzierenden) Schuldzuweisung die Bedingtheit der Person negiert und eine völlige sowie verpflichtende Befreiung aus der (historischen) Bedingtheit verabsolutiert. Gleichzeitig wird den in der sozialen Situation (der familiären Interaktion) stattfindenden Austauschprozessen eine Bedeutung zugeschrieben, die diese Prozesse ihres Prozesscharakters beraubt – so als würden z.B. kritische, im Bemühen um Erziehung motivierte Bemerkungen losgelöst aus einem fortlaufenden Bindungs- und Interaktionsgeschehen eine Wirkung entfalten können, die als Ursache für eine psychische Erkrankung herangezogen werden könnten – womit dann der Schuldvorwurf begründet wäre.

Um den ersten Gesichtspunkt (die Negation der historischen Bedingtheit) an einem drastischen Beispielen zu verdeutlichen.
Wer wollte einer Mutter, die als Kind sexuelle Gewalt erleben musste und ihr psychisches Überleben sicherte, indem sie ihre grauenhaften Gefühle unterdrückt (fachlich korrekt: dissoziierte, abspaltete) dafür schuldig sprechen, dass sie damit zugleich weniger feinfühlig ihren eigenen Kindern gegenüber wurde, was sich auf deren Psyche auswirkt? Darf man dieser Mutter eine Schuld geben, wenn sie nicht die Möglichkeit hatte, dieses Handicap etwa über eine Therapie oder in einer Ehe mit einem sehr zugewandten Partner abzulegen? Möglichkeiten, die andere Frauen nach sexuellen Übergriffen hatten?
Wissen wir um die Belastungen unserer Eltern und Großeltern, die qua Bedingtheit ihres Verhaltens in gewissem Maße und irgendeiner Form an uns weiter gegeben wurden?

Vielleicht kann auch eine Analogie dazu beitragen, faktische Schuld abzugrenzen von der empfundenen Schuld:

Wie bekannt, wird davon ausgegangen, dass das Risiko für eine psychische Erkrankung zum einem Teil in den Genen verankert ist, also erblich von den Eltern an das Kind weitergegeben wird, demnach eine (Mit-) Verursachung bei den Eltern liegen könne. Aber wird irgendjemand daraus eine ‚Schuld‘ ableiten? Wohl kaum. Dennoch empfinden manche (oder auch viele) Eltern eine Schuld daran, dass diese (ihre) Gene ggf. für die Erkrankung ihres Kindes (mit-) ursächlich sein könnten.

Ähnliches gilt für das Verhalten, denn der Mensch ist ja nicht nur durch seine Gene definiert; sein Denken, Fühlen und Handeln hat sich – wie oben ausgeführt – unter bestimmten Bedingungen ausgeprägt; dazu gehören neben den jeweiligen Lebensbedingungen und -erfahrungen (im weitesten Sinne) auch generationsübergreifende Umstände. Um weniger günstige Prägungen durch Hinzulernen zu beeinflussen, bedarf es – wie ebenfalls oben ausgeführt – viel Zeit, vor allem aber zwei wesent­licher Voraussetzungen: 1. die Erkenntnis, dass bestimmte Denk- und Verhaltensweisen sich negativ auf die familiären Strukturen auswirken und 2. die Möglichkeit, an einer Weiterentwicklung zu arbeiten – die wiederum von der aktuellen Lebenssituation in vielerlei Hinsicht beeinflusst wird.
Solange nicht beide Voraussetzungen gegeben sind, ist diese Prägung neben der Genetik als Teil der ‚personalen Ausstattung‘ zu betrachten – und auch so zu behandeln.

Was bisher beschrieben wurde passt für die sog. Schuldfrage bei Eltern und Geschwistern gleicher­maßen. Bei Geschwistern vermischt sich dies mit subjektivem Schulderleben völlig anderer Herkunft, nämlich der ‚Solidaritätsschuld‘. Viele Geschwister haben das Gefühl, der oder dem Erkrankten in seinen Schwierigkeiten solidarisch zur Seite stehen zu müssen – und dies in den eigenen Augen nur begrenzt leisten zu können, was zum Erleben der Solidaritätsschuld führen kann; dies war in vielen der durchgesehenen Interviews zu finden. Vor vielen Jahren hat ein schwedischer Autor (Titelman) von der ‚Überlebensschuld‘ von Geschwistern gesprochen; er meinte damit das schlechte Gewissen von Geschwistern, im Gegensatz zur eigenen Schwester bzw. dem Bruder von einer psychischen Erkrankung verschont geblieben zu sein.

Dies sind Schuldgefühle, die bei den Geschwistern sozusagen aus sich selbst heraus entstehen, ohne dass irgendjemand ihnen diese zugewiesen hätte oder einen entsprechenden Vorwurf geäußert hätte. Auch bei Eltern gibt es diesen Anteil aus sich selbst heraus entwickelter Schuldgefühle. Angesichts der Erkrankung oder Behinderung oder starker Verhaltensauffälligkeiten des eigenen Kindes taucht der schmerzliche Gedanke auf, möglicherweise als Eltern ‚nicht gut genug gewesen zu sein‘, wobei wohl insbesondere Mütter darunter leiden, ggf. keine gute Mutter gewesen zu sein. Da ist es sehr leicht nachzuvollziehen, wie sehr insbesondere Mütter geneigt sind, auf jede nur erdenkliche Anspielung auf Schuld zu reagieren und wie massiv sie unter jedem von außen kommenden Schuldvorwurf leiden – siehe oben die zitierten Schuldvorwürfe aus dem weiteren familiären Kontext und/oder von Bekannten.

Wir Protokollanten haben an diesem Abschnitt des Protokolls lange diskursiv gerungen. Wir wünschen uns, dass diese Ausführungen uns Geschwistern eine Anregung geben können, empfundene Schuldgefühle daraufhin abzuklopfen, ob sie möglicherweise unseren eigenen, häufig ambivalenten Gefühlen geschuldet, und damit ‚objektiv gesehen‘ obsolet im Sinne von ‚unbegründet‘ sind. Wenn wir das erkennen, sind sie durch Selbstversicherung bzw. Selbstreflexion reduzierbar, wenn nicht sogar vermeidbar. Gemeint sind beide Seiten: die Schuldgefühle in Bezug auf sich selbst sowie jene im Hinblick auf die Strukturen und Dynamiken in der Familie.
Darüber hinaus könnten die Überlegungen dabei helfen zu erkennen, wenn Äußerungen Dritter auf diese aus uns selbst heraus empfundenen Schuldgefühle und Ambivalenzen treffen und wir dann dazu neigen, Schuldvorwürfe zu vermuten oder zu erahnen, ohne dass es dafür eine tatsächliche Grundlage gibt.
Dem gegenüber sollten wir mutiger werden, den von Außenstehenden tatsächlich und erkennbar erhobenen, in der Regel verkürzenden und pauschalisierenden Zuschreibungen nicht irritiert und verunsichert sondern selbstbewusst entgegen zu treten.

Diese Frage tönt das Problem an, das bei dem Treffen am häufigsten benannt wurde: Die Frage nach der Vererbung von psychischen Erkrankungen, das mit der sehr bedrängenden Frage verbunden ist: werde vielleicht auch ich psychisch erkranken, oder vielleicht meine Kinder?
Wie bereits bei früheren Treffen wurde die Problematik sowohl im Hinblick auf die schwelende Verunsicherung als auch im Hinblick auf anstehende oder bereits getroffene Lebensentscheidungen von mehreren Teilnehmenden thematisiert.

Die bereits als klassisch zu bezeichnende Frage lautet: ‚Angeboren oder erworben?‘ In Übersetzung in die heutige Sprache: ‚Genetisch verankert oder sozial verursacht?‘ Die allseits geschätzte Antwort geht der Brisanz der Frage geschickt aus dem Wege: ‚Multifaktoriell verursacht, es gibt genetische und psycho-soziale Anteile, in sehr unterschiedlicher Mischung‘.

RP: Diese Antwort ist beschwichtigend, allerdings wird dabei eine seit einigen Jahren wieder heftig entflammte Debatte über ‚angeboren oder erworben‘ übersehen.
Mit den sich ständig verbessernden Methoden genetischer Forschung und einer sich verbreiternden Basis für sozialwissenschaftliche Methoden werden laufend neue Erkenntnisse generiert.

RP greift diese für viele Geschwister hoch brisante Frage in seiner Monographie auf; dem Protokoll ist als Anlage ein entsprechender, gekürzter Auszug aus der Monographie beigefügt.

Die zentrale Aussage lautet: Übereinstimmend wird in zahlreichen Studien festgestellt, dass für viele Geschwister allein die Befürchtung eines erhöhten erblichen Risikos (für sich selbst und ihre Nachkommen) eine massive Belastung darstellt, die ihrerseits die Wahrscheinlichkeit psychischer Probleme oder gar einer Erkrankung erhöht.

Damit wird das ohnehin gravierende subjektive Belastungserleben weiter erhöht, und dafür sind die epidemiologisch gesicherten erhöhten Raten psychischer Erkrankungen unter den Geschwistern maßgeblich, und nicht die in vielen Studien behaupteten und in populärwissenschaftlichen Texten kontrafaktisch herausgestellte Sicherheit, genetische Risiken seien für die epidemiologischen oder in Zwillingsstudien gefundenen Effekte ausschlaggebend. Wie fragwürdig solche Behauptungen sind und wie viele Fragen nach wie vor ungeklärt sind, um eine genetische Verursachung mit Fug und Recht anzunehmen, kann in Texten von überzeugten Genetikern nachgelesen werden. Greg Gibson, einer der herausragenden Genetiker, bringt es auf den Punkt: ‚correlation is not causation‘ (Gibson in ‚Rare and common variants ….‘).
Mit anderen Worten: Selbst dann, wenn große, mehrere tausend Personen einschließende genetische Studien das gleichzeitige Auftreten von bestimmten genetischen Eigenschaften und bestimmten Krankheiten nachweisen (Korrelation), so ist dies noch lange kein Beweis dafür, dass diese genetischen Besonderheiten die Ursache der Erkrankung sind (Kausalität).
Der Zusammenhang ist ein anderer. In vielen genetischen Studien wird ausdrücklich darauf verwiesen, dass zu den jeweils gefundenen genetischen Veränderungen zwingend Umwelteinflüsse hinzu treten müssen, damit der Übergang vom Risiko zur Erkrankung erfolgen kann.
Wie oben betont dürften die besonderen Belastungen von Geschwistern psychisch Erkrankter die wesentlichen Umwelteinflüsse sein, die zu den erhöhten Raten psychischer Erkrankungen bei den Geschwistern führen.[1]

Die Botschaft an uns Geschwister ist eindeutig:
Die Vererbungsangst ist absolut nachvollziehbar, und es gibt auch erhöhte Krankheitsraten unter den Geschwistern – aber dies mit ‚angeboren‘ oder ‚genetisch‘ gleichzusetzen ist alles andere als sinnvoll: Die Überlegung ist wissenschaftlich nicht begründbar, vielmehr trägt sie selbst zu einer Erhöhung des Risikos bei.

Sinnvoll und gesundheitsrelevant ist demgegenüber alles, was die Belastungen aus der besonderen Situation als Geschwister reduziert und was dazu beiträgt, psychosomatischen Belastungsfolgen entgegen zu wirken, also alles, was das Stresserleben reduziert; dazu gehören entspannende Aktivitäten und an erster Stelle ‚sich etwas Gutes zu tun‘!

_______________
[1] Diese Aussagen gelten für die übergroße Zahl von psychischen Erkrankungen. Auf die sehr seltenen Fälle von über Generationen hinweg auftretenden familiären Häufungen von einzelnen psychischen Erkrankungen wird in der Monographie eingegangen.

Auf einer vorbereiteten Pinnwand haben die Teilnehmenden des Treffens mit Klebepunkten notiert, welche Unterstützungsangebote ihnen früher wichtig gewesen wären/geholfen hätten, und welche ihnen heute wichtig wären/helfen würden. Außerdem haben die meisten nach Abschluss des Treffens einen Rückmeldebogen mit offenen Fragen ausgefüllt.

Als Ergebnis sticht dabei ins Auge, dass es zwei Präferenzen bei den Bedürfnissen zu geben scheint:

  • das Interesse am Austausch der Erfahrungen unter den Geschwistern und
  • das Interesse an mehr und strukturierter Information.

Wir Protokollanten ziehen daraus die Schlussfolgerung, im kommenden Jahr zwei Typen von Treffen anzubieten: Ein überregionales Treffen, bei dem der Austausch von Erfahrungen im Vordergrund steht, was den Treffen in Kassel und Wiesbaden sehr nahe kommen wird. Häufig genannte Themenblöcke sollen in der Vorbereitung Berücksichtigung finden.

Wie bereits nach dem Treffen in Kassel 2018 haben sich auch nach diesem Treffen einige Geschwister gemeinsam auf den Weg gemacht und eine neue Geschwister-Selbsthilfegruppe für den Raum Stuttgart gegründet; Kontakt über Selbsthilfegruppen. Die Gruppe trifft sich in jedem zweiten Monat und hat bereits weitere Teilnehmende gewinnen können.

Daneben werden wir eine Veranstaltung planen, die eher einem Seminar nahe kommt, nämlich mit einigen Info-Blöcken und Diskussionen zum Stand des Wissens über Geschwister psychisch erkrankter Menschen sowie zu grundlegendem Hintergrundwissen, z.B. zum heutigen Verständnis psychischer Erkrankungen, Möglichkeiten und Grenzen gegenwärtiger Therapie-Verfahren, etc., jeweils ergänzt um Literatur zum weiteren ‚Selbststudium‘.

Auch denken wir gerade über Arbeitsblätter nach zur Rekonstruktion der eigenen ‚Geschwister-Biographie‘, was einerseits die Reflexion des Erlebten unterstützt und andererseits auf eine Verallgemeinerung ausgerichtet sein wird. Ein solches Arbeitsblatt kann ein Zeitstrahl sein, auf dem markante biographische Ereignisse sowie deren Bewertung eingetragen werden können, ergänzt um etwaige Schlussfolgerungen, die die jeweilige Person daraus gezogen hat. Dies hat für die Teilnehmenden eine andere Qualität als mündlich darüber zu berichten: Die Schriftform veranlasst zu Verdichtungen und der Konzentration auf einschneidende Erlebnisse und macht es zudem leichter möglich, anschließend in der Gruppe herausstechende Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu identifizieren, die Eingang in Unterstützungsmaßnahmen finden können.

Mit diesem Seminartyp sollen auch solche Geschwister angesprochen werden, die (z.B. nach einer Teilnahme an einem der bisherigen Geschwistertreffen) daran interessiert sind, künftig bei Veranstaltungen als Schwester oder Bruder zu referieren bzw. Diskussionsbeiträge beizusteuern. Außerdem wäre dieser Seminartyp geeignet für die Geschwister, die an weiteren fachlichen Klärungen im Kontext ‚Geschwister‘ interessiert sind.

„Die Angst, selbst an einer psychischen Störung zu erkranken – und die objektivierbaren Risiken“

Auszug aus dem Kapitel „Die Erkrankung der Schwester bzw. des Bruders zeigt lebensgeschichtliche Wirkung“ der noch unveröffentlichten Geschwister-Monographie von Reinhard Peukert

Förderung der Veranstaltung:
Wir bedanken uns für die Unterstützung der Veranstaltung beim AOK Bundesverband für die Selbsthilfeförderung gemäß § 20h SGB V

Seminar für Eltern und Geschwister am 26.10.2019 in Hamburg

Nach einem Impulsreferat fanden sich Eltern und Geschwister von psychisch erkrankten Menschen in getrennten Gesprächsgruppen zusammen, um anschließend die erarbeiteten Schwerpunkte ihrer jeweiligen Sichten in einer gemeinsamen Gesprächsrunde zu diskutieren.
Neben vielen Überschneidungen wurden auch unterschiedliche Wahrnehmungen in den Bedürfnissen der jeweils anderen Gruppe deutlich sichtbar und in einer sehr offenen und konstruktiven Atmosphäre angesprochen.
Die Teilnehmenden – je zur Hälfte Eltern und Geschwister – äußerten am Ende des intensiven Tages mehrheitlich den Wunsch, den Dialog fortzusetzen.

Veranstalter:
Landesverband Hamburg der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen und
Netzwerk von Geschwistern psychisch erkrankter Menschen

Impulsreferat: 
Dr. Christiane Pohl; Philosophische Beratungspraxis Hamburg

Moderation:
Tagungsmoderation: Dr. Hans Jochim Meyer; LV Hamburg ApK
Elterngruppe: Claudia Wetterhahn; LV Hamburg ApK
Geschwistergruppe: Ingeborg Schwalbe; LV Hamburg ApK
Gesamtgruppe: Dr. Christiane Pohl; Philosophische Beratungspraxis Hamburg

Protokoll: 
Leonore Julius; GeschwisterNetzwerk.de
Henny Hansen, LV Hamburg ApK
Claudia Wetterhahn; LV Hamburg ApK

Aus der Einladung: Die psychische Erkrankung eines jungen Menschen hat Auswirkungen auf die nicht erkrankten Geschwister, auf ihre Beziehung zu den gemeinsamen Eltern, auf die Beziehung der Geschwister untereinander. Wie steht es mit dem gegenseitigen Verständnis zwischen Eltern und nicht erkrankten Geschwisterkindern? Müssen Geschwister Verantwortung für ihren erkrankten Bruder oder ihre erkrankte Schwester übernehmen? Wie kann der familiäre Zusammenhalt gewahrt bleiben?

Das Seminar war mit 30 Teilnehmerinnen und Teilnehmern ausgebucht, etwa eine Hälfte waren Eltern bzw. Elternteile, die andere Hälfte Geschwister. Bei knapp der Hälfte der Teilnehmenden aus beiden Gruppen waren Eltern und Geschwister gemeinsam gekommen – ein Hinweis darauf, dass in diesen Familien eine Auseinandersetzung mit den Erfahrungen von Geschwisterkindern zumindest begonnen hat.

Dr. Christiane Pohl berät in ihrer philosophischen Beratungspraxis Menschen, die sich in einer inneren Not befinden, keinen Ausweg wissen, eine schwierige Entscheidung treffen müssen, sich fragen, wie sie ihr Leben führen sollen; darunter immer wieder auch Geschwister und Angehörige von psychisch erkrankten Menschen – deshalb arbeitet sie schon seit 12 Jahren eng zusammen mit dem Landesverband psychisch erkrankter Menschen in Hamburg.

Im Hinblick auf Geschwister, die ihre Beratung suchen, verweist sie auf das Logo des GeschwisterNetzwerks „Ihr seid auch meine Eltern“, das ihrer Meinung nach die häufig von Geschwistern empfundene Situation aufgreift: das Geschwisterkind, das sich am Rande oder außerhalb des Familienverbundes sieht. Wichtig ist ihr, dass es auf gar keinen Fall um Vorwürfe an die Eltern gehen kann – die Familie als „Ort der Fürsorge, der Liebe und des Vertrauens“ für all ihre Mitglieder bricht unter den Belastungen durch ein psychisch erkranktes Familienmitglied häufig zusammen.

In einem von ihr als typisch bezeichneten Beispiel schildert sie die Probleme einer ‚Schwester‘ Ende 20 (verheiratet, berufstätig), die auch aus vielen anderen Interviews mit Geschwistern bekannt sind:

  • Sie ist wütend auf den (älteren)Bruder, der die gesamte Aufmerksamkeit der Eltern absorbiert, seit sie 14 Jahre alt ist (erster psychotischer Schub mit 19 Jahren nach Drogenkonsum) – und mit dem sie nur wenige schöne Erinnerungen aus der Kindheit verbinden.
  • Sie streitet mit den Eltern, denen sie zu große Nachgiebigkeit gegenüber dem Bruder vorwirft – gleichzeitig aber anerkennt, dass die Eltern durch dessen Erkrankung zutiefst getroffen sind.
  • Sie fühlt sich übersehen, weil sie ja ‚funktioniert‘ und fühlt sich überfordert von dem Druck, der Eltern, Verständnis für den erkrankten Bruder aufbringen zu müssen.
  • Sie erlebt belastende Aggressionen gegenüber dem auch drohend auftretenden Bruder, Wut auf die Eltern, die medizinische Betreuung, Scham, weil sie froh ist, wenn ihr Bruder wegen Depressionen klinisch untergebracht ist.
  • Und sie ist konfrontiert mit der Erwartung der älter werdenden Eltern, dass sie sich stärker in die Sorge um den Bruder einbringen soll – bis hin zur offiziellen Betreuung.

Aus Sicht der Referentin fehlt das Bemühen oder die Kraft, die Situation der Schwester wirklich zu verstehen und ihre schwierige Lage anzuerkennen. ‚Es fehlt an Verständnis, an innerer Verbindung oder philosophisch ausgedrückt:  an  ‚Resonanz‘.

Im Folgenden erläutert die Referentin die Bedeutung von ‚Resonanz‘ für jedes Individuum und für das Verstehen (und Lösen) von Konflikten: „In Resonanz zu leben ist die Basis unseres Daseins!“ Resonanz ist wechselseitig – wie  zwei Stimmgabeln, die im Resonanzgeschehen die Schwingungen der jeweils anderen aufnehmen.

Sie bezieht sich auf Martin Buber: ‚Wer wir sind, wie wir mit einem Problem umgehen, das bildet sich nur im Austausch mit der Welt heraus, vorzüglich mit anderen Menschen‘ und Hartmut Rosa: ‚Menschen … sind existenziell vom Verlangen nach Resonanzbeziehungen geprägt‘.

Gründe für wegbrechende Resonanz sind vielfältig – einen zentralen Grund sieht sie in der zu hohen Stressbelastung, der alle Familienmitglieder nach dem Auftreten einer psychischen Erkrankung ausgesetzt sind. Die vielfältigen Folgen und die damit einhergehende  Beeinträchtigung der Resonanzbeziehungen  können  auch nach langer Zeit noch fortwirken. Sie sieht es als äußerst wichtig an, den Versuch zu unternehmen, wieder in ein ‚Resonanzverhältnis‘ zu kommen – trotz der damit verbundenen Ängste und Risiken.

Die Annäherung an die Frage der Verantwortungsübernahme sieht sie zunächst als die Wiederherstellung der Resonanz mit sich selbst, d.h. sich darüber klar zu werden, wer man bzw. frau ist,  und was die eigenen Vorstellungen und Ziele sind bzw. sein könnten. In Verantwortung steckt Antwort – und es geht um die ganz eigene, auch mit Blick auf die Gefühle, die dabei eine Rolle spielen.  Mit offenen Antennen für die äußere Welt den eigenen Weg zu suchen – dies könne auch helfen, ein ‚Grenzland‘ zu bestimmen, nicht starre Grenzen zu setzen: Bis hierher und nicht weiter. Grenzland sei viel flexibler,  und zwar in beide Richtungen,  außerdem  beinhalte es immer auch das Recht, ‚Nein‘ zu sagen.

Die Ausführungen der Referentin liefern damit eine philosophische Erklärung für das, was in Studien als lebenslange Herausforderung für Geschwister gesehen wird: die Nähe-Distanz-Regulierung sowie die sich scheinbar widersprechende Herausforderung von Individuation und sozialer Beteiligung (qua positiver Antwort auf die Ansprüche der Anderen) – diese müssen  immer wieder an sich verändernde Gegebenheiten angepasst werden.

Frau Dr. Pohl  beendet ihr Referat mit einem Zitat von Willy Kremp: „Das Sein insgesamt fragt uns mit tausend Fragen. Zu jeder Stunde anders. … Immerfort sind wir gefragt. Das ist unsere Gabe und Last als Mensch. … Lebendig sein heißt: In jeder Stunde die ganz andere und neue Frage hören, die das Leben uns stellt und mit einem Wort antworten, das immer wieder ein gleichsam erstes Wort ist“.

Beteiligt waren 14 Eltern bzw. Elternteile, deren Kinder überwiegend schon vor längerer oder sehr langer Zeit erkrankten und heute zwischen 20 und 50 Jahre alt sind. In zwei Familien gab es mehrere erkrankte Kinder, in einer dieser Familien außerdem ein erkranktes Enkelkind. Auffällig war, dass zu den meisten Familien mehrere gesunde Geschwister (bis zu vier) gehören.

In der Elterngruppe wurde in Kategorien abgebildet, was die Beziehung zwischen Eltern und den gesunden Geschwistern belastet oder behindert und was sich positiv auf diese Beziehung auswirkt.

Stolpersteine

  • Scham (Widerwille, sich als Geschwister/Eltern oder die/den Kranke/n zu outen, darüber zu reden)
  • Schuldgefühle, selbst gesund geblieben zu sein
  • Gefühl der Wut, Kränkung bei gleichzeitigen Verantwortungsgefühlen
  • Sehnsucht nach innerer Verbindung bei fehlender Resonanz in der Beziehung
  • Funktionieren müssen
  • Mangelnde Betreuung durch Institutionen
  • Zukunftsangst aufgrund der ethischen Verpflichtung zur Versorgung des kranken Geschwisters, wenn Eltern krank sind oder versterben; Erbschaftsregelungen
  • Schwierige gefühlsbetonte Familienzeiten (z.B. Weihnachten)
  • Trauer über die Krankheit in der Familie

Was hilft den Geschwistern?

  • Körperkontakt zum erkrankten Geschwisterkind; nonverbale Signale
  • Radikale Akzeptanz der Erkrankung
  • Mal alleine etwas miteinander erleben! (Kontakte ohne kranke Geschwister innerhalb der Familie, ‚normale‘ Unternehmungen; auch im Gespräch die Krankheit aussparen ohne schlechtes Gewissen)
  • Abgrenzung gegenüber dem Erkrankten
  • Stärkung angesichts von Stigmatisierung
  • Hilfesysteme kennenlernen und nutzen
  • Erkenntnis: Unter jedem Dach ein großes Ach

Was brauchen die Eltern?

  • Mit sich selbst in Resonanz zu gehen, das ‚Grenzland‘ zu bestimmen…
  • Akzeptanz der gesunden Geschwister
  • Ablehnung einer Therapeutenrolle beim Erkrankten
  • Stärkung durch andere, gesunde Angehörige von Betroffenen
  • Unterstützung der gesamten Familie durch Einbeziehung aller Angehörigen bei der Behandlung und Begleitung des psychisch erkrankten Familienmitgliedes

Für Geschwisterkinder und Eltern kann professionelle Unterstützung sinnvoll sein:
Klärungshilfe, um Tabus zu brechen und Resonanz zu stärken.

Ohne Vorstellungsrunde brauchte es einige Zeit, um miteinander ins Gespräch zu kommen. Dann allerdings war die Atmosphäre von Vertrauen und großer Offenheit geprägt. Vertreten waren Geschwister, die das ganze Spektrum der Geschwistererfahrungen abbildeten, wie sie auch in früheren Geschwistertreffen angesprochen wurden; mit dabei waren auch mehrere Teilnehmende aus der Hamburger Geschwistergruppe.

  • Mehrfach geäußert wurden:
    • die permanente Ambivalenz der Gefühle gegenüber dem erkrankten Geschwister;
    • die ständige Angst vor ‚der großen Krise‘;
    • die Unsicherheiten bezüglich der zukünftigen Entwicklungen, was die mögliche oder wahrscheinliche Übernahme von mehr Verantwortung mit einschließt;
    • Erfahrungen mit schwierigem innerfamiliären Kommunikationsverhalten;
    • Stigmatisierungserfahrungen bzw. die Befürchtung von Stigmatisierung.
  • Bestätigt wurde auch die Erfahrung, dass Geschwister sich überdurchschnittlich häufig für soziale Berufe entscheiden.
  • Eine Schwester beschreibt, wie die Erkrankung des jüngeren Bruders die Familie zusammen schweißt; es wurde von Beginn an viel gesprochen in der Familie; sie empfindet, dass die Rollen geklärt sind. Sie fühlt sich nicht belastet von Ängsten vor Stigmatisierung; so hat sie sich auch am Arbeitsplatz für einen offenen Umgang mit der Erkrankung des Bruders entschieden, räumt aber ein, dass dies bei einer Tätigkeit im sozialen Bereich leichter sei als in anderer Umgebung.
  • Eine andere Schwester äußert ihre Traurigkeit darüber, dass sie in ihrer Patchwork-Familie das genaue Gegenteil erleben muss. Die nicht vorhandene Kommunikation stellt für sie eine Herausforderung dar, für die sie derzeit keine Lösung sieht, sodass sie eine therapeutische Bearbeitung in Erwägung zieht.
  • Zwei Brüder (im jungen Erwachsenenalter) berichten fast gleichlautend von engem Kontakt zu einem weiteren (gesunden) Bruder, aber nur gelegentlichem Kontakt zu dem erkrankten Geschwister. Beide sind auf Wunsch der Eltern bzw. eines Elternteils zum Treffen gekommen; sie erleben die Belastung der Eltern und sehen die Frage der ‚Verantwortungsübernahme‘ am Horizont.
  • Eine Schwester sieht eine ‚Konstellation, die ihr ein soziales Leben ermöglichte‘ darin, dass sie früh die (vor allem emotionale) Unterstützung einer nicht zur Familie gehörenden Person hatte, die sie rückblickend als Vize-Mutter sieht.
  • Eine Teilnehmerin fühlt sich sehr belastet durch die Sprachlosigkeit, die sie vor allem auf den unterschiedlichen Zugang zu psychischen Erkrankungen in ihrer multikulturellen Familie zurück- führt. Auch eine weitere Schwester spricht von zusätzlichen Problemen durch kulturelle Traditionen in ihrer Familie.
  • Sowohl aus anderen Geschwistertreffen als auch aus Studien bekannt ist das ‚schlechte Gewissen‘, das hier zwei Geschwister zum Ausdruck brachten:
    • ‚Ich wünschte, ich wäre erkrankt statt des Geschwisters‘ und
    • ‚Ich würde sofort mein Leben dafür geben, wenn es meinem Bruder dadurch wieder gut ginge‘.
  • Relativ breiten Raum nahm die Frage ein, ob und in welcher Weise das ‚Sich Kümmern‘ um ein erkranktes Geschwister die eigene Partnerschaft bzw. Familie beeinflusst. Alle Teilnehmenden, die sich dazu äußerten, sahen solche Auswirkungen, allerdings in sehr unterschiedlichem Ausmaß.
    Eine Teilnehmerin sieht sich nach vielen Jahren aktuell im Konflikt zwischen der etwas jüngeren erkrankten Schwester und den eigenen halbwüchsigen oder bereits erwachsenen Kindern, bei denen sie Anzeichen von Eifersucht zu erkennen glaubt. Sie spitzt ihre eigene Gefühlslage in der Aussage zu, sie ‚habe es satt, über ihre Rollen definiert zu werden, sie wolle einfach nur als Mensch gesehen werden‘.

Bei allen Unterschieden im Erleben und Miterleben der Erkrankung eines Geschwisters wurde eine wesentliche Erkenntnis aus allen bisherigen Treffen von Geschwistern sowie von Eltern und Geschwistern bestätigt:
Die Belastungen durch die Erkrankung können nicht behoben werden, wohl aber können zusätzliche Belastungen vermieden werden, die sich z.B. durch die überstarke Fokussierung auf das erkrankte Familienmitglied ergeben oder durch die oft übersehenen Störungen aufgrund der in den Familien Raum greifenden Sprachlosigkeit.
Die Beiträge der Geschwister haben gerade dies deutlich gemacht:
Wo über die jeweils eigenen Erfahrungen und Gefühle in der Familie gesprochen werden kann, werden weniger Belastungen erlebt; wo das (noch) nicht möglich ist, erhöhen sich die Belastungen – nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass jeder auf Vermutungen über die Wahrnehmungen und Gefühle der anderen Familienmitglieder angewiesen ist.

In der gemeinsamen Gruppe von Eltern und Geschwistern wurden die in den getrennten Gruppen angesprochenen Aspekte vorgetragen und um weitere Gesichtspunkte ergänzt.

Aus der Elternperspektive

  • Aus Elternsicht wurde festgestellt, dass es bei den angesprochenen Problemen und in den Blick genommenen Lösungsmöglichkeiten zu zahlreichen Überschneidungen kommt. Was den Eltern hilft, hilft häufig auch den gesunden Geschwistern und dadurch wiederum auch dem psychisch erkrankten Geschwister.
  • Eine Rolle spielt immer wieder die allgegenwärtige ‚Schuldfrage‘:
    Herausgearbeitet wurden die unterschiedlichen Motivationen für Schuldgefühle – die ‚Verursachungsschuld‘, die in der Psychiatrie über lange Zeit und gelegentlich auch heute noch den Eltern, vornehmlich den Müttern, zugeschrieben wurde und wird und demgegenüber die ‚Solidaritätsschuld‘, die viele Geschwister empfinden.
    Die Moderatorin gibt zu bedanken, dass die ‚Solidaritätsschuld‘ Anteile von den Eltern (Müttern) enthalten können, die auf die Geschwisterkinder  übertragen wurden – Signale der Zustimmung zeigten, dass dies Geschwisterkindern zu schaffen machte. Sie wiesen darauf hin, dass sie sich auch die Frage gestellt hätten, ob sie Schuld seien an der Erkrankung des Bruders oder der Schwester – bis hin zur Überlebensfrage: Warum hat es sie/ihn erwischt und nicht mich?
  • Zur Sprache kam in diesem Zusammenhang auch das Problem der Suizidgefahr, das Frau Dr. Pohl zufolge eine ungute Verquickung mit ‚vorweggenommener Schuld‘ erzeugen kann: „Wenn ich jetzt nicht helfe, dann…“ Eine für alle Familienmitglieder sehr belastende Verquickung von Schuld und Angst, die in der Kommunikation nicht verschwiegen werden sollte.

Aus der Geschwisterperspektive

  • Gefühle brauchen Zeit und Ruhe.
  • Es tut gut, Zusammenhalt in der Familie zu erleben …
  • Der Austausch unter Geschwistern ist befreiend!
  • Die psychische Erkrankung kann wie eine Wolke über der Familie schweben
    > frischer Wind nötig!
  • Das Recht auf ein eigenes, positiv geprägtes Leben anerkennen.
  • In Resonanz mit sich selbst bleiben!
  • Jeder Mensch hat das Recht, dafür zu sorgen, dass das eigene Leben gelingt!

Kontrovers diskutiert wurde die Frage des Schweigens über die psychische Erkrankung eines Familienmitgliedes – innerhalb der Familie und nach außen. Während in der Elterngruppe der Eindruck entstanden war, immer mehr Eltern seien  willens und in der Lage, die Erkrankung eines Kindes zu akzeptieren und darüber zu sprechen, wurde von Geschwisterseite deutlich gemacht, dass die anwesenden Eltern keinesfalls als repräsentativ anzusehen seien. Frau Dr. Pohl wies darauf hin, dass das Schweigen, mitunter auch ein von den Eltern auferlegtes explizites Schweigegebot, belastender sein kann als die Erkrankung selbst, bis hin zu psychosomatischen Erscheinungen, die zudem die Entwicklung eigener sozialer Kontakte massiv beeinträchtigen. Andererseits betonte sie, dass ein temporäres oder funktionales  Schweigen nach dem ersten Auftreten einer psychischen Erkrankung ganz hilfreich sein kann, bis die Familienmitglieder sich ‚sortiert‘ haben und sich über die schwierigsten Schritte der Verarbeitung verständigt haben.

In der Diskussion kam auch zur Sprache, dass die häufig geäußerten Ambivalenzen in der Beziehung zwischen gesunden und erkrankten Geschwistern einen wesentlichen Grund in der Besonderheit von Geschwisterbeziehungen haben. Sie unterscheiden sich generell von allen anderen Beziehungen im Leben schon allein durch ihre Dauer – in der Regel sind es die längsten Beziehungen im Leben eines Menschen, geprägt von den gemeinsamen Erfahrungen (Studien belegen, dass sie auch bei Konflikten und sogar bei Kontaktabbruch in der einen oder anderen Form weiterbestehen).

Der ‚Verlust‘ von Bruder oder Schwester durch eine späte Erkrankung ist sehr belastend, ebenso wie die Trauer und der Schmerz, nie einen (z.B. großen) Bruder gehabt zu haben.

Beim Thema ‚radikale Akzeptanz‘ und Entstigmatisierung der psychischen Erkrankung  wurde klar: Es braucht viel Zeit und Mut, unter der Maßgabe von Resonanz mit sich selbst und Selbstschutz – Offenheit nicht immer und nicht jedem gegenüber.
Als Basis ist eine weitreichende Kenntnis von psychischen Erkrankungen notwendig, um in Gesprächen Berührungsängste von Verwandten und Freunden abbauen zu können.

Hier wurde deutlich, dass die Geschwister in den meisten Fällen viel zu wenig wissen über psychische Erkrankungen – Aufklärung fehlt überall. In der Schule wie insgesamt in der Gesellschaft. Psychische Erkrankungen sind alltäglich geworden, werden aber nicht als alltägliches Problem behandelt.

Die meisten Teilnehmenden wünschen sich 1-2x im Jahr eine Fortsetzung von Eltern-Geschwister-Seminaren, jedoch mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung:

  • mehr Zeit für die getrennten Gruppen
  • Intensivierung des Austauschs in der gemeinsamen Gruppe
  • Schwerpunkt auf der Bearbeitung einzelner Theme
  • getrennte Workshops für Eltern und Geschwister – erst danach wieder ein gemeinsames
    Eltern-Geschwister-Seminar

Über die Realisierungsmöglichkeiten einer Fortsetzung  in 2020 werden sich das GeschwisterNetzwerk und der Landesverband psychisch erkrankter Menschen HH beraten. Einladungen sollen an die Teilnehmergruppe des Seminars in 2019 verschickt werden.

Förderung der Veranstaltung:
Wir bedanken uns für die Unterstützung der Veranstaltung beim AOK Bundesverband für die Selbsthilfeförderung gemäß § 20h SGB V

Seminar für Eltern und Geschwister am 27.07.2019 in Mainz

Nach 2017 lud der Angehörigenverein “Territorio” in Mainz bereits zum zweiten Mal zu einem Seminar für Eltern und Geschwister ein.

Moderation: Prof. Dr. Reinhard Peukert, Gründungsmitglied des GeschwisterNetzwerks.

Protokoll/Bericht: Prof. Dr. Reinhard Peukert und Leonore Julius

  • Wie geht es weiter, wenn wir Eltern nicht mehr sind?
  • Was dürfen wir unseren gesunden Kindern zumuten?
  • Sind Geschwister nach dem Tod der Eltern verantwortlich für ihren erkrankten Bruder/Schwester?
  • Weitere Fragen, die in der Gesprächsrunde aufgeworfen werden.

Die Teilnehmenden, darunter vier Paare und vier Geschwister, gaben sehr offen Einblick in ihre jeweiligen familiären Problemlagen, denen sie sich aufgrund der Erkrankung eines Kindes gegenüber gestellt sehen. Ganz direkt wurde angesprochen, wie beruhigend es eigentlich wäre, wenn die Geschwisterkinder ohne Umschweife die Funktionen der Eltern übernehmen würden – aber dass das aus mehreren Gründen eine unrealistische Wunschvorstellung sei. Auf den unrealistischen Wunsch folgte unmittelbar der Zweifel. Die Eltern bzw. Elternteile zweifelten, ob sie (einen Teil) ihrer Verantwortung und ihres Kümmerns an andere Kinder in der Familie aus Sorge um diese Geschwister­kinder überhaupt weiter geben sollten, oder ob sie es erfolgreich könnten, wenn sie wollten.

Die Zweifel beruhten

  • auf der bereits wahrgenommenen Distanzierung bis hin zu Abwehr der Geschwisterkinder, sich einzulassen, oder
  • auf der Überlegung, dem oder den gesunden Geschwisterkindern dies nicht aufbürden zu sollen, und zwar selbst dann, wenn sich die Geschwisterkinder zum gegenwärtigen Zeitpunkt für die oder den Erkrankten engagieren und den Eltern hilfreich zur Seite stehen.

Sehr schnell wurde deutlich: Wie üblich gibt es auch hier kein „entweder – oder“; entweder die bruchlose vollumfängliche Übernahme der elterlichen Sorge oder die vollständige Befreiung von allen nur denkbaren Unterstützungsmöglichkeiten.

Damit schälte sich als zentrale Fragestellung heraus:

  • Welchen Beitrag der Geschwisterkinder können wir Eltern vor uns moralisch rechtfertigen und im Blick auf das oder die Mitgeschwister verantworten ohne sie zu überfordern?
    Dabei geht es um den geschwisterlichen Beitrag
    • bei der Sorge,
    • den Unterstützungen
    • und den Hilfen,

die das erkrankte Kind auch noch braucht, wenn ich nicht mehr bin oder nicht mehr dazu in der Lage bin.

Die Beschäftigung mit dieser Frage ist immer begleitet von den vorausschauenden Überlegungen:

  • Wozu wäre er oder sie überhaupt bereit?
  • Weiß ich das schon, oder wie kann ich das in Erfahrung bringen?
  • Was wäre uns Eltern besonders wichtig – was sollte die Schwester oder der Bruder unbedingt übernehmen?

Noch ist es nicht so weit, die anwesenden Mütter und Väter blicken auch auf die derzeitige Situation.

  • Eine Mutter hat z.B. den Eindruck, die Tochter könnte sich zu sehr sorgen,
  • eine andere Mutter beklagt die mangelnde Bereitschaft der Tochter, sich auf den erkrankten Bruder einzulassen.

Das prägt den Blick auf die Zukunft.

Exkurs: Die Geschwisterbeziehungen

Zur Betrachtung der aktuellen Situation gehört immer auch der Blick auf die Beziehung zwischen den Geschwistern. Studien belegen: War die Geschwisterbeziehung seit der Kindheit bis zum Erkrankungsbeginn eher positiv, bestimmt dies langfristig die Beziehung zwischen erkranktem und gesundem Geschwister. Andere Studien zeigten, eine gute Beziehung zwischen den Geschwistern wirkt sich positiv auf das Wohlbefinden der oder des Erkrankten aus und hat eine gewisse präventive Wirkung.
Aus diesen Gründen spricht viel dafür, der Beziehung zwischen den Geschwistern Freiraum für die eigene Gestaltung zu geben und mit Forderungen oder Kritik am Umgang des Geschwisterkindes mit der oder dem Erkrankten zurückhaltend zu sein. Mit hoher Wahrscheinlichkeit finden die Geschwister am ehesten die für sie günstigste Geschwisterkonstellation, wenn sie dabei nicht gestört werden.
Als Regel kann gelten: Eltern haben eher geringe Möglichkeiten, auf eine positive Geschwister­beziehung hinzuwirken, wenn die Geschwister das Erwachsenenalter erreicht haben; sie können aber vermeiden, negative Aspekte in der Beziehung zu verstärken.

Häufig wird darüber gesprochen, wie belastend die Situation für die Geschwisterkinder sei. Zum Gesamtbild gehört aber auch das Folgende:

Alle ausreichend sensitiven und intensiven Interviews mit Geschwistern einer psychisch erkrankten Schwester bzw. eines Bruders zeigen immer wieder: die meisten Geschwister können neben dem höchst negativen Erleben für sich auch Positives in den Herausforderungen erkennen.
Selbst wenn beispielsweise eine Schwester unter Tränen über das schwere Leid ihres Bruders, die Hilflosigkeit der Mutter damit fertig zu werden und ihre eigenen vergeblichen Bemühungen, Hilfen für den Bruder zu organisieren berichtet – auf Nachfrage und nach kurzem Nachdenken wird auch diese Schwester positive Effekte für sich sehen: z.B. die gewachsene Fähigkeit, an offiziellen Stellen Forderungen anzumelden; eine Zunahme an Empathie, der Bereitschaft und Fähigkeit, auch komplexe Gefühle bei anderen zu erkennen und sich darauf einzulassen, die Fähigkeit, in unübersichtlichen und krisenhaften Situationen „einen klaren Kopf zu bewahren“, und anderes mehr. Alles Fähigkeiten, die Geschwisterkinder für ihre eigene Entwicklung sowohl im beruflichen als auch im privaten Kontext sehr gewinnbringend nutzen können.

Alle auf die Zukunft gerichteten Überlegungen werden überlagert und werden möglicherweise unabwendbar torpediert, wenn das erkrankte Kind jegliche Unterstützung ablehnt, worunter die Eltern leiden und womit sie fertig werden mussten. Die Geschwisterkinder sehen diese Bürde der Eltern sehr wohl und sie wird nahezu zwangsläufig in dieser oder jener Weise auf die Geschwisterkinder zukommen:
Das Band zwischen Geschwistern ist letztlich unauflösbar; selbst dann, wenn jeglicher Kontakt zusammengebrochen ist bleibt die Beziehung zur Schwester oder zum Bruder bestehen, so wie die zwischen Müttern (oft auch den Vätern) und deren Kindern.

Zwei der anwesenden Mütter müssen damit leben, dass ihre Söhne jede Hilfe radikal ablehnen und auf der Straße leben. Das ist ein schweres Los, das die Geschwister mitzutragen haben. Trauern, sich abfinden und das eigene Leben weiterleben scheint der einzig mögliche Weg zu sein – immer mit der stillen Hoffnung, dass sich im Laufe der Zeit doch noch etwas ändern könnte.

In ihren Überlegungen zu der Frage, was mal werden soll hegen die einen Eltern mit Blick auf ihre Erfahrungen mit dem erkrankten Kind stille Erwartungen an die Geschwisterkinder, andere formulieren die Erwartungen offen und ausdrücklich, und wieder andere Eltern klagen die an die Mitgeschwister gerichteten Ansprüche offen ein.

Das zuletzt genannte Verhalten, das Einklagen von Ansprüchen und Erwartungen an die Geschwister, war bei den teilnehmenden Eltern nicht zu erkennen. Dieser massiven Druck, sich um die Schwester oder den Bruder zu kümmern, ist jedoch aus Geschwistergesprächen bekannt – bis hin zu der Verankerung der Aufgaben des Mitgeschwisters im elterlichen Testament, indem das Erbe an die Auflage gebunden wird, für das erkrankte Kind Sorge zu tragen.

Mehrere teilnehmende Eltern bzw. Elternteile haben eine ‚weichere‘ Regelung getroffen; sie haben den „eigentlichen“ Erb- bzw. Vermögensanteil des erkrankten Kindes diesem entzogen und die Verwaltung dieses Anteils den gesunden Kindern übertragen, mit geringen oder umfangreicheren Auflagen; Stichwort ist hier „Behindertentestament“ bzw. eine vergleichbare Vereinbarung. Ein wesentlicher Aspekt bei diesen Arrangements war erkennbar der Wunsch, das Vermögen vor dem Zugriff Dritter und dem unbedachten Verschleudern während einer Krise des erkrankten Kindes zu schützen, um es längerfristig zur Verbesserung seiner finanziellen Ausstattung nutzbar zu machen.

Bemerkenswert ist, dass zwei Elternpaare die getroffenen Regelungen inzwischen massiv hinterfragen. Sie sehen nach der prozesshaften Auseinandersetzung mit dieser Frage

  • einerseits die Bürde, die sie dem oder den gesunden Kindern auferlegen, obgleich diese der Vereinbarung zugestimmt haben,
  • andererseits, dass sie dem erkrankten Kind einen Teil seiner Selbstbestimmung nehmen
  • und darüber hinaus hoffen sie auf eine weniger belastete Geschwisterbeziehung, wenn dieses auf einem Machtgefälle beruhende potenzielle Minenfeld ausgeräumt wird (siehe dazu auch den Abschnitt: Der Wunsch nach einer „normalen“ Beziehung zwischen allen Geschwistern).

Deutlich wurde aber auch, dass der Verzicht auf solche Regelungen nicht frei von Risiken ist und erhebliches Vertrauen in das erkrankte Kind voraussetzt.

Eine Teilnehmerin bekräftigte diese Überlegungen. Sie hat in ihrem beruflichen Umfeld erlebt, wie gut es einer Klientin tat, wenigstens für einen gewissen Zeitraum von fremder Unterstützung (in diesem Fall durch das Sozialamt) frei zu sein und ganz allein finanziell für sich sorgen zu können.

Von einer enormen moralischen Druck erzeugenden Verantwortungsübergabe hat eine anwesende Schwester berichtet. Ihr wurde vom Vater auf dem Totenbett das Versprechen abgenommen, sich um die Erkrankten zu kümmern – in diesem Falle sind es sogar mehrere erkrankte Geschwister. Die Schwester fühlt sich nicht gut dabei, hat permanent ein schlechtes Gewissen und sieht symbolisch „den Arm des Vaters aus dem Grab“. Sie hat dennoch für sich eine Lösung gefunden, die gut als Modell für alle Geschwisterkinder mit der Bereitschaft, sich später um die erkrankte Schwester bzw. den Bruder irgendwie zu kümmern, gelten kann: „Ich habe versprochen, mich zu kümmern – aber nicht auf seine Weise, sondern auf meine!“ Ihre Weise besteht darin, die „Schirmherrschaft“ über die organisierten und zu organisierenden Hilfen zu übernehmen.
Die kranken Geschwister dieser Schwester haben gesetzliche Betreuer, eine Schwester lebt im Heim. Sie kann sich kümmern, da sie den Zugang zu professioneller Hilfe organisiert hat und diese managt, sieht es aber dennoch als „schwierig bis unmöglich“ an, dauerhaft die Kontrolle zu behalten.

Es sollte nicht übersehen werden, dass Erwartungen und Wünsche der Eltern oder eines Elternteil an die gesunden Geschwister im Allgemeinen nicht so deutlich ausgesprochen werden wie in dem genannten Beispiel. Häufig kommen sie sehr subtil in unterschiedlichen Gewändern daher.

Eine fast wortgleiche Formulierung, wie sie beim ersten Seminar geäußert wurde, kam auch in diesem Seminar vor: „Meine Söhne sind immer sofort da, wenn sie gebraucht werden, um ihre Schwester und mich zu unterstützen.“ Kann diese selbstverständliche Bereitschaft der jüngeren Söhne, die möglicher­weise durch die besondere Familiensituation nach dem Tod des Vaters mitbegründet ist, genauso für die Zukunft fortgeschrieben werden, wenn sie eingespannt sein werden in ihr eigenes berufliches und familiäres Umfeld?

Eine andere Art von moralischem Druck kann entstehen bei Kindern, die sich um die Eltern sorgen, wenn sie wahrnehmen oder wahrzunehmen glauben, dass diese sich in ihrer anhaltenden Sorge für die erkrankte Schwester oder den Bruder überfordern. Sie sehen sich zur Übernahme von Verantwortung veranlasst, um die Eltern zu entlasten.

Bei einem Elternpaar klang dies an; der Sohn, der zunächst ebenfalls seine Schwester unterstützt hatte, äußerte diese Sorge um die Eltern. Derzeit ist das Empfinden der Eltern, dass er sich sowohl gegenüber der Schwester als auch gegenüber den Eltern abschottet – eine mögliche Reaktion auf das Gefühl, die Eltern nicht schützen zu können.

Ein Beispiel dafür, dass moralischer Druck auf die Geschwisterkinder noch von einer dritten Seite entstehen kann, lieferte eine andere Mutter. Ihre beiden Töchter wurden von ihrem wesentlich jüngeren erkrankten Halbbruder ganz offensiv aufgefordert, ihn zu unterstützen. Eine der Töchter lehnte dieses Ansinnen ab, die andere erklärte sich dazu bereit.

Wir sehen an diesen Beispielen: Wir haben es mit erspürten moralischen Selbstverpflichtungen der Geschwisterkinder und mit den aus familiären Normen abgeleiteten moralischen Ansprüchen den Geschwisterkindern gegenüber zu tun, und nicht mit rechtlich kodifizierten Verpflichtungen zu Verantwortlichkeiten. In unserem Kulturkreis haben die Geschwisterkinder weder eine rechtliche noch eine finanzielle Verpflichtung, wenn die Schwester oder der Bruder nicht selbst für sich sorgen kann. Diese gilt nur in direkter Linie (Großeltern, Eltern, Kinder und umgekehrt), subsidiär tritt das Sozialsystem ein, wenn keine Verwandten in direkter Linie vorhanden oder diese nicht leistungsfähig sind.
Dessen ungeachtet sind die normativ bzw. moralisch geprägten Erwartungen gewichtig und wirken auf das Miteinander in der Familie.

Immer dann, wenn sich herausstellt, wie weit die eigenen Wünsche und Vorstellungen von dem realen Handeln anderer Familienmitglieder abweichen, kommt es vorhersehbar zu Schuldvorwürfen.

Bei dem Treffen war eine Mutter sehr unzufrieden mit der „uneinsichtigen“ Tochter und beklagte deren mangelnde Bereitschaft, sich auf den erkrankten Bruder einzulassen. Die Mutter berichtet zudem von der Wut der Tochter auf den Bruder und die Mutter. Diese Wut von Geschwisterkindern tritt in der Regel dann auf, wenn sie ein enges Band zwischen den Eltern (oder einem Elternteil) und der oder dem Erkrankten erleben – bei gleichzeitigem Ausschluss aus dieser Beziehung.

Eine Teilnehmerin machte deutlich, dass solche Wut über die betroffene Familie hinaus ausstrahlen kann. Sie sorgt sich um Tochter und Schwiegersohn, der nach der Erkrankung des Bruders außerhalb der Kernfamilie aufwachsen musste und wütend auf die Eltern und den Bruder ist; auf die Eltern, weil er sich als zu kurz gekommen empfindet und auf den Bruder, dem er vorwirft, durch sein Verhalten seine Erkrankung selbst verschuldet zu haben.

In Berichten von Geschwisterkindern wird das Phänomen des „Übersehen-Werdens“ häufig benannt; auch andere Teilnehmende kennen Beschwerden über zu wenig Zuwendung. Eine Teilnehmerin berichtet dies von ihrem Neffen, der sich bereits in jungen Jahren an der Betreuung der erkrankten Schwester intensiv beteiligte und dem aus ihrer Sicht zu viel zugemutet wurde; er beschwerte sich bei ihr, der Tante über zu wenig Zuwendung, äußerte dies aber nicht gegenüber seinen Eltern. „Alles ging an das arme Kind, der Bruder blieb auf der Strecke.“

Eine Mutter berichtete, dass ihre Tochter über viele Jahre hinweg nie geäußert habe, was sie als so schlimm empfunden habe: die schweren Verhaltensauffälligkeiten und Lebensumstände des kranken Bruders, aber auch bestimmte Verhaltensweisen der Eltern.

Eine gerechte Verteilung der Aufmerksamkeit auf alle Kinder ist schwer, aber unbedingt erforderlich. Zu Beginn der Erkrankung ist dies zumeist kaum möglich, aber wenn diese unausgewogene Situation anhält wird es voraussichtlich kaum möglich sein, später irgendwelche Aufgaben an dieses Geschwisterkind zu übergeben.

Wenn deutlich hervortretende, lang andauernde Ungleichheiten in der Aufmerksamkeit für und im Verhalten gegenüber den Kindern für die Geschwister erkennbar und bedeutsam werden, dann beginnt sich in der Regel ein Gefühl der Zurücksetzung, des Übersehen-Werdens auszubilden. Können diese Kinder sich das unterschiedliche Verhalten der Eltern – zumeist der Mutter – plausibel erklären, ist es für sie meist akzeptabel. Allerdings dürfte eine sehr lange andauernde Ungleichbehandlung schwerlich plausibel zu machen sein.

Benannt werden muss im Kontext dieses Abschnitts auch die Eifersucht, die von mehreren Teilnehmen­den erwähnt aber nicht weiter diskutiert wurde und in unterschiedliche Richtungen wirkt. Dieses aus den meisten Geschwisterbeziehungen bekannte Gefühl kann bei entsprechender Ausprägung zusätzlich hinderlich sein bei der Lösungssuche „für später“.

Was zwischen den Familienmitgliedern gilt, gilt auch in Richtung auf das professionelle Hilfesystem. ‚Funktioniert es nicht wunschgemäß‘, bleiben Schuldzuschreibungen nicht aus, wird Ärger und Wut erlebt. Wird jedoch auf professionelle Hilfe verzichtet, bleibt alles an den Familienmitgliedern oder einem von ihnen hängen.

Es gibt Geschwisterkinder, die ihr zentrales Problem in der ungeteilten Sorge der Mutter um das erkrankte Kind sehen, wobei die beiden – nach den Worten der Geschwister – eine Symbiose bilden, aus der alle anderen herausgehalten werden. Diese Geschwister treibt die Frage, wie es mal ohne die Mutter weiter gehen soll, in tiefe Verzweiflung.

Bei dem Treffen kam dieses Extrem bei einer Teilnehmerin zur Sprache. Ihr war viele Jahre lang nicht einmal das Ausmaß der Erkrankung und der Hilfsbedürftigkeit ihrer jüngeren Schwester bekannt, „ich kam nie an die Schwester ran“. Beherrscht wurde die Lage vom großen Schweigen. Erst nach dem Tod der Mutter, der bei der Schwester eine Krise zur Folge hatte, sah sie sich in der Rolle, weitgehend unvorbereitet „das Management“ übernehmen zu müssen.

Bei fast allen Schilderungen der aktuellen familiären Situation als Ausgangspunkt für die Gestaltung der Zukunft spielte das professionelle Hilfesystem eine wesentliche oder sogar entscheidende Rolle.

Dauerhaft stabile und voll zufriedenstellende Beziehungen zum professionellen Hilfesystem sind eher die Ausnahme, nicht die Regel. Im Verlauf der länger andauernden Erkrankungen ihrer Familienmit­glieder haben alle Anwesenden Zugang zum Hilfesystem gefunden, wobei sie alle mindestens „ein Auge darauf haben müssen“ und immer wieder versuchen, im Interesse des erkrankten Kindes bzw. Geschwisters nachzujustieren.

Die vielen mehr oder weniger kostspieligen und/oder aufopfernden Versuche, durch gesetzliche Regelungen, durch Hierarchisierung von Verantwortlichkeiten, durch wohldurchdachte Modelle, durch regionale Absprachen etc. Ordnung und eine möglichst störungsfreie Funktionalität in die Unüber­sichtlichkeit von vermeintlicher oder tatsächlicher Verantwortung zu bringen sind Legion.

Im Falle einer psychischen Erkrankung werden sowohl die Familienmitglieder als auch das Versorgungssystem vor die Notwendigkeit gestellt,

  • sich um die Erkrankten sowie ihre Belange allumfassend zu kümmern,
  • in unterschiedlichen Bereichen je nach Bedarf zu unterstützen und
  • gezielte Hilfen selbst anzubieten oder zu organisieren.

Wir müssen erkennen, dass neben den innerfamiliären Dynamiken die Verfügbarkeit und Qualität der gewünschten und/oder erforderlichen Angebote des Hilfesystems ein ganz wesentlicher und kaum beeinflussbarer Parameter in der Vorsorgeplanung ist und genauso wie der Hilfebedarf der Erkrankten und die Leistungsfähigkeit der Familienmitglieder ständigen Veränderungen unterliegt.

Bei fehlenden oder nicht passenden Angeboten des Versorgungssystems bleibt den hilfesuchenden Familien nur die Möglichkeit, sich an die regionalen Anbieter oder die überregionalen Träger der Hilfsangebote zu wenden, um eine besser passende Hilfeleistung zu erreichen. Das setzt neben Durchsetzungsvermögen auch eine gewisse Kenntnis des Hilfesystems, seiner Angebotsvielfalt und seiner Strukturen voraus. In solchen Fällen kann die Beratung und ggf. die unmittelbare Unterstützung einer Selbsthilfeorganisation der Angehörigen, sprich: eines Landesverbandes, eine große Hilfe sein. Über die Verbesserung der Hilfen im Einzelfall hinaus setzen sich die Landesverbände für eine generelle Weiterentwicklung des Versorgungssystems ein, wenn Angebote nicht oder nicht in der erforderlichen Ausprägung zur Verfügung stehen – mit im Einzelfall weitreichenden Konsequenzen.

Welche Entlastung ein passendes Angebot des Versorgungssystems bedeuten kann, betonte eine Mutter: seit der Heimunterbringung ihres Sohnes sei „alles soweit geregelt.“

Der bisher berichtete Gesamteindruck beruht auf sehr detaillierten Situationsberichten, in denen viel über die eigene Familie und die Familienmitglieder sowie die bisherigen Erfahrungen mit dem Hilfesystem offenbart wurde – um auf diesem Hintergrund zu überlegen, wie es weiter gehen könnte.

Mit Blick auf alle Schilderungen und die sich anschließenden Diskussionen schält sich ein Bild der „Gesamtgemengelage“ heraus, dessen Kern die Wünsche, die Erwartungen und/oder die Ansprüche der jeweiligen Personen sind, die diese gegenüber den jeweils anderen Personen bzw. Institutionen unausgesprochen hegen oder ausdrücklich formulieren. Die „jeweils anderen Personen“ sind diejenigen, die in unterschiedlicher Weise an der Sorge, der Unterstützung und/oder Hilfeerbringung für das erkrankte Kind beteiligt sind oder beteiligt sein könnten.

Häufig drohen die Wünsche, Erwartungen oder Ansprüche zu scheitern, teilweise wurde ein Scheitern bereits erlebt. Die berichteten Probleme bilden eine Konfrontationslinie, wo Wünsche, Erwartungen und Ansprüche auf der einen Seite mit der generellen Bereitschaft, dem Ausmaß der Engagements, der unterschiedlich wahrgenommenen Machbarkeit im Alltag und dem ebenfalls unterschiedlich wahrgenommenen Unterstützungsbedarf auf der anderen Seite kollidieren.

Die Basis der beschriebenen Probleme, der potentiellen Lösungsmöglichkeiten sowie von unlösbar erscheinenden Dilemmata ist in der Regel nicht die Schwere der Erkrankung selbst, auch nicht die häufig als Erklärung genutzte fehlende „Krankheitseinsicht“, wobei selbstredend die Schwere der Erkrankung bzw. der Symptomatik zusätzlich ins Gewicht fällt. Die Basis sind vielmehr die von jedem einzelnen Beteiligten in der Familie an alle weiteren involvierten Familienmitglieder sowie das Hilfesystem gerichteten Erwartungen, die aus den bisherigen ganz persönlichen positiven und negativen Erfahrungen und Strategien entstanden sind und einer dynamischen Entwicklung unterliegen.

Mit anderen Worten: Es sind sehr individuelle Prozesse, die sehr individuelle Problemlagen sowie Lösungen einschließen. Gleichwohl treten (auch) große Ähnlichkeiten bei den Problemen, den bedeutsamen Themen und den potentiellen Lösungen in den Blick.

Es darf davon ausgegangen werden, dass die beteiligten Familienmitglieder sowie das Hilfesystem jeweils sehr unterschiedliche Anteile von den beschriebenen Notwendigkeiten übernehmen können, dabei eine unterschiedliche Bereitschaft zeigen, dies zu tun und dass alle Beteiligten dazu jeweils eigene Erwartungen an die anderen Mitspieler in diesem Interaktionsfeld haben. In einem solchen Feld sind Probleme und Konflikte nicht singuläre Ereignisse, sondern die Regel.

Die Erwartungen haben zwei Richtungen:

  • Es geht es immer darum, was von den anderen gewünscht, erwartet oder gefordert wird
  • und es geht darum, was man selbst bereit ist den jeweils anderen zu geben, nicht nur dem erkrankten Kind bzw. der erkrankten Schwester oder dem erkrankten Bruder.
  • Somit geht es immer auch um die Frage, in wie weit man bereit ist,
    • den Wünschen, Vorstellungen oder Forderungen der jeweils anderen zu folgen,
    • sich diesen zu beugen oder
    • diesen zu widerstehen.

Am Ende einer ganztägigen intensiven Beschäftigung mit den Fragen, die um die Kernfrage ‚was wird, wenn wir mal nicht mehr sind‘ kreisten, stand eine Erkenntnis unwidersprochen im Raum:

  • An dem Versuch, sich mit allen Beteiligten auf deren Anteile an Sorge, Unterstützung und direkter Hilfeerbringung zu verständigen führt kein Weg vorbei. Diese Klärung sollte so früh als möglich beginnen, denn es ist voraussichtlich ein längerer und häufig konfliktreicher Prozess.

Diesem am Ende unwidersprochenen Ergebnis stand für viele der Teilnehmenden die Frage gegenüber:

  • Wäre es nicht besser, die Geschwisterkinder so lange als möglich raus zu halten, sie nicht zu belasten?

Diese Skrupel sind gut nachvollziehbar und der Sorge um diese Kinder geschuldet. Allerdings sind die Geschwisterkinder (unabhängig von ihrem jeweiligen Alter!) so oder so involviert, sie erleben und fühlen auf unterschiedliche Weise mit, selbst wenn sie schon ausgezogen sind. Sie sind sogar dann noch psychisch beteiligt, wenn der Kontakt zu allen (!) Familienmitgliedern abgebrochen wurde; dies wissen wir aus Interviews mit Geschwisterkindern.

Das führt zu folgenden Thesen:

  • Ein gemeinsamer Versuch, eine Klärung herbeizuführen oder damit zu beginnen hat eher eine entlastende Funktion.
  • Sorgen, Vermutungen, Ängste weichen den real zu bewältigenden Problemen.
  • Falls sich Geschwisterkinder in der ersten Zeit der Erkrankung zurückgesetzt sahen, weil die Eltern (bzw. ein Elternteil) voll und ganz von den Herausforderungen in Anspruch genommen worden war, birgt der Beginn gemeinsamer Zukunftsplanungen die Chance, die damit verbundenen negativen Gefühle aufzulösen. Dies setzt natürlich die unbedingte Berücksichtigung der Empfindungen, Erfahrungen und Bedürfnisse der Geschwisterkinder voraus.
  • Mit der Aufnahme des Gesprächs über die Zukunft kommt man an der Betrachtung und Bewertung der Vergangenheit nicht vorbei. Das sollte auch auf keinen Fall versucht werden, denn sonst wirft sie einen unaufgeklärten Schatten in die Zukunft.

Gelegentlich kommt es bei den Gesprächen zu überraschenden Effekten. Ein Elternpaar hatte nach dem vorangegangenen ersten Seminar in Mainz die Befürchtung, ihre beiden Geschwisterkinder könnten sich zurückgesetzt fühlen. Als sie sie darauf ansprachen konnten sie erfreut feststellen: Dieses für viele Geschwisterkinder typische Erleben teilten die Schwestern nicht.

Spätestens mit Beginn des Prozesses wird deutlich: Ein Familienmitglied hat die Aufgabe der primären Bezugsperson übernommen, wozu u.a. gehört, den Gesamtüberblick zu haben. Dieses Familienmitglied sieht sich in einer Gesamtverantwortung, es hat, wie ein Teilnehmer es formulierte, „das Sagen“, eine Teilnehmerin nannte das „die Schirmherrschaft“. Eine schwierige Rolle, denn vieles funktioniert nicht so wie gewünscht, also gehört auch das Management des Mangels zu den Rollenaufgaben und die Suche nach praktikablen Lösungen.

In der Regel fällt diese Rolle den Müttern zu. Bei dem Treffen sahen wir aber auch Paare, die dies gemeinsam stemmen und einen Bruder, der diese Rolle innehat: er mache die Ansage, wo es lang geht – die Eltern seien die moderaten Kümmerer. Diese besondere Situation gründet sicher auch im späten Krankheitsbeginn der Schwester lange nach ihrer Jugendzeit, Bruder und Schwester sind zu diesem Zeitpunkt bereits jenseits der 30.

Mit Beginn des Prozesses prallen auch die unterschiedlichen Einschätzungen vom Hilfe- und Unterstützungsbedarf des erkrankten Kindes aufeinander. Dies ist wegen der verschiedenen, teils generationsbedingten Blickwinkel und der unterschiedlichen Erfahrungen nahezu unvermeidlich.

Eine jüngere Schwester vertrat eine nahezu fatalistische Position; sie glaube, die Eltern machten sich viel zu viele Gedanken, „es käme eben, wie es käme, ob man sich Sorgen mache oder nicht“ und setzte hinzu „man gewöhnt sich dran“.

Eine teilnehmende Mutter dagegen ist fest davon überzeugt, das erkrankte Kind könne unmöglich für sich sorgen und müsse familiär unterstützt werden, während ihre Tochter der Meinung ist, der Bruder habe „keine ernsthafte Therapie-Absicht“ und bringt damit zum Ausdruck, der Bruder würde seinen Beitrag zur Lösung des Problems verweigern. In solchen Situationen werden die Schwierigkeiten auf dem Weg zu einer gemeinsamen Einschätzung überdeutlich.

Das Beispiel zeigt aber auch:

  • Man darf das, was die erkrankte Tochter bzw. der erkrankte Sohn über sich selbst denkt, was sie oder er bereit ist für das eigene Wohlergehen aktiv zu tun und ihre oder seine Ansprüche auf Selbstbestimmung und Selbständigkeit auf keinen Fall aus dem Blick verlieren! Sonst wird womöglich „die Rechnung ohne den Wirt gemacht“.

Beginnt das Gespräch darüber, was mal sein wird zunächst zwischen Eltern und Geschwisterkindern – früher oder später muss die- oder derjenige, um deren bzw. dessen Zukunft verhandelt wird, mit beteiligt werden. Dies gilt auch, wenn sie oder er sich zunächst weigern sollte oder wenn der Eindruck vorliegt, sie oder er könne die Situation ohnehin nicht überschauen.
Wie gesagt: Die Rechnung kann nicht ohne den Wirt gemacht werden.

Dass das intensive Bemühen um die für alle Beteiligten bestmögliche Regelung zu einer Veränderung der Sichtweise, ja regelrecht zu einer Kehrtwende führen kann, daran ließ uns eine Mutter teilhaben. Sie hatte lange gemeint, ihre Tochter solle einmal ihre Rolle übernehmen mit allen damit verbundenen Verpflichtungen gegenüber ihrer erkrankten Schwester. Inzwischen ist sie sich sicher:
Die angemessenste Rolle der Tochter sei die übliche Schwesternrolle, so wie bei anderen Schwestern auch – angemessen für beide Schwestern.

Die Vorstellung einer zukünftig durch die Erkrankung möglichst wenig belasteten Beziehung zwischen allen Geschwistern wurde nicht nur von dieser Mutter explizit formuliert, sondern war ganz offenkundig auch ein Leitgedanke im Kontext der oben ausgeführten Vermögensregelungen.

Es wurde nicht mehr diskutiert, dass dieser Leitgedanke nur dann eine Option sein kann, wenn die Beziehung zwischen den Geschwistern eine im Grunde positive ist und nicht bereits zerrüttet und von Vorwürfen und Schuldzuweisungen geprägt.

Es wurde auch nicht mehr diskutiert, dass die erkrankte Schwester oder der erkrankte Bruder aufgrund der Erkrankung und dem daraus resultierenden Unterstützungsbedarf eine besondere Schwester, ein besonderer Bruder ist und bleibt, und dass daher selbst eine eindeutige Geschwisterrolle zwingend anders ist als dies üblicherweise der Fall ist.

Die Schwester, der Bruder ist krank, und sie oder er ist hoffentlich in angemessene Hilfestrukturen integriert. Dann werden sich die Geschwister ‚geschwisterlich‘ mit der Erkrankung und deren Folgen beschäftigen können – als Schwester oder Bruder, unter Gleichen. Solange sie dem erkrankten Geschwister bei der Bewältigung überschaubarer Alltagsanforderungen beistehen bleiben sie in dem „geschwisterlichen Rahmen“, in dem ansonsten vorrangig mehr oder weniger häufige gemeinsame soziale Aktivitäten stehen: sich sporadisch treffen zu einem Spaziergang oder in einem Kaffee, hin und wieder gemeinsam eine Veranstaltung besuchen. Dieser Rahmen würde dann verlassen, wenn Geschwister begännen, sich in guter Absicht in die alltäglichen Verrichtungen ihrer erkrankten Schwester, ihres erkrankten Bruders einzumischen, mit liebevollem Druck bestimmte Hilfen schmack­haft zu machen, sich dazu veranlasst sähen, z.B. die Medikamenten-Einnahme zu überwachen.

Bleiben wir bei der Schwester und der ihr zugedachten Rolle in unserem Beispiel. Sie kann sich auch in dieser Rolle nicht davon frei machen zu reagieren, wenn etwas bei den organisierten Hilfen schief läuft. Und dann kommt wieder das Besondere der Geschwisterrolle bei einer psychischen Erkrankung ins Spiel. Wenn sie es einfach laufen lässt fühlt sie sich schlecht; wenn sie steuernd eingreift, verlässt sie die auf Gleichheit beruhende Schwesternrolle und gefährdet die positiv-unterstützenden Aspekte dieser Rolle (siehe auch Exkurs: Geschwisterbeziehungen).
Also raten wir ihr, so etwas wie die „Schirmherrschaft“ zu übernehmen, mit abgeschwächtem Herrschaftsanteil, so etwas wie die Sorge für eine ausreichende Beschirmung der Schwester, quasi die Rolle des Schirmes über den Schirmen. Sie wird sich also bemühen (müssen), dafür zu sorgen, dass die Hilfen Dritter angemessen erbracht werden, die Schirme gespannt und ausreichend dicht sind. Eine Teilnehmerin nannte das „die advokatorische Funktion“.

Kommt das Gespräch in einer konstruktiven Atmosphäre zustande, wissen wir aufgrund unseres Blicks auf die „Gesamtgemengelage“ Folgendes:

  • Am Anfang steht die Analyse der Ist-Situation mit dem oben angesprochenen Blick zurück, bei dem die bisherigen Erfahrungen und Umgangsweisen thematisiert werden.
  • Bei dem Seminar wurde das mit den Berichten der Anwesenden aus ihrer jeweiligen Sicht geleistet; in dem Familiengespräch ist es etwas komplizierter: Jedes Familienmitglied muss seine Sicht der Dinge auf den Tisch legen, damit alle zusammen ein Gesamtbild erhalten.
  • Danach kommt es darauf an, die Erfordernisse der Zukunft festzustellen, d.h. die voraussichtlichen Bedarfe an übergreifender Sorge, an Unterstützung und an konkreten Hilfeleistungen. Dies kann gelingen, indem dies aus der aktuellen Situation herausgelesen und aufgelistet wird, je konkreter umso besser.
  • In einem dritten Schritt gilt es auszuloten, wer davon was übernehmen könnte, und dabei sollte das professionelle Hilfesystem eine bedeutende Rolle spielen gemäß dem Motto: Was andere leisten können, muss ich nicht machen. Das gibt mir die Möglichkeit, dasjenige mit Ruhe und ausreichen­dem Zeitbudget zu machen, was sinnvollerweise nur ich machen kann und sollte.
    Sofern eine rechtliche Betreuung besteht oder notwendig werden könnte, erfordert die Frage, ob diese selbst übernommen werden soll spezielle Überlegungen; siehe dazu den Hinweis im Anhang.

Hier sei an die oben ausgeführten Aussagen zweier Mütter und einer Schwester erinnert, bei denen die erforderlichen Unterstützungen und Hilfen durch das professionelle Hilfesystem befriedigend erbracht werden und sie sich darum darauf beschränken können, dies „zu überwachen“.

In der Regel werden es die primären Bezugspersonen sein, also die Mutter oder beide Eltern, die bereits vor dem Gespräch viele Überlegungen anstellen. Dass bereits bei diesen vorauslaufenden Überlegungen ‚Bewegung‘ entstehen kann, wurde bereits weiter oben ausgeführt. Es spricht nichts gegen die Annahme, dass dies für alle Beteiligten gelten kann.

Ob es in den Familien gelingt, im Laufe der Zeit die Herausforderungen bei der Klärung der künftigen Rollen, Aufgaben und Bereitschaften zu meistern, ist zu Beginn des Prozesses offen. Es ist für die Eltern sicher sinnvoll, sich die Offenheit des Ergebnisses vor Augen zu führen und nicht zu versuchen, mit vielen Vorschlägen oder gar mit Druck ein Ergebnis in ihrem Sinn herbei zu führen. Allen Beteiligten verlangt es einiges ab, ihren Beitrag am Gesamtgeschehen zu erkennen, der sinnvoll und leistbar erscheint und sich in einem zweiten Schritt auch noch zu dessen Übernahme bereit zu erklären. Keinen Druck auf die Geschwisterkinder auszuüben, sie statt dessen „kommen lassen“ wurde bei dem Treffen als eine sinnvolle Strategie angesehen.

Bei dem Seminar wurden konkrete Aspekte angesprochen, die jedoch nicht Thema waren. Dennoch hier einige Hinweise dazu:

Die Rolle „gesetzlicher Betreuer“ und die Frage, ob man diese als Familienmitglied übernehmen sollte:

Hierzu hat der LV Bayern der Angehörigen einen Selbstprüfungs-Katalog entwickelt und in diesem Jahr überarbeitet. Der Katalog enthält wichtige Fragen, die sich jede/r vor einer Entscheidung für oder wider stellen sollte. Zu finden unter http://www.lvbayern-apk.de/index.html.

Im Seminar wurde diese Frage kontrovers diskutiert; während es einer Schwester notwendig und selbstverständlich erschien, die rechtliche Betreuung an Stelle des bisherigen Betreuers zu über­nehmen, warnte eine andere Schwester, dies nur zu tun, „wenn Sie Ihr Leben aufgeben wollen“.
Wichtig erscheint uns zum Einen, vor einer Entscheidung für oder gegen die Übernahme dieser Funktion die Motivation sehr kritisch zu prüfen. Zugespitzter als im bayerischen Katalog formuliert: Geht es um Entlastung, die Auslagerung von konfliktträchtigen Aufgaben oder geht es um ein „Durchgriffsrecht“ gegenüber der oder dem Erkrankten?
Zum Anderen weisen wir aber auch darauf hin, dass Angehörige häufig viel zu hohe Erwartungen mit dem Tätigwerden eines Berufsbetreuers verbinden. Ein Grund dafür liegt darin, dass die Aufgaben­bereiche eines gesetzlichen Betreuers eng begrenzt sind auf rechtliche Fragen und keinesfalls eine Art von „sozialer Betreuung“ beinhalten, was sich auch im Zeitbudget ausdrückt, das einem Betreuer für jeden Betreuten zugestanden wird. Ein anderer Grund liegt darin, dass die Qualifikation, das Engagement und das Selbstverständnis der Berufsbetreuer (z.B. im Hinblick auf eine Zusammen­arbeit mit Angehörigen) sehr, sehr unterschiedlich sind. So ist es trotz jahrelanger Bemühungen der Berufsverbände bis heute möglich, dass jeder unbescholtene Bürger ohne expliziten Qualifikations­nachweis Betreuer werden kann.
Dennoch: Gelingt es, einen qualifizierten, engagierten und kooperativen Betreuer resp. Betreuerin zu finden, kann dies eine erhebliche Entlastung bedeuten; dies berichten Angehörige immer wieder.

Fragen, die bei der Vererbung oder Überschreibung des familiären Vermögens auftauchen:

Ein Hinweis auf das sog. „Behindertentestament“ findet sich im Text. Eine bedeutsame Problematik, die damit verbunden sein kann, wurde ebenfalls dort ausgeführt; wir haben weitere Vorbehalte. Dessen ungeachtet kann ein derartiges Testament im Einzelfall sinnvoll sein.
Aus den Erfahrungen von anderen Familien empfehlen wir dringend, sich mit den eigenen Wün­schen, den Möglichkeiten und Grenzen einer solchen Testamentsgestaltung intensiv auseinander­zusetzen, bevor man „zur Tat schreitet“.
Ebenfalls aus der Erfahrung anderer Familien: Paare sollten nicht übersehen, bei einer Regelung zunächst sich selbst gegenseitig abzusichern, bevor es zum Vermögensübergang auf das oder die Kinder kommt. Die häufige Annahme, dafür reiche ein sog. „Berliner Testament“ aus, ist in der Regel nicht zutreffend.

Fragen zur „Vererbung“ von psychischen Erkrankungen:

Bei dem Seminar wurde diese Frage von einer Schwester angesprochen, wir wissen aber, dass sie sehr viele Geschwister und sicher auch viele Eltern umtreibt. Daher folgender Hinweis:
Das GeschwisterNetzwerk wird demnächst eine sehr umfangreiche Monographie veröffentlichen. Darin enthalten ist ein ausführlicher Diskurs zur Genetik und Epigenetik, der den derzeitigen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse abbildet. Wer interessiert ist, kann sich über unsere Website www.geschwisternetzwerk.de gerne für unseren Newsletter einschreiben; dort werden wir über die Veröffentlichung informieren.

Geschwistertreffen am 10.11.2018 in Kassel

Reinhard Peukert berichtet vom ersten Netzwerktreffen der Geschwister psychisch erkrankter Menschen

Der Bericht ist erschienen in der Psychosozialen Umschau 1/2019.

15 Jahre nach dem ersten bundesweiten Treffen von Geschwistern psychisch erkrankter Menschen (PSU 4/2003) hatte das voranderthalb Jahren gegründete GeschwisterNetzwerk (PSU 3/2017) zu einem Treffen nach Kassel eingeladen: Am 10. November kamen 32 Geschwisterkinder aus allen Teilen Deutschlands und aus fast allen Altersgruppen: vom Baby bis zum Rentner. Aufgrund dieser Altersspreizung bot es sich geradezu an, die deutlich ausgeprägten altersphasentypischen Anforderungen und Belastungen zu besprechen.

Es gab aber noch andere Beweggründe, nach Kassel zu fahren, sie wurden in einer Vorstellungsrunde benannt: der Wunsch nach Austausch mit Personen in der gleichen Situation, die erlebte Hilflosigkeit verbunden mit der Ambivalenz von Trauer und Zorn, die bedrängende Angst vor der Zukunft, wenn die Eltern versterben und sie selbst in eine diffuse, nicht vorhersehbare Verantwortung eintreten. Außerdem motivierte der schlechte Kontakt zum Hilfesystem, der erfahrene Mangel an Informationen über Hilfeeinrichtungen und die mit Psychiatrie verbundenen juristischen Fragen zur Teilnahme.

Themen von Schwestern und Brüdern

Manche der Geschwister sind schon länger Mitglieder einer Angehörigengruppe, merkten aber sehr schnell, dass sie noch andere Themen hatten. Jedes Geschwisterkind hat den Unterschied des eigenen Erlebens zu dem der Eltern erfahren. Es kommt nahezu regelhaft zu Spannungen zwischen erwachsenen Geschwistern und den Eltern, wenn sich die Familie nicht rechtzeitig auf die sich wandelnden Verantwortlichkeiten vorbereiten kann oder will, aber es ist aufgrund des Älterwerdens der bis dahin sorgenden Eltern unvermeidbar sich zu fragen, wer nach dem Tod der Eltern für das kranke Familienmitglied da ist. Für den Prozess dieses Rollenwechsels hat sich einmal mehr eine Geschlechterdifferenz gezeigt: Schwestern werden wohl mehr in die Pflicht genommen als Brüder – und sind auch wohl eher bereit, die Verantwortung zu übernehmen.
Viel Raum nahmen die Versuche ein, die eigenen Gefühle zu ordnen und mit ihnen besser zurecht zu kommen, denn die Situation von Geschwisterkindern ist grundsätzlich immer ambivalent. So ist z.B. die Gleichzeitigkeit von Wut und Ärger über das, was die Erkrankung in der Familie auslöst fast immer gepaart mit tiefer Zuneigung zum erkrankten Geschwister und zugleich mit der geradezu selbstverleugnenden Bereitschaft, den Eltern mit den eigenen Bedürfnissen und Anliegen nicht noch weitere Sorge bereiten zu wollen.

Geschwisterkinder werden von den Eltern nicht bewusst vernachlässigt, wie man hier und da lesen kann: Sie nehmen die Rolle des gesunden, starken, problemlosen Kindes aktiv an,  was aber im Laufe der Jahre zu psychischen Problemen führen kann. Gleichzeitig wurde auch in Kassel wieder deutlich: Viele Geschwisterkinder erwerben aufgrund ihrer besonderen Lebenssituation psycho-soziale Kompetenzen, die sie therapeutische und soziale Berufe wählen lässt.
Einige Geschwister berichteten von ihrer Angst, selbst zu erkranken bzw. das Erkrankungsrisiko an eigene Kinder zu vererben. Bei manchen hat es zur Entscheidung geführt, kinderlos zu bleiben. Hier sehen wir einen Beratungsbedarf, den das GeschwisterNetzwerk bedienen kann. Geschwister teilen aber auch viele Themen anderer Angehöriger. Sie müssen sich wie alle Angehörigen gegen Stigmatisierungen wehren, ein weiteres Thema beim Treffen.
Natürlich beschäftigen sich Geschwister mit der Situation ihrer erkrankten Schwester bzw. ihres Bruders in den Hilfesystemen. Viele von ihnen sind mit dem, was sie beobachten müssen, nicht einverstanden und wollen sich für »eine andere Psychiatrie« einsetzen bzw. sie haben sich  bereits zusammen mit Professionellen und weiteren Angehörigen auf den Weg gemacht.

Der nächste Schritt: regionale Vernetzung

Es blieb auch noch Zeit, um über die bisherigen Erfahrungen sowie die Zukunft des GeschwisterNetzwerkes und des eingerichteten Forums zu diskutieren. Dabei wurde deutlich: Ein öffentliches, für Jedermann und Jederfrau zugängliches Forum hat seinen Sinn, aber es löst zugleich Hemmungen aus, sich dort mit der Breite an Erfahrungen und Erlebnissen zu präsentieren, wie es in einem geschlossenen Forum möglich wäre; dies hatte einige derTeilnehmenden an Diskussionsbeiträgen im Forum gehindert.
Sich in einer Geschwistergruppe ohne Nicht-Geschwister auszutauschen wurde von allen Anwesenden als höchst wertvoll erlebt und bekräftigt die bereits bestehenden Bemühungen, regionale Geschwistergruppen zu initiieren. Für Kassel ist das mit dem Treffen gelungen!
Über regionale Gruppen sowie das Forum hinaus soll es weiterhin überregionale Geschwistertreffen für alle diejenigen geben, für die es in ihrer Region bisher zu keiner Gruppenbildung gekommen ist. 11 der Teilnehmenden sind Mitglieder in einem Landesverband der Angehörigen, und bis auf eine Ausnahme wurde deren Teilnahme von ihrem Verband begrüßt und gefördert, denn viele Eltern in den Landesverbänden kommen langsam in ein Alter, in dem sie nicht umhin können, Aufgaben an die Geschwisterkinder abgeben zu müssen.
Der Landesverband Hamburg nimmt diese Herausforderung an und wird im kommenden Jahr ein Eltern-Geschwister-Seminar in Kooperation mit dem GeschwisterNetzwerk durchführen.

Nach dem Treffen hat eine Teilnehmerin ihre Eindrücke unter dem Titel  „Geschwister der anderen Art“ niedergeschrieben und uns zugesandt. Danke dafür.

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Dank intensiver Pressearbeit im Vorfeld des Geschwistertreffens in Kassel erschienen in zahlreichen regionalen und überregionalen Medien Berichte und Interviews, teils in Rubriken, die nicht (kosten-) frei zugänglich sind. Hier eine Auswahl der frei zugänglichen Berichte:

Überregionale Presse

Regionale Presse

Fachpresse

Andere Medien

Geschwister nehmen das Leben als Schwester oder Bruder eines psychisch erkrankten Menschen in die eigenen Hände:

Reflektieren, Gruppen aufbauen, Netzwerke bilden, Online-Austausch fördern

Der Selbsthilfetag zum Thema „Arbeit und Psyche“ am 05.11.2018 in Berlin wurde gemeinschaftlich von der Aktion Psychisch Kranke e.V. mit Bundesnetzwerk Selbsthilfe seelische Gesundheit (NetzG), Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen (BApK), Geschwisternetzwerk, Deutsche DepressionsLiga (DDL) und Experienced-Involvement (EX-IN) Deutschland ausgerichtet und richtete sich an Menschen, die eigene Erfahrungen mit psychischen Erkrankungen und/oder dem psychiatrischen Hilfesystem haben, an Angehörige und an Profis.

„Aktive Geschwister“ lautete der Titel des Workshops, den das GeschwisterNetzwerk anbot. Die Impulsreferate mit ganz verschiedenen Themen und ein sehr heterogener Teilnehmerkreis waren ausschlaggebend für eine sehr lebendige Diskussion.

Eine Zusammenfassung von wesentlichen Aspekten der Diskussion und die Themen der Impulsreferate wurden in einem Bericht zusammengefasst, der im Tagungsband der APK erschienen ist.

"Ja, wenn es schon ein angenehmer Anblick ist, zu sehen, dass Eltern ihren Kindern eine ununterbrochene Sorgfalt widmen, so hat es noch etwas Schöneres, wenn Geschwister Geschwistern das Gleiche leisten."

Johann Wolfgang von Goethe

Die Beiträge im Artikel:

Lesehinweis: Die Fußnoten in den Beiträgen sind vorwärts und rückwärts verlinkt.

Einführung

Dieses Symposium ist so verlaufen wie immer gewünscht, aber eher selten realisiert: Die Referierenden haben ihre Beiträge als Impulse mit ausreichend Zeit für diskursiven Austausch vorgetragen; in dieser Einleitung werden einige Diskussionsstränge zusammengefasst. [1]

Interessenten am Thema der gesunden Geschwister seien zudem auf die Homepage des GeschwisterNetzwerkes hingewiesen: www.GeschwisterNetzwerk.de [2]

Geschwister im Themenfeld Arbeit und Beschäftigung

Als vier Geschwister aus dem 2017 gegründeten GeschwisterNetzwerk haben wir das Symposium angeboten, und wir hätten uns mehr teilnehmende Geschwister gewünscht – aber ganz schnell wurde uns klar:

Geschwister müssen arbeiten und deshalb können sie an einem Wochentag nicht dabei sein – es sei denn, sie sind wie zwei anwesende Schwestern in sozialen Berufen tätig und können die Teilnahme als berufliche Tätigkeit ausgeben. Damit war in der Gruppe der Bezug zum Thema des Selbsthilfetages „Arbeit und Beschäftigung“ angesprochen und sogleich beendet.

Aufgrund der Beteiligung von drei Psychiatrie-Erfahrenen (neben fachlich Interessierten und Geschwistern) wurde von einem der Psychiatrie-Erfahrenen die vorbereitete Thematik bereits vor den Impulsbeiträgen um den Aspekt „Kontaktabbruch“ erweitert.

Erfahrungen in Familien – von Geschwistern mit Geschwistern sowie mit den Eltern

Das Leid, den Kontakt zwischen den Geschwistern zu verlieren

Ein Psychiatrie-Erfahrener berichtet, durch die Drogenszene den Zugang zu seinen ‘vernünftigen Geschwistern‘ verloren zu haben, auch weil er sich mit seinem Drogenkonsum auf Facebook gebrüstet habe. „Es gibt ja hier so einen bekannten Rapper aus Berlin, der nur über Drogen rappt, Herzog, die neusten Lieder habe ich immer gleich geteilt, auch mit meinen Geschwistern – da ging der Kontakt runter, die haben mich auch von der Freundesliste geschmissen. Jetzt bin ich seit drei Jahren clean, jetzt versuche ich eben den Kontakt wieder aufzubauen, aber ich weiß nicht, ob es nur mir schwer fällt, oder auch meinen Geschwistern. Deswegen finde ich es bis jetzt sehr interessant hier, weil ich mich immer nur aus meiner Perspektive betrachtet hab“ [3].

Der Abbruch des Kontaktes zwischen den Geschwistern kann von beiden Seiten aus erfolgen: von den Erkrankten, aber auch den Gesunden.

Geschwistern, die ihre Problematik nicht im Forum präsentieren wollten und sich per Mail an einen Moderator gewendet hatten, ging es ausnahmslos um das Problem, dass das erkrankte Geschwister die Kommunikation abgebrochen habe sowie die Frage, wie diese wieder hergestellt werden könne.

Auf der anderen Seite fragen im Forum immer wieder Geschwister nach, ob sie ihrerseits mit Kontaktabbruch einen Teil ihrer Probleme lösen könnten. Die Fragen lauten in etwa so: „Was ist mit Kontaktabbruch? Habt ihr Erfahrungen, könnt ihr dazu raten, oder abraten?“ Dies signalisiert erstens, wie belastend für viele Geschwister die Beziehung zur bzw. zum Erkrankten werden kann und zweitens die Ahnung, was ein Kontaktabbruch für einen selbst nach sich zieht: den Verlust der lebendigen Begegnungen mit dem Geschwister, auch wenn diese häufig konfliktgeladen sind.

Zudem ist aus Interviews bekannt, wie häufig bereits die Erkrankung als schwerer Verlust des Geschwisters erlebt wird, da die bis dahin gekannte Schwester bzw. der Bruder nicht mehr so wie früher verfügbar ist. [4]

Wahrscheinlich haben die Fragenden außerdem eine Ahnung von dem,  was Geschwister nach einem Kontaktabbruch berichten: Obwohl kein persönlicher Kontakt „mehr besteht, trage ich meinen Bruder immer auf meinen Schultern mit mir.“ (Interviewzitat)

Aus Interviews mit Geschwistern sowie erfragten Lebensläufen ist deren Strategie im ausgehenden Jugendalter bekannt, sich um der eigenen ungestörten Persönlichkeitsentwicklung willen aus der Herkunftsfamilie zu verabschieden, indem sie früh mit Partnern zusammen ziehen, möglichst weit weg studieren bzw. eine Lehre beginnen oder eine Arbeitsstelle antreten. Diese Lebensphase ist am ehesten als „Moratorium“ anzusehen, denn sehr häufig wird nach einigen Jahren der Kontakt zur Herkunftsfamilie, insbesondere dem erkrankten Geschwister, wieder intensiviert.

Nähe-Distanz: Eine schwierige Entscheidung, oder ein lebenslanger Regulationsprozess?

Kontaktabbruch signalisiert einen bedeutsamen Schritt in einer schwierigen Beziehungsdynamik. Claudia Bach kann auf der Basis ihrer Studienergebnisse verdeutlichen, was bei den Überlegungen zu einem Abbruch des Kontaktes vorausgeht: Eine lang andauernde Vorgeschichte, in der die nie endende Notwendigkeit der aktiven Regulation von Nähe und Distanz in der Beziehungsdynamik der Geschwister eine zentrale Rolle spielt; eine mögliche Regulation kann auch ein (ggf. vorübergehender) Beziehungsabbruch sein.

Sie hat bei besonders belasteten Geschwistern gezielt deren Belastungen sowie ihre Möglichkeiten, damit fertig zu werden erfragt (siehe ihren Beitrag weiter unten).

Eine der zu bewältigenden Aufgaben bestehe darin, eine für beide Geschwister erträgliche Distanz herzustellen; dies sei kein Fixpunkt auf einer Nähe-Distanz-Skala, sondern ein dynamischer, lebenslanger Prozess, in dem der Kontaktabbruch eine gewisse Zeitspanne  umfasse, dem in der Regel bereits viele kleine Schritte vorausgegangen seien.

Ein Beispiel soll diesen Prozess beleuchten, an dessen Ende sich das gesunde Geschwister nur noch mit einem Beziehungsabbruch „retten kann, um nicht aufgesogen zu werden“.
Der Erkrankte ruft immer wieder nachts an, wogegen sich die Schwester wehren möchte, indem sie das Telefon aushängt. Dann sitzt sie da, hat Schuldgefühle, verarbeitet das, muss ihre Entscheidung dem Bruder wieder und wieder verdeutlichen bis sie irgendwann den Eindruck hat: „Ok, der Bruder hat es jetzt verstanden, nach neun Uhr abends telefoniere ich nicht mehr“.

Claudia Bach betont: Was zunächst so einfach aussieht – nicht einmal ein Kontaktabbruch, nur das Telefon wird nach neun Uhr ausgehängt –  ist eine unheimliche Anstrengung. Jeder dieser kleinen Schritte ist ein anstrengender Weg. Wenn nun jemand sagt „Ich habe den Kontakt zu meinem Bruder abgebrochen“ sind vorher viele dieser kleinen, anstrengenden Schritte gegangen worden und es hat sehr lange gebraucht, so eine Entscheidung zu treffen. Fast noch schwerer ist es, das durchzuhalten und mit dieser Entscheidung selbst zu Rande zu kommen.

Das Fazit der Referentin: Es ist eine lebenslange Bewältigungsanforderung, die sich zwischen diesen Polen bewegt, zwischen Distanz und Nähe, in der die eigenen Bedürfnisse und die des erkrankten Geschwisters immer wieder aufs Neue ausbalanciert werden müssen – was oft genug nicht klappt“. Kontaktabbrüche sind ein – häufig vorübergehender – Bewältigungsversuch.

Allerdings beinhaltet ein Kontaktabbruch keineswegs Ruhe oder Zufriedenheit, denn „mein Bruder ist trotzdem immer noch bei mir“ (so formulierte es jemand in einem Interview).

Den ‚äußeren Kontakt‘ kann man kappen, den ‚inneren‘ aber nicht: nahe Menschen führen auch ein Leben „in unserer Seele. Und diesen Kontakt, der innen drin lebt und stattfindet, den zu kappen, ist schwierig bis unmöglich“(Gagi K.). Der Grund, warum das nahezu unmöglich ist, liegt auf der Hand: Geschwister sind die intimste Beziehung zwischen Menschen, in der Kindheit und Jugend enger als die zu den Eltern – und jeder weiß intuitiv: das wird die längste aller denkbaren Beziehungen in meinem Leben sein. Intensität und Dauer der Beziehung sind der Grund dafür, dass mit einem totalen Schnitt mit einem Geschwister ein Teil der eigenen Persönlichkeit mit abgeschnitten wird.

Die daraus resultierende Forschungsfrage wirft Claudia Bach am Ende ihres Beitrages auf: Welche Modi der Nähe-Distanz-Regulation verwenden die Geschwister, und wie können Geschwister unterstützt werden, einen für sie lebenstauglichen Modus zu finden?

Die Gefühle der Schwestern und Brüder zu ihren erkrankten Geschwistern – von Natur aus widersprüchlich bzw. ambivalent

Claudia Bach klassifiziert in ihrem Beitrag die Einflüsse, die das Verhalten der Erkrankten auf die Geschwister habe; das Verhalten könne – je nach Schweregrad – verstörende, destabilisierende oder intrusive Wirkungen erzeugen.

Diese unterschiedlichen Wirkungen stehen mit tiefen Ambivalenzen im Zusammenhang, Der Kern dieser Zerrissenheit scheint die Gleichzeitigkeit von tiefer Trauer, Zuneigung und Solidarität mit dem Geschwister auf der einen Seite mit nahezu konträren Gefühlen auf der anderen Seite zu sein: nämlich Wut, Ärger und Zorn aufgrund des konkreten Verhaltens der Geschwister.

Claudia Bach kann zeigen, wie sich die nahezu gleiche Ambivalenz in der Beziehung zu den eigenen Eltern fortsetzt. Auch da ist die Trauer und das Mitleiden am Leid der Eltern unauflösbar verbunden mit der Wut auf die Eltern [5] (und sich selbst?).

Besondere Belastungen und besondere Lebenschancen gesunder Geschwister

Trotz vieler Erfahrungen, die alle gesunden Geschwister teilen, gibt es gravierende Unterschiede in der generellen Beurteilung dieser Erfahrungen.

Auf der einen Seite stehen Aussagen wie „Mit dem Ausbruch der Krankheit meines Bruders war meine Kindheit zu Ende. Bis heute habe ich nur Nachteile und Belastungen erlebt“; auf der anderen Seite sehen wir Personen, die die schicksalhafte Lebenssituation als Geschwister  im Erwachsenenalter sogar als „ein Geschenk des Himmels“ betrachten können.

Diese Geschwister konstatieren im Blick auf ihre Entwicklung langfristig nur Vorteile für ihre Persönlichkeitsentwicklung, die sich im Laufe der Zeit aus dem Gefühlschaos (siehe oben zu den Ambivalenzen) herausgebildet haben. Dazu gehört z.B. die Fähigkeit, krisenhafte Zuspitzungen in ihrem Erwachsenenleben nicht mit Verzweiflung, Flucht oder mit Abwehrreaktionen ‚zu lösen‘, sondern ruhig zu bleiben, sich weitgehend einen klaren Blick zu bewahren und allen Beteiligten gegenüber Empathie zu zeigen.

Dies konnten bzw. mussten sie lernen aufgrund der besonderen Rollen, die sie in der besonderen Familienkonstellation einzunehmen hatten: den außen stehenden Bruder bzw. die außenstehende Schwester bei unüberschaubaren Prozessen und Konflikten zwischen dem erkrankten Geschwister und den Eltern, bei Konflikten der Eltern untereinander, in der Wahrnehmung und Anerkennung (!) des tiefen Leides sowohl bei dem erkrankten Geschwister, als auch bei den Eltern.

Nach wie vor ist ungeklärt, welche Parameter der Persönlichkeit (vor der Erkrankung des Geschwisters) sowie der familiären Situation im späteren Erwachsenenalter zu den hier angedeuteten unterschiedlichen Prägungen führen.

Die aktuelle Auffassung zur Resilienz-Entwicklung legt nahe, dass die Antworten weniger in Persönlichkeitsmerkmalen zu finden sein werden, sondern eher in den dynamischen Prozessen der sozialen Interaktionen, d.h. den Erfahrungen im Sozialisationsprozess. Die aus diesen Prozessen hervorgehenden unterschiedlichen kognitiven Stile bedingen die unterschiedliche Bewertung von Situationen: eher als nachvollziehbar, als leicht belastend bis neutral, oder als alarmierend. (in Anlehnung an Emmy Werner‘s Studien zur Entwicklung von Kindern aus zerrütteten Familien in den 1950er Jahren sowie der Bewertungstheorie nach Oliver Tüscher, Professor für klinische Resilienzforschung am Mainzer Uniklinikum). [6]

Nicht nur die gesunden Geschwister können von den erkrankten profitieren – auch das Erleben sowie der Krankheitsverlauf der erkrankten kann durch deren Geschwister positiv beeinflusst werden.

Als empirisch gesichert darf gelten: ‚Gute Geschwisterbeziehungen sind ein gutes  „Medikament‘, eine positive Geschwisterbeziehung hat eine heilsame und präventive Funktion. Wo die Beziehung eher schlecht war zeigte der Kontakt mit den Geschwistern diesen positiven Einfluss nicht [7].

Als Geheimagent ein doppeltes Leben führen – oder: die Rolle der schwachen starken Schwester

Egal, in welcher Bachelor- oder Masterarbeit, egal wer wann wo etwas über Geschwister formuliert hat – ein Gesichtspunkt fehlt nie: Die gleichzeitige Trauer und Wut darüber, dass sich die gemeinsamen Eltern auf das erkrankte Geschwister konzentrieren, dort ihre Aufmerksamkeit fokussieren – und man selbst in die Rolle dessen gerät, die oder der keine Probleme macht, der oder dem es gut geht, bei der oder dem alles in Ordnung sei – und die oder der die eigenen Interessen und Bedürfnisse für sich behält. Die Ergebnisse einer Studie aus 2006 [8] legen nahe: die Geschwister glauben nicht nur, die problemlosen zu sein, sie werden von ihren Eltern auch so gesehen!

In der  Studie wurde u.a. das elterliche Erleben von Ambivalenzen in Bezug auf ihre Kinder erhoben: gegenüber dem psychisch erkrankten Kind und den gesunden Kindern sowie gegenüber Kindern in Familien ohne eine psychische Erkrankung.
Die Ergebnisse bestätigen das oben beschriebene Erleben der gesunden Geschwister: In Familien mit einem erkrankten Kind wurde das Verhältnis zu den gesunden Kindern sehr deutlich weniger widersprüchlich empfunden als zu dem erkrankten Kind, was durchaus zu erwarten war.
Wie sehr die gesunden Geschwister von den Eltern als die unproblematischen gesehen werden zeigt sich im Vergleich zu Familien mit ausschließlich gesunden Kindern; im Vergleich zu diesen wird die Beziehung zu den gesunden Geschwisterkindern als signifikant weniger ambivalent beschrieben.

Die spezifische Rolle in der Familie spiegelt sich in Sätzen, die immer wieder nahezu gleichlautend sowohl von Geschwistern psychisch erkrankter oder geistig behinderter Menschen als auch an frühkindlichem Krebs erkrankter Geschwister geäußert werden:

„Ich war immer die starke schwache Schwester“. Diese Schwester hat sich selbst, wie viele andere Geschwister auch, als äußerst schwach empfunden und wurde im Familienkontext als die Starke definiert und so behandelt.

Gagi K. macht nachvollziehbar, wie ein Geschwister in diese letztlich nicht lebbare Rolle gerät, welche Folgen das hat und wie sie selbst dahin kam, heute als erwachsene Frau ihre Autonomie zu leben.

„Bevor das Verhalten meines Bruders auch für meine Eltern so unerträglich wurde, dass sie seine Erkrankung zur Kenntnis nehmen mussten, war er schon Jahre lang auffällig geworden – aber meine Eltern wollten das nicht sehen, denn Eltern stellen sich ‚typische‘ Fragen: „Was habe ich falsch gemacht?“ „Wann und wie hätte ich anders handeln müssen?“  u.s.w.

Sie entwickeln Schuldgefühle, und diese Schuldgefühle verleiten zunächst dazu, weg zu schauen, das nahende Unheil zu verdrängen. Darum beschäftigt man sich erst dann mit diesem Thema, wenn es bereits für frühzeitige Hilfen viel zu spät ist, wenn die Krankheit unübersehbar ausgebrochen ist (bei meinem Bruder ist es eine schizophrene Störung).

Wenn Du das gesunde Geschwister bist sagst Du Dir: ‚Es gibt schon jemanden zuhause, der selbst sehr leidet und der unseren Eltern unglaublich viel Kummer bereitet‘.

Welchen Schluss ziehst Du daraus? Du willst natürlich das gute Kind sein; das Kind, das keine Probleme verursacht; das Kind, das sich um sich selber kümmert; das Kind, worüber Mama nicht weinen muss.

Und Du ziehst dich zurück; Du ziehst Dich so dermaßen zurück, dass Du anfängst gar nichts mehr von Dir mitzuteilen, sondern alles immer mit dir selbst auszuknuspern, was Deine Seele so belastet.

Und über alle dem schwebt dieses Schweigegelübde, weil wir alle hoffen: ‚Irgendwann mal ist es vorbei, irgendwann mal werden wir das Leben haben, was wir als Familie vor der Krankheit hatten, die Familie wird wieder heil. Deswegen reden wir nicht darüber und die Leute draußen dürfen das auch nicht wissen, weil das stigmatisiert uns alle nur.‘

Du erlebst Unverständnis bis zu Zurückweisungen, wenn Du die Erkrankung offenbarst. Du erkennst bereits als Kind: Du bist eine stigmatisierbare Person, Du kannst stigmatisiert und abgewertet werden, wenn Du offenbarst, die Schwester eines psychisch erkrankten Bruders zu sein –  und so lernst Du zu schweigen.  Aber manchmal wirst Du zu Deinem Bruder bzw. Deiner Schwester befragt, da kannst Du ja nicht immer irgendwelche Geschichten aus der Vergangenheit erzählen, also vermeidest Du voll und ganz  Deinen Bruder zu erwähnen, als gäbe es ihn nicht.

Du tötest ihn quasi in Deinen Kommunikationen, das ist ein fürchterliches Gefühl und belastet Dich zusätzlich sehr.

Du läufst ein Leben lang mit einer Geheimhaltung durchs Leben, weil Du über Deinen Bruder nichts Unverfängliches erzählen kannst.  Das zieht viele andere Lügen nach sich, Du musst ein Netz von Phantasie-Geschichten spinnen, Du musst Dir permanent irgendwelche Sachen als fiktive Geschichten ausdenken – und ganz plötzlich lebst du in einer Mission Impossible, wo du als Geheimagent unterwegs bist und guckst, dass Du Dich nicht verplapperst. Du lebst ein zweites Leben.

So vergeht Deine Jugend und die ersten Jahre des Erwachsen-Seins mit dem völligen Aussparen dieses bedeutsamen Teils Deiner Person oder mit der Produktion von Fiktionen in Deinen sozialen Kontakten, und ehe man sich versehen hat – ist man selber erwachsen, führt ein eigenes Leben und denkt: ‚Ok, ist eigentlich ok bei mir, ich darf mich nicht beschweren, mein Bruder hat es schwer, mein Papa hat es schwer, meine Mutter hat es schwer. Ich muss ja dieser Leuchtturm sein, der irgendwie Licht reinbringt, der ein positives Beispiel für die  anderen Familienmitglieder sein will und kann, um ihnen zu zeigen, dass das Leben auch schön sein kann – in der Hoffnung, dass sie etwas davon übernehmen können.‘

Du wirst älter, Deine Lebenskräfte lassen nach, Du bist nicht mehr 17 oder 20 Jahre alt, die Lebensprozesse ändern sich.

Jenseits des Alters von 30, 40 Jahren beginnen sich die Dinge zu melden, die Du früher so erfolgreich auf die Seite geschoben, verdrängt hast. Alles was ungesagt blieb, alles was wir verdrängt haben, alles was wir irgendwo in irgendwelchen Schubladen verstaut haben krabbelt hervor: die Schubladen fangen plötzlich an, ganz von alleine aufzugehen.

Was machst Du dann? Du drückst und drückst, Du schiebst die Schubladen wieder zu. Du bist nun über die Maßen mit dem Zurückdrücken beschäftigt, dass viele andere Dinge darunter leiden. Und dann kommt der Augenblick, wo das nicht mehr geht! Dann merkst Du plötzlich: ‚Oh mein Gott! Ich wusste ja gar nicht, wie sehr mich diese Situation in der Familie belastet hat, auch wenn ich ganz woanders hingezogen bin, damit ich dem eben nicht ausgesetzt bin‘. (Gagi K.)

Raus aus der unhaltbaren Situation – aber wie?

Wenn Du das begreifst, führt Dich das eventuell in eine Therapie, weil Du Dich fragst: ‚Wieso habe ich immer wieder diese nicht zu beschreibenden Schwierigkeiten? Es ist eigentlich alles super, ich bin verheiratet, ich bin glücklich – und trotzdem ist da eine Schwere‘. Diese Schwere ist da, und die kann nicht zur Seite geschoben werden.

Alles was ungesagt ist, meldet sich in Form von seelischer Belastung, vielleicht sogar in Form einer Erkrankung. In jedem Falle wird es sich irgendwie äußern, früher oder später.

Diese Schwere habe ich mitgenommen in das Leben mit meinem Mann. Er war es auch, der mir nahegelegt hat, die Geschwistergruppe in Berlin zu besuchen. Ich habe nämlich sehr lange gebraucht, um zu der Geschwistergruppe zu gehen; es waren bestimmt 2-3 Jahre bis mein Mann endlich mal gesagt hat: ‚Mein Gott du weißt doch, was kann schon passieren? Also das schlimmste was passiert ist, dass es dir nicht gefällt und dann gehst du nie wieder hin.‘

Und dann bin ich zu der Gruppe gegangen, und dann war ich plötzlich zuhause und zum ersten Mal habe ich begriffen, dass ich nicht alleine bin. Es gibt andere Leute, die genau diese Geschichte durchmachen, die die gleichen Fragen sich stellen, wir alle haben das Gefühl wir müssen brav sein, wir müssen andere nicht belasten, wir müssen die Guten, Netten und die Erfolgreichen und was auch immer sein und dann brodelt aber diese Geschichte selbst dann noch, wenn wir von zuhause ausgezogen sind und möglichst weit weg studieren. Das ist eben „work in progress“ und es geht nicht weg. Und der Schmerz und das Erleben, das geht alles nicht weg.

Aber die Gespräche in der Gruppe helfen! Wir tauschen uns sehr intim aus, und für mich war das unbedingt notwendig, um meine eigene Seele ein bisschen kennen zu lernen.

Ich musste sie alle rausschmeißen, die da nicht hinein hingehören. Also Mama ist zwar wichtig, Papa ist zwar wichtig und Bruder, das sind alles wichtige Menschen, aber dennoch gibt es einen einzigen Menschen, mit dem ich mein Leben lang wirklich bis zum Ende verbringen werde und das bin ich und ich habe sie alle mit mir geschleppt, weil mein Mitgefühl ging so weit, dass ich irgendwann mal verwechselt habe, was ist deren Last, was ist meine Last und ich habe das alles aufgesogen, bis ich dann gemerkt habe ‚Wow, in welchem Business bewege ich mich jetzt gerade, ich verwechsle, ich weiß gar nicht mehr wo sie aufhören, wo fange ich an?‘

Ohne Wut hätte ich es nicht geschafft, sie alle erstmal aus mir heraus zu schmeißen.

Es gab sogar eine Phase, wo ich gedacht habe, ich hätte sie dauerhaft rausgeschmissen – aber das war natürlich ein Irrtum. Aber es war wichtig buchstäblich in mir Platz für mich zu schaffen.

Ich bin mir sicher: je früher man sich austauscht, umso besser. Man sollte das auch nicht unbedingt mit irgendwelchen Freunden oder Bekannten teilen. Präsentierst Du jemandem ein Problem – dann wollen die Angesprochenen in guter Absicht die Dinge reparieren. Du erzählst also etwas, bekommst ein paar Tipps – und dann muss es aber auch gut sein, der Alltag muss seinen Lauf nehmen.

Ich kenne wenige Menschen, die mit der Schwere umgehen können, die viele Geschwister in sich tragen. Und das ist ja eine Dauerschwere, weil das kranke Geschwister ist krank und bleibt krank, der Mutter oder dem Vater geht es schlecht damit, u.s.w..

Darum ist es wichtig sich solche Leute zu suchen,  mit denen man darüber reden kann, und das sind die Menschen in vergleichbarer Situation. Mit denen kann man sogar immer mal wieder über Eltern, und das heißt die schwierigen Erfahrungen in der Familie herziehen, man kann sogar Witze über die ganze Misere machen: wir sind ja unter uns, wir verstehen das als wirksames Ventil und nicht als allgemeingültige Beschimpfungen unserer Eltern.“

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Fußnoten:
[1] In die Diskussion eingebettet erfolgte der fachliche Input des Autors unter dem Titel „Die besondere Situation von Geschwistern“.
[2] Der Autor dieser Zeilen hat vor vielen Jahren als Bruder eines Erkrankten die ersten Geschwistertreffen durchgeführt und sein Erleben als Bruder öffentlich gemacht, siehe Peukert, R. (2017): Erlebte, gelebte, erlittene Verantwortung von Schwestern und Brüdern eines psychisch erkrankten Geschwisters. In: Verantwortung übernehmen. Verlässliche Hilfen bei psychischen Erkrankungen. In: Aktion psychisch Kranke, Weiß, P., Heinz, A. (Hrsg.):Tagungsband der APK 2016, Bonn: Psychiatrie-Verlag, S. 168-190.
[3] Diese aus den Trialog-Seminaren bekannte Erfahrung könnte auch im Rahmen des Geschwisterforums ermöglicht werden, siehe unten zum „virtuellen innerfamiliären Trialog“.
[4] Zu diesen und weiteren Forschungsergebnissen siehe unter www.GeschwisterNetzwerk.de den Beitrag von Peukert, R.: Wie geht es denn den Schwestern und Brüdern?
[5] Woran sich diese Wut entzündet siehe im Beitrag von Claudia Bach.
[6] Dies steht nicht im Widerspruch zur Auffassung eines lebenslangen Regulationsprozesses von Nähe und Distanz; vermutlich können die dynamischen Prozesse, die zu einer erhöhten Resilienz bei gesunden Geschwistern führen, als Regulationsprozesse von Nähe und Distanz rekonstruiert werden.
[7] Siehe Bojanowski, S. (2016): Geschwisterbeziehungen im Kontext psychische Erkrankungen. Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades Doktor der Philosophie (Dr. phil.) an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität Potsdam; darin S. 89-102 das vorläufige Manuskript: Bojanowski, S.; Nisslein, J.; Riestock, N.; Lehmkuhl, U. (2016): Siblings realtionships of children and adolescents with mental disorders – ressource or risk factor?
[8] Burgkardt, A.; Rudolf, S.; Brand, C.; Rockstroh, B.; Studer, K.; Lettke, F. und Lüscher, K.: Ambivalenzen in der Beziehung von Eltern zu einem schizophreniekranken oder substanzabhängigen erwachsenen Kind. In: Psychiatrische Praxis 33, S. 1-9

Eineinhalb Jahre Geschwister-Forum 

Als das GeschwisterNetzwerk vor eineinhalb Jahren gegründet und gleich ein Forum für Geschwister von psychisch erkrankten Menschen eingerichtet wurde, war das etwas wirklich Neues. Eigenständige Foren oder Unterforen für Geschwister in besonderen Lebenslagen lassen sich auch bei intensiver Suche nur ganz wenige finden: Ein Forum der Lebenshilfe und eine privat initiierte Facebook-Gruppe für erwachsene Geschwister, deren Schwester oder Bruder krank oder behindert ist, sowie ein Forum für verwaiste Geschwister. Darüber hinaus findet man noch einige Foren, denen nur eine kurze Existenz beschieden war sowie vereinzelt solche, deren Seriosität zumindest prüfenswert ist.

Was den genannten seriösen Foren und der Facebook-Gruppe gemeinsam ist: Es handelt sich um ganz oder teilweise geschlossene Angebote, wobei die Art des Zulassungsverfahrens nicht überprüft werden konnte. Die Frage eines offenen oder geschlossenen Forums hat uns auch in dem Workshop beschäftigt; darauf wird weiter unten noch eingegangen.

In diesem Umfeld kann es sicher als Erfolg gewertet werden, dass das Forum des GeschwisterNetzwerks sich in der Zeit seines Bestehens behaupten und langsam aber stetig wachsen konnte. Und allein diese Tatsache ist ein Beleg dafür, dass offenbar einen Bedarf besteht.

Die Recherche [9] ergab weiterhin, dass Posts von Geschwistern (in der Regel Schwestern) von psychisch erkrankten Menschen sich auch in sehr allgemeinen Foren finden lassen, die Begriffe wie „Hilferuf“, „Gute-Frage“ oder „Eltern“ im Titel vorweisen. Dies legt nahe, die Antworten in diesen Foren mit den Antworten im Forum des GeschwisterNetzwerks zu vergleichen. Quantitativ finden sich in den breit aufgestellten Foren wesentlich mehr Antworten, allerdings wird man oder frau durch die meisten dieser Äußerungen keinen Erkenntnisgewinn haben und häufig auch keine emotionale Unterstützung erfahren.

Wenn man die Einlassungen zu den Posts im Geschwisterforum dagegen stellt, wird sofort deutlich, dass sich hier keine „Gelegenheitsschreiber“ mit einer schnellen Replik äußern und auch keine „Dauerratgeber“, die glauben, zu fast jedem Thema ihre Einschätzung und ihre Empfehlung der Öffentlichkeit bekannt machen zu müssen, sondern ausnahmslos Menschen, die wissen, wovon gesprochen bzw. geschrieben wird, weil sie selbst über ähnliche Erfahrungen verfügen und in der Lage und willens sind, sich in die Gefühlswelt des Anderen zu versetzen. 

Erwartungen der Forumsnutzer

Dies führt direkt zu der Frage, welchen Erwartungen die Nutzer mit dem Forum verknüpfen. Darüber können die Inhalte der Posts Aufschluss geben, zumindest eine Interpretation nahe legen [10]. Fast alle Posts entstehen aus einer akuten Problemlage heraus, verbunden mit ganz konkreten Fragen. Darüber hinaus enthalten sie jedoch immer auch Äußerungen über die jeweilige Befindlichkeit – da ist von Ängsten die Rede, von Sorge, Hilflosigkeit, Verantwortungsgefühl, unerfüllbaren Erwartungen der erkrankten und anderer Familienmitglieder. Sehr oft ist zu erkennen, dass die Schreibenden sich bereits seit langer Zeit ständig oder immer wiederkehrend mit den gleichen Schwierigkeiten auseinander zu setzen haben, demnach als „erfahren“ gelten können. Das legt den Schluss nahe, dass sie sehr wohl wissen, dass niemand ihnen ein Patentrezept wird geben können und daher auch nicht enttäuscht sind, wenn dies nicht erfolgt. Ganz im Gegenteil – fast regelhaft bedanken sich die Fragenden für das Verständnis und das Mitgefühl. Offenkundig erleichtert es, sich geäußert zu haben und wirkt stabilisierend, Verständnis und Zuspruch zu erhalten.

Dem Forum kommt damit eine Funktion zu, die weitgehend identisch ist mit der Funktion von Selbsthilfegruppen vor Ort. Anders als in diesen, in denen Eltern von erwachsenen Kindern nach wie vor die mit Abstand größte Teilnehmergruppe stellen, kommt im Forum jedoch die andere Sichtweise der Geschwister bei faktisch ähnlichen Sachverhalten zum Ausdruck. 

Entwicklungsnotwendigkeiten des Forums

Anders als es aus allen bisherigen persönlichen Treffen von Geschwistern berichtet wird, kann das Forum derzeit nicht die geschützte und beschützende Umgebung bieten, in der auch bedrängende Konflikte, schambesetzte Gefühle und ganz spezielle persönliche Details angesprochen werden. Entgegen der Erwartung bzw. der Befürchtung der Moderatoren, gelegentlich oder auch häufiger eingreifen zu müssen, wenn diesbezüglich bestimmte Grenzen überschritten werden, war dies kein einziges Mal erforderlich.

Auch wenn die Beiträge im Forum anonym geschrieben werden, so ist den meisten Nutzern doch ganz offensichtlich bewusst, dass sie sich öffentlich äußern – andere Familienmitglieder können mitlesen und sich und ihre Situation wiedererkennen, ebenso die erkrankten Schwestern und Brüder und ggf. weitere Personen aus dem jeweiligen Umfeld. Daraus leitet sich die Notwendigkeit ab, geschlossene Bereiche einzurichten, um den notwendigen Schutz zu gewährleisten. Es ist sicher nicht zufällig, dass die oben genannten Plattformen entweder ganz geschlossen sind oder über geschlossene Bereiche verfügen. Klar muss aber auch sein, dass damit die Hürde, sich an dem Forum zu beteiligen, zunächst erhöht wird, andererseits kann gerade diese Hürde die Attraktivität des Forums steigern.

Die derzeit vorhandene Möglichkeit, mit einzelnen Nutzern des Forums per Mail direkt in Kontakt zu treten, sofern diese das in ihrem Profil nicht ausgeschlossen haben, erscheint nicht ausreichend und es hat sich gezeigt, dass diese Option kaum genutzt wird.

Aus der Diskussion zu dem Bericht über diese Ergebnisse und Schlussfolgerungen geht eine noch nicht genutzte Chance des Forums hervor: es kann – neben anderen – auch die Funktion eines „virtuellen innerfamiliären Trialogs“ annehmen (siehe weiter unten). Sie hat zudem die Bedeutung von Geschwistertreffen, in denen sich die Beteiligten von Angesicht zu Angesicht austauschen können, einmal mehr hervorgehoben: Kein Forum kann die Vorteile der persönlichen Begegnung ersetzen.

Weitere Schritte für die Entwicklung des Forums sind demnach die Einrichtung und Aktivierung von Bereichen, in denen Diskussionen von Geschwistern mit Eltern und erkrankten Familienmitgliedern geführt werden können – das sollten jedoch nicht die eigenen Angehörigen sein, für den Austausch mit diesen gibt es bessere Kommunikationswege. Die Auseinandersetzung mit den Sichtweisen der jeweils anderen Gruppe – unbelastet von den eigenen Verstrickungen – könnte dazu beitragen, Verhaltensmuster zu hinterfragen, im besten Fall aufzubrechen, die sich über einen langen Zeitraum herausgebildet haben,.

Um dies alles nicht nur auf einen guten Weg zu bringen sondern dauerhaft sicher zu stellen und zu entwickeln, bedarf es der kontinuierlichen Verbesserung der technischen Rahmenbedingungen, der permanenten Überwachung der öffentlichen und der geschlossenen Bereiche zur Vermeidung von Missbrauch sowie der Verfügbarkeit von ausreichend vielen qualifizierten Moderatorinnen und Moderatoren. Diese sollten auch in der Lage sein, Veränderungen im Nutzerverhalten zu erkennen und zu analysieren, um entsprechende Anpassungen der Forumsstruktur und anderer Parameter zu veranlassen.

Auch wenn es mühsam ist und bleiben wird, so scheint es doch lohnend, diesen Ansatz weiter zu verfolgen, um in den traditionellen Selbsthilfestrukturen unterrepräsentierten Angehörigengruppen eine Chance zum Austausch und im wörtlichen Sinn zur Selbsthilfe zu eröffnen.

Akute Hilfebedarfe und bedeutsame Fragen können (noch) nicht beantwortet werden

In der nachfolgenden Diskussion wurden eine Reihe weiterer Fragen aufgeworfen.

  1. Auf ein sehr gewichtiges Anliegen kann gegenwärtig nicht geantwortet werden.
    Stellt sich bei einem Beitrag heraus, dass jemand weitergehende Hilfe braucht, dann findet er in seiner akuten Situation keine intensive, personale, auf ihn zugeschnittene Unterstützung. Das weiß der Nutzer eines Forums sehr wohl, aber er braucht dennoch Hilfe und er sucht Hilfe.
    „Wenn wir uns ernst nehmen, dann müssen diese Hilfebedarfe auch bedient werden. Wir müssen uns die Lage versetzen, solchen Personen jemanden Hilfreichen zu benennen“.
    .
  2. Worin unterscheiden sich Diskussionsbeiträge im Online-Forum von Beiträgen in den Geschwistertreffen?
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  3. Alle Angehörigen berichten von Scham, Schuld, Verzweiflung, Wut, mangelnder Beachtung seitens der professionellen Helfer, Kritik an den Hilfen, etc. Man darf z.B. davon ausgehen, dass sich Eltern wegen etwas anderem schämen als die Kinder oder Geschwister psychisch erkrankter Menschen.
    Die Frage lautet: Worin bestehen die (unterschiedlichen) Gehalte bei den gleichen Begriffen? [11]
    .
  4. Welche Nutzer des Online-Forums benötigen weitergehende ggf. professionelle Hilfen, z.B. eine Therapie – und woran können die Moderatoren das erkennen?
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  5. Welche Qualifikationen müssen Moderatoren mitbringen bzw. erwerben und wie sieht ihr Tätigkeitsprofil aus?

Keine dieser Fragen kann gegenwärtig beantwortet werden. Das GeschwisterNetzwerk wird weiterhin versuchen, aus den Forumsdiskussionen, aus den Geschwistertreffen, aus gegenwärtig vom Netzwerk unterstützten Bachelor- und Masterarbeiten Erfahrungen zu komprimieren, die auch zur Beantwortung dieser Fragen beitragen können.

Darüber hinaus ist geplant, mit Partnern aus Forschung und Entwicklung Projekte in Angriff zu nehmen, die systematisch Erkenntnisse liefern, die ihrerseits in der Gestaltung von Unterstützungsangeboten Niederschlag finden können und werden. Kooperationszusagen der APK sowie der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf liegen bereits seit längerem vor.

Das Geschwisterforum bietet die Chance für „innerfamiliäre Trialoge“

Über die Vor- und Nachteile eines offenen bzw. eines geschlossenen Forums wurde intensiv diskutiert. Dahinter stehen Überlegungen und Befürchtungen: „Wo kann ich was über mich offenbaren, um nicht selbst Schaden zu nehmen?“ So kann bereits als Schaden empfunden werden, wenn „meine Eltern grundsätzlich in der Lage sind, meine Aussagen im Forum zu lesen und so meine Gedanken nachzuvollziehen: Ich werde darin gehemmt, mich mit anderen Geschwistern offen auszutauschen [12]“.

In der Debatte um offenes oder geschlossenes Forum schwingt eine weitere Problematik mit, nämlich die in Familien mit einer psychischen Erkrankung allgegenwärtige Befürchtung, durch eigene Äußerungen anderen Familienmitgliedern Schaden zuzufügen.

Aus Treffen und Gesprächen mit Eltern ist ebenso wie aus den Interviews mit Geschwistern das sog. „Schweigegelübde“ in den Familien bekannt,  dass an anderer Stelle als „partiell funktional“ beschrieben wurde. [13] „Partiell funktional“ deshalb, weil es sich ‚aus gutem Grunde‘ (also funktional) auf jene Inhalte beschränkt, die mit der Erkrankung in der Familie im Zusammenhang stehen (also partiell): Man spricht nach einiger Zeit mit den eigenen Kindern deshalb nicht mehr darüber, um das mühsam erreichte und labile Gleichgewicht in der Familie nicht zu gefährden.

Eine seit vielen Jahren in der Angehörigenbewegung aktive Mutter hat vor den Diskussionen im Forum gewarnt: „Ich möchte vor der Gefahr warnen, dass die Geschwister-Diskussion vor allem bei Müttern zum Aufleben der Schuldgefühle führen könnte, gegen die wir in der Selbsthilfe so lange gekämpft haben“. (Mitschnitt der Diskussion beim 30jährigen Jubiläum des Landesverbandes Hessen der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen)

Diese Befürchtung, bereits durch die Thematisierung eigenen Erlebens (und nicht erst beim Ansprechen von Konflikten) Familienmitgliedern zu schaden teilen auch die erkrankten Geschwister.

So berichtet ein Psychiatrie-Erfahrener, er habe sich zunächst „irgendwie noch gewünscht, dass meine Geschwister sich für dieses Symposium interessieren und dass meine Schwester hier sitzen würde. Aber nachdem, was ich hier gehört habe,  mache ich mir gerade irgendwie Sorgen, dass es meinen Geschwistern dann mal so dreckig geht wie mir, wenn ich mich ihnen öffne, dass ich ihnen dann zur Last falle und so.“

Diesen Befürchtungen steht allerdings eine große Chance gegenüber: Die Chance, anonym (mit einem Alias-Namen) in einen virtuellen innerfamiliären Trialog einzutreten.

So berichten Teilnehmerinnen, die als Professionelle in der Psychiatrie arbeiten, von

„vielen an Schizophrenien erkrankten Geschwistern, die immer wieder zum Ausdruck bringen, wie sehr sie den Kontakt zu ihren Geschwistern vergeblich suchen. Viele von ihnen hätten mit Sicherheit Freude an diesem Forum und würden auch gern etwas beitragen – aber ist das gewollt oder nicht? Ich denke da insbesondere an Klienten, die sich sehr oft die Fragen stellen, was ihren Geschwistern durch den Kopf geht; aber sie haben große Angst nachzufragen, da sie die Reaktionen darauf nicht einschätzen können. Diese Klienten würde sehr davon profitieren, sich mit gesunden Geschwistern auszutauschen, es müssen ja nicht seine eigenen sein“.

Eltern hatten beim ersten Elterntreffen zum Thema gesunde Geschwisterkinder [14] rückgemeldet, wie viel sie von den Beiträgen der anwesenden Geschwister über ihre eigene Familiensituation gelernt hätten. Aus Gesprächen mit Eltern wissen wir, dass das Gleiche für ihre Lektüre der Geschwisterbeiträge im Forum gilt – trotz der für sie zum Teil verstörenden Erfahrungsberichte.

Alle Diskutanten sind schließlich in zwei Punkten einig:

  1. Jede der Gruppen braucht geschlossene Räume – seien es die Geschwister, die Psychiatrie-Erfahrenen oder die Eltern. Diesen Raum finden sie in homogenen Gruppen, ein offenes Forum wie das des GeschwisterNetzwerkes kann das nicht bieten, wohl aber die Geschwistergruppen sowie die überregionalen Geschwistertreffen.
    .
  2. Ein offenes Forum bietet allerdings auch eine Chance, selbst wenn es zunächst als „reines“ Geschwisterforum begonnen hat: die Chance, andere und sich selbst besser zu verstehen. Das ist ein klares Bekenntnis zum Trialog, auch „innerfamiliär“.
    Sobald sich Psychiatrie-Erfahrene und/oder andere Angehörige mit Beiträgen beteiligen entsteht ein solcher „Virtueller innerfamiliärer Trialog“ im Forum.
    .
    „Nur durch Diskussion und Erfahrungsaustausch haben wir alle die Möglichkeit, die andere Seite zu verstehen, dass z.B. dein Klient versteht wie es evtl. Geschwistern geht und uns eröffnet das die Möglichkeit zu verstehen, wie sich das anfühlt, mit dieser Krankheit durchs Leben zu gehen und ich finde, dass wir generell im Moment sehr wenig Austausch haben und dass das sogar gesellschaftlich hoch gepriesen wird,  keinen Austausch zu haben und in einer Blase zu leben und das ist so ein bisschen wie bei Facebook, dein Feed zeigt dir nur die Leute, die gleich denken, und dann bekommst du irgendwann nur etwas von den Leuten mit, die das gleiche denken und so lebt man in einer Blase und glaubt, dass man in so einer Welt lebt. Aber wir müssen uns austauschen, das ist so notwendig“

Statistische Auswertung der Zugriffe und Beiträge im Geschwisterforum

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Fußnoten:
[9] Die Recherche wurde aus der Sicht und mit dem Anspruch einer Nutzerin / eines Nutzers durchgeführt, die oder der aus einer persönlich schwierigen Situation heraus nach Hilfe, Rat, Unterstützung oder Kontakt sucht.
[10] Eine statistische Übersicht der Auswertungsergebnisse befindet sich am Ende dieses Beitrags.
[11] Für den Begriff „Schuld“ gibt es erste Hinweise. Eltern berichten vom Erleben einer „Verursachungsschuld“, bei Geschwistern ist es eher eine „Solidaritätsschuld“: ein Gefühl der Schuld, wenn man in seiner familiären und/oder beruflichen Entwicklung sich immer weiter vom erkrankten Geschwister entfernt. (Siehe u.a. Peukert 2017,  Anmerkung 2)
Im Vergleich der Selbstäußerungen von Kindern und Geschwistern zeigt sich eine deutlich größere Nähe als zu dem Erleben der Eltern psychisch erkrankter Menschen.
[12] Zum Beispiel berichtet Claudia Bach, warum sie die Website und das Forum ohne Vergütung aufgebaut und administriert hat: zum eigenen Nutzen.
„Ich war viele Jahre unterwegs und hatte keinen Austausch und hab  sehr viel Zeit und Energie da rein gesteckt, um mir die Möglichkeit zum Austausch zu schaffen. Ich weiß aber auch: meine Mutter liest das ebenfalls, also habe ich diesen abgeschlossenen Raum dort auch nicht. Und es gibt viele Geschwister, die sich außerhalb dieses Forums austauschen wollen und müssen, weil es trotz Anonymität für sie noch zu öffentlich ist“.
[13] Siehe den in Anmerkung 2 angeführten Beitrag.
[14] Siehe das Protokoll des ersten Elterntreffens zum Thema „gesunde Geschwister“ in Mainz auf: www.GeschwisterNetzwerk.de

Vorwort

Am 28.09.2018 fand in Athen die Konferenz “Caring for Carers” [15]  (u.a. von EUFAMI) statt, daran nahm Gagi K. als Vertreterin des GeschwisterNetzwerks Deutschland sowie von EUSIMI [16] teil.

Außer ihr gehörten zu den Gastrednern: Prof. em. Dr. George Christodoulou (Psychiater), Marietta Giannakou (Psychiaterin), Miia Mäninikkö (EUFAMI Presidentin), Prof. Dr. George Pavlidis [17] (Psychologe), Peykan G. Gökalp (Professorin für Psychiatrie aus Istanbul), Dimitrios Kontis (Psychiater), Dr. Kalliopi Panagiotopoulou.

Die Anwesenden bei der Konferenz in Athen fanden die Idee von Selbsthilfegruppen für Geschwister höchst spannend und wollten viel darüber wissen. Selbsthilfe Gruppen für Geschwister gibt es weder in Griechenland noch in den anderen vertretenen Ländern. Dort liegt der Schwerpunkt wie in Deutschland bei Selbsthilfeangeboten für Eltern oder Ehepartner.

Da die besondere Problematik von Geschwistern als „carer“ bereits an anderer Stelle – ausführlich dargestellt wurde [18] werden im Folgenden die wichtigsten, allgemeingültigen Ergebnisse der Konferenz berichtet.

Weihnachtsstollen der Versorgung

In ganz Europa ähneln sich die Kämpfe der Angehörigen sehr mit denen, die die Angehörigen in Deutschland zu führen haben.

Wie es scheint, kennt das System sich selbst nicht ganz. Oftmals bekommen die Angehörigen von Ärzten, Behörden, Institutionen uneindeutige, oft entgegengesetzte Informationen und Tipps, was in dieser schweren Situation zu tun sei.

Es ist (der Bericht wurde kurz vor Weihnachten geschrieben) wie das gemeinsame Backen eines Weihnachtsstollens, bei dem jeder eine Zutat dazu tun sollte, es aber keine Absprachen gibt, wer sich um was kümmert oder wann es Sinn macht, welche Zutaten dazu zu geben. Dieser Stollen schmeckt niemandem.

Es ist fast unmöglich für die Angehörigen, Antworten auf die vielen Fragen zu bekommen oder gar einen Plan zu entwickeln.

Carer: mission impossible

Carer zu sein für einen psychisch erkrankten Familienangehörigen ist ein Job, in den man gänzlich unvorbereitet vom Leben rein katapultiert wird.

Es ist auch eine Aufgabe, die nicht vergütet wird und nicht selten einen dermaßen in Anspruch nimmt, sodass keine Zeit oder Kraft für einen anderen Job übrig bleiben. Oft wird diese Aufgabe von außen als ein ethisch moralischer Muss, eine Sache der Selbstverständlichkeit gesehen. Denn, wer sonst –  wenn nicht die Familie? Sei es die Mama, der Vater, die Schwester, der Ehemann …

Die Folgen der mission impossible

Viele Familienangehörige vereinsamen.

Ein Erkrankter in der Familie ist eine Geschichte, die viele, viele Jahre nicht erzählt wird. Man hofft ja, dass alles gut wird und all das ein Ende hat, dass die Familie irgendwann mal wieder frei und unbeschwert weiter leben kann.

Deswegen schweigt man, man weiß ja was für Stigmata das mit sich bringt. Jeder hat es schon irgendwann mal bei einer anderen Familie erlebt oder gehört, das Getuschel, Mitleidsblicke oder gar Garstigkeit. Möchte man die eigene  Familie dem aussetzen?

Manchmal passiert ein Wunder. Das sind Lichtblicke, die Geschichten mit Happy End. Von denen hat auch jeder schon gehört. Deswegen schweigen die Angehörigen und tragen es mit Fassung, in der trügerischen Hoffnung ‚das wird irgendwann schon mal wieder alles gut‘.

In vielen Fällen werden leider aus ein paar Jahren 15 oder 25 lange Jahre mit in den Sand gesetzten Hoffnungen. Es wird nicht wirklich besser. Irgendwann wacht man aus diesem Traum auf, und das eigene Leben lief leise und unscheinbar nebenbei. In den Alltag sind Tränen, Krisen und Krankenhausaufenthalte eingewebt. Dies Alles wurde in der Hoffnung erduldet, irgendwann die gute alte Zeit von “vor der Krankheit” wieder zu erleben.

Die eigene Kraft schwindet; das Schlimmste dabei ist diese schreckliche, sich aufdrängende Frage: Wofür?

Es hat sich nichts geändert, der Kranke ist immer noch krank, nur eben auch älter geworden, so wie der Rest der Welt. Diese Kämpfe mit der Krankheit, die manchmal sogar über die Jahre die Gleichen sind wie die vom ersten Tag dieses ungewollten, neuen Lebens, in das man schicksalhaft gestoßen wurde.

Und dann gibt es noch das “System”: Sozialdienste, Ärzte, Pfleger, Krankenhäuser, Polizeieinsätze. Das System ist wie eine riesige Kletterwand, vor die man gestellt wird, und an der man nun, ohne Sicherung, hochklettern soll. Was bleibt einem übrig, als es immer wieder zu versuchen?

Selbsthilfe hilft

Zum Glück gibt es auch Selbsthilfe und die Selbsthilfegruppen, die oft erst dann besucht werden, wenn die Erschöpfung und das Aufgeben groß geschrieben werden.

Selbsthilfe ist zwar nicht die Antwort auf alles, aber es ist ein riesiger Schritt in Richtung Anerkennung der eigenen Situation und dessen, dass man auch selbst Hilfe in dieser Situation benötigt. Im Austausch fängt die Selbstheilung vieler Angehöriger an, im Begreifen dass man nicht allein ist. Dass es viele Schicksale wie das eigene gibt und das wahrhaftig Nichts unaussprechlich ist, wenn einem die richtigen Zuhörer im richtigen Forum begegnen.

Kein Mensch soll so stark sein müssen, um alles alleine ertragen zu müssen. Und vor allem: Selbst-Isolation ist kein muss und sicherlich kein guter Berater für alle, die nach Antworten für eine Frage suchen.

Darum die Aufforderung:

„Vernetzt euch, sucht Gleichgesinnte, die Euch zuhören wollen und denen auch sie zuhören werden. Und auch wenn sich gerade keine Lösung abzeichnet werdet Ihr dennoch auf andere Gedanken kommen und den Kreis der Einsamkeit durchbrechen“.

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Fußnoten:
[15] Es gibt keine gute Übersetzung für das englische „caring“, am ehesten passt noch „sorgen, kümmern“. Es ging also um die Sorge, das Kümmern um diejenigen, die sich kümmern. Das sind die Herausforderungen und Nöte der Familienmitglieder im Umgang und Zusammenleben mit psychisch erkrankten Menschen. Gagi K. fiel die Rolle zu, dies aus Sicht einer Schwester beizutragen, denn der Fokus der anderen Teilnehmenden lag – man kann schon sagen ‚wie üblich‘ bei den Eltern von Erkrankten; allerdings sind es ja gerade nicht nur die Eltern, die sich Sorgen machen.
[16] EUSIMI: European Association of Siblings of People with mental health Problems, auf Initiative des GeschwisterNetzwerkes beim WPA-Weltkongress 2017 in Berlin gegründet.
[17] https://www.ellines.com/en/famous-greeks/5981-o-efeuretis-tou-simantikoterou-diagnostikou-test-duslexias/
[18] Siehe vorn im Bericht zur Diskussion im Symposium, und/oder unter www.GeschwisterNetzwerk.de; u.a. den Beitrag von R. Peukert: Wie geht es denn den Schwestern und Brüdern? und/oder Peukert, R. (2017): Erlebte, gelebte, erlittene Verantwortung von Schwestern und Brüdern eines psychisch erkrankten Geschwisters. In: Verantwortung übernehmen. Verlässliche Hilfen bei psychischen Erkrankungen. In: Aktion psychisch Kranke, Weiß, P., Heinz, A. (Hrsg.):Tagungsband der APK 2016, Bonn: Psychiatrie-Verlag, S. 168-190.

Der Beitrag beruht auf der Masterarbeit im Fach Psychologie vom März 2018 [19], der folgende Fragestellungen zugrunde lagen:

  • Gibt es Belastungen, die für Geschwister von an Schizophrenien erkrankten Menschen als spezifisch angesehen werden können?
  • Worin unterscheiden sie sich von den Belastungen anderer Angehörige?
  • Sind im Erwachsenenalter langfristige Auswirkungen der Belastungen zu beobachten?

Untersuchungsgruppe und Methoden

Es wurden gezielt Geschwister angefragt, die sich selbst als stark belastet bezeichnen und dies mit der schizophrenen Erkrankung der Schwester oder des Bruders in einen Zusammenhang stellen. Die Ersterkrankung des Geschwisters sollte bereits mindestens 10 Jahre zurückliegen, sodass der Verlauf als chronisch gelten darf. Vier der sieben Befragten (sechs Frauen und ein Mann) wurden in speziellen Selbsthilfegruppen für Geschwister akquiriert, bei Dreien erfolgte der Zugang über sozialpsychiatrische Hilfeeinrichtungen. Ihr Alter lag zwischen 37 und 78 Jahren. Im Durchschnitt bestand die Erkrankungsdauer 28,5 Jahre.

Als Methode wurde die der Zentralen Beziehungs-Konfliktthemen (ZBKT) nach Luborsky (1977) gewählt. Diese wurde ergänzt um „Beziehungsepisoden-Interviews“ (nach Dahlbender et al., 1993), bei denen je Proband etwa zehn berichtete Beziehungsepisoden mit dem erkrankten Bruder oder der erkrankten Schwester ausgewertet wurden; dies erfolgte nach den Regeln der Qualitativen Inhaltsanalyse  (Mayring, 2010).

Erst die Verbindung der Methoden führte zu relevanten Ergebnissen. 

Ergebnisse

Verstörende und potentiell traumatisierende Erlebnisse

Die spezielle Form der Beziehungsepisoden-Interviews führt zu emotional hoch verdichteten Interaktionsgeschichten; diese wurden im allgemeinen, leitfadengestützten Teil des Interviews nicht berichtet. Dadurch offenbarten sich verstörende und potentiell traumatisierende Erlebnisse im Kontext der Erkrankung.

Lebenslange Ambivalenz zwischen Nähe und Distanz

Die Methode der Zentralen Beziehungs-Konfliktthemen offenbarte den Versuch der gesunden Geschwister, die Situation des Bruders oder der Schwester zu verstehen, zu akzeptieren und dem Geschwister zu helfen. Während die gesunden Geschwister um Distanz von bedrängenden Erleben kämpfen und selbst da, wo sie sich – von außen betrachtet – abwenden und distanzieren, liegen dem zugleich wiederkehrende zentrale Wünsche nach Nähe und Zugewandtheit zu Grunde. Darin wird die voraussichtlich lebenslange Ambivalenz der gesunden Geschwister deutlich.

Familiäre Beziehungen

Die Geschwister berichten von erheblichen Konflikten innerhalb ihrer Herkunftsfamilie. Sie sehen ihre Beziehungen zu den Familienmitgliedern (in der Folge der Erkrankung) als deutlich belastet an. Die familiären Beziehungen stellen weniger eine Bewältigungsressource dar, sondern eher einen eigenständigen Belastungsfaktor. Das Gewicht dieses Faktors ist voraussichtlich den Auswahlprozessen der Probanden sowie der gewählten Fragerichtung geschuldet [20].

Im Detail berichten die Geschwister einerseits von einer Überbeanspruchung durch die Eltern. Sie fühlen sich von ihren Eltern beispielsweise emotional zur Entlastung benutzt oder sehen sich mit Erwartungen konfrontiert, die sie nicht erfüllen können oder möchten. Andererseits bemängeln sie eine Vernachlässigung durch die Eltern [21]. Sie fühlen sich alleine gelassen, zurückgesetzt, vor Aggressionen nicht geschützt und mit Schweigegeboten über die Erkrankung belegt.

Die Atmosphäre innerhalb der Familie ist von indirekten Umgangsweisen geprägt. Die Geschwister schildern indirekte Kommunikationsweisen und unterschwellig spürbare Stimmungen, über die nie gesprochen wird. Sie fühlen sich verantwortlich, bei Konflikten zwischen Erkranktem und Eltern zu vermitteln und folgen so Intentionen, die ihnen von den Eltern suggeriert werden [22].

Insgesamt beschreiben die Geschwister erhebliche Konflikte mit den Eltern und äußern sich kritisch und vorwurfsvoll ihnen gegenüber. Sie stellen heraus, dass sie Situationen anders wahrnehmen, einschätzen oder bewerten als ihre Eltern. Sie werfen ihnen vor, dass diese sich nicht ausreichend mit der Erkrankung ihres Kindes auseinandersetzen, die Erkrankung nicht wahrhaben wollen oder verleugnen, und sich selbst belügen würden. Dadurch stellt sich bei ihnen erhebliche Wut auf die Eltern ein.

Aversive Emotionen

In der Notwendigkeit, sich mit unangenehmen Gefühlen und emotionalen Belastungen auseinanderzusetzen, unterscheiden sich die gesunden Geschwister weder von den erkrankten Geschwistern, noch von ihren Eltern. Die Geschwister berichten über Gefühle von Verunsicherung, Hilflosigkeit, Traurigkeit und Schwere, Angst, Schuld, Wut, Ekel und Scham, Hadern und Trauern. Sie machen sich Sorgen und sie ärgern sich manchmal auch über die Reaktionen von Außenstehenden.

In der bisherigen Forschung bleiben jedoch die unterschiedlichen Bedeutungen der Emotionen für die einzelnen Personengruppen völlig unberücksichtigt. Viel zu schnell führt das zu dem Schluss, die Situation von Geschwistern würde sich nur sehr unwesentlich von denen der Eltern unterscheiden. Sie seien mit ähnlichen Konflikten und Emotionen beschäftigt, wie ihre Eltern auch.

Zum Thema Schuldgefühle konnte beispielsweise aufgezeigt werden, dass sich die Schuldgefühle der Eltern häufig darauf beziehen, die Erkrankung verursacht oder vererbt zu haben (Schmid, Spießl & Cording, 2005). Die Schuldgefühle der gesunden Geschwister lassen sich aber eher als Überlebensschuld verstehen (Bock, Fritz-Krieger & Stielow, 2008). Eine Schwester sagte im Interview dazu „Ich denke, man hat die ganze Zeit ja doch auch so ein latentes Schuldbewusstsein. Warum ist sie krank, und ich nicht? Wir kommen doch aus dem gleichen Elternhaus“. Peukert prägte in diesem Zusammenhang den Begriff der Solidaritätsschuld (Peukert, 2017). Für die dritte Personengruppe im Bunde, die Erkrankten selbst, gibt es noch weniger gesicherte Erkenntnisse dazu. Aus Gesprächen mit Erkrankten ist bekannt, dass sie sich häufig schuldig daran fühlen, ihren Angehörigen so viel Kummer zu bereiten [23].

Ähnliche Unterschiede gibt es bei der Trauer. Sowohl Eltern als auch die gesunden Geschwister trauern meist zu irgendeinem Zeitpunkt über den Verlust des ehemals gesunden Familienmitgliedes. Bei Eltern bezieht sich diese Trauer meist auf die verlorenen Zukunftsperspektiven ihres Kindes (Schmid, Spießl & Cording, 2005). Bei den von mir interviewten Geschwistern bezieht sich die Trauer eher auf die Gegenwart und die verlorene Beziehung mit dem erkrankten Geschwister. Und die gesunden Geschwister betrauern zusätzlich, wie sich die Erkrankung auch auf ihre eigene Lebensrealität und Lebensqualität auswirkt. In der Forschung zu den Eltern findet sich das so nicht.

Diese Ausführungen sollen deutlich machen, dass die Familienmitglieder zwar das gleiche Gefühl benennen können, sich jedoch trotzdem für jede Personengruppe eine völlig andere Bedeutung damit verbindet. Dies erleben Geschwister, die – in der Regel nur kurz – Selbsthilfegruppen von Eltern besucht haben. Um die Situation von Geschwistern besser zu verstehen und um angemessene Hilfeangebote entwickeln zu können ist es dringend notwendig, diese Unterschiede zu erkennen und zu beschreiben.

Auch aus psychologischer Sicht sind solche Unterschiede von enormer Wichtigkeit. Bei dem Gefühl der Verunsicherung macht es beispielsweise einen erheblichen Unterschied, ob es latent und dauerhaft in einem erwachsenen Menschen in ihrer Rolle als Mutter oder Vater ausgelöst wird, oder bei einem Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen. Verunsicherungen haben bei Kindern und jungen Erwachsenen, die gerade erst ihre Identität ausbilden bzw. festigen, sehr wahrscheinlich völlig andere Auswirkungen, als bei Erwachsenen, die bereits eine stabile Identität entwickelt haben; als Faustregel kann gelten: „Je jünger, je massiver die Auswirkungen.“

Diese Unterschiede können sich auf die Gesundheit der Geschwister auswirken.

Verstörende, destabilisierende und intrusive Einflüsse

Verstörende Einflüsse führen allgemein zu eher kurzfristigen Irritationen bei den gesunden Geschwistern. Hier werden Verhaltensweisen benannt, die als merkwürdig, störend oder sozial auffällig erlebt werden. Dazu zählen z.B. das Vernachlässigen der Gesundheitssorge sowie das Erleben der negativen Emotionen des Erkrankten. Verstörende Einflüsse sind aber beispielsweise auch das Unverständnis Außenstehender. Diese Gruppe von Einflüssen können i.d.R. von den Geschwistern recht gut verarbeitet werden.

Die destabilisierenden Einflüsse gehen mit einer hohen Belastung der gesunden Geschwister einher und wirken sich potentiell destabilisierend auf die Gesundheit und das psychische Wohlbefinden der gesunden Geschwister aus. Als destabilisierend werden die grenzüberschreitenden Verhaltensweisen des Erkrankten betrachtet; die dauerhafte und sich anhäufende (kumulierende) Belastung über lange Zeiträume hinweg; die Unberechenbarkeit der Erkrankung und auch der Reaktionen des Erkrankten; ebenso die befürchtete oder tatsächliche Stigmatisierung, die sich negativ auf das Selbstbild oder das Selbstwertgefühl der gesunden Geschwister auswirken kann. Destabilisierende Einflüsse beanspruchen die Bewältigungskompetenzen der gesunden Geschwister enorm und bedürfen ausreichender Ressourcen bzw. eines hohen Maßes an Resilienz, um die eigene Gesundheit und das eigene psychische Wohlbefinden zu bewahren.

Die intrusiven Einflüsse sind eines der zentralen Ergebnisse der Studie. Die Schilderungen dieser Erlebnisse beruhen nicht zuletzt auf der besonderen Interviewform; die Interviewten wurden gebeten, einzelne Situationen zu erzählen, die sog. „Beziehungsepisoden“. Ausnahmslos alle Interviewten berichteten auch von solchen Erlebnissen, die plötzlich von außen auf sie eingeströmt sind, sie emotional extrem aufgewühlt haben und sie quasi schutzlos überschwemmt haben. Diese Erlebnisse sind schwer zu verarbeiten und können potentiell traumatisierend sein. Eine Schwester schilderte beispielsweise:

„Und da war sie bei meiner Mutter, und hat die ganze Wohnung zertrümmert. Und hat auch ein Messer nach meiner Mutter geworfen. Also auch Möbel geworfen, wo man sich hinterher fragte, woher sie überhaupt die Kraft dafür hatte.“

Die Geschwister berichten von Aggressionen und gewalttätigen Verhaltensweisen des Erkrankten; von Ausnahmesituationen und Notfällen mit dem Erkrankten, die häufig auch das Hinzuziehen von Polizei oder Rettungskräften erforderlich machten; und von Erlebnissen, die zu Schock und Panikgefühlen geführt haben. Auch das Erleben von wahnhaften, psychotischen oder durch Medikamente stark sedierten Zuständen beim erkrankten Geschwister kann intrusive Wirkung haben. Ebenso wie auch das Erleben der Suizidalität des Erkrankten.

Ob es in der Folge solcher Erlebnisse tatsächlich zu Traumatisierungen oder Traumafolgestörungen kommt, hängt von vielen weiteren Faktoren ab. Die hier beschriebenen Einflüsse werden als intrusiv bezeichnet, weil sie das Potential von Folgeerkrankungen in sich tragen und zumindest zu einer erhöhten Vulnerabilität bei den Geschwistern führen. Möglicherweise werden nicht nur das Ausmaß intrusiver Erlebnisse, sondern auch die Auswirkungen solcher intrusiven Erlebnisse auf junge Erwachsene [24] weitgehend unterschätzt. Es ist davon auszugehen, dass es auch und besonders bei der Bewältigung intrusiver Einflüsse Unterschiede im Bewältigungsvermögen zwischen Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen im Vergleich zu den Eltern im mittleren oder höheren Erwachsenenalter gibt.

Für diese Hypothese spricht, dass bis auf eine Schwester die anderen sechs Geschwister von eigenen Erfahrungen einer psychischen Erkrankung bzw. psychiatrisch relevanter Symptome berichten: Panikattacke, Angststörung, selbstverletzendes Verhalten, Posttraumatische Belastungsstörung, Suchterkrankung, unterschiedliche psychosomatische Erkrankungen. Die Störungen mit Krankheitswert scheinen zum Zeitpunkt des Interviews weitgehend überwunden zu sein, sie machen aber deutlich, wie vulnerabel die sogenannten gesunden Geschwister sind.  Hier wird auch deutlich, warum viele Geschwister die Unterscheidung zwischen „gesunden Geschwistern“ und „erkrankten Geschwistern“ ablehnen.

Unter Angehörigen beginnt das Erleben von Gewalt erst langsam aus der Tabu-Zone herauszutreten; in den letzten Monaten fanden mehrere Tagungen zu diesem Thema statt. Allerdings wird in der bisher zugänglichen Literatur allenfalls von ‚Beleidigungen‘ oder allgemein von ‚aggressivem Verhalten‘ berichtet, ohne dass dies konkretisiert würde. Hinter diesem Schweigen lässt sich der Wunsch vermuten, nicht auch noch als Angehöriger zur weiteren Stigmatisierung von psychisch erkrankten Menschen beizutragen.

Langfristige Auswirkungen 

Die gesundheitlichen sowie sonstigen Beeinträchtigungen führen die Interviewten auf die Erkrankung des Geschwisters zurück. Dies ist nahe liegend, da über das erkrankte Geschwister gesprochen wurde; viele der Beschreibungen wird man auch in Familien ohne eine psychische Erkrankung finden, was ihre Bedeutung für die befragte Gruppe allerdings nicht relativieren sollte.

Die Befragten beschreiben neben den negativen auch positive Auswirkungen auf die persönliche sowie die berufliche Entwicklung; sie konstatieren ein verändertes Bedürfnis nach einer höheren Qualität der eigenen Beziehungen; sie beschrieben die unfreiwillig-freiwillige Bereitschaft, sich zurückzunehmen; sie heben ein hohes Maß an Erschöpfung hervor sowie die beschriebenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Dies terminiert in der Einschätzung, dass eine Bewältigung eigentlich nicht oder kaum möglich sei.

Diese Ergebnisse sind überwiegend bereits bekannt und in der Literatur beschrieben [25]. Als Illustration folgen einige Zitate aus der Studie.

Aussagen zur persönlichen Entwicklung:

„Und ich würde mich zwar vielleicht immer noch fürchten, wenn mir so jemand begegnet, aber ich hätte nicht solche Vorurteile. Also Menschen und ihre Schicksale, ich weiß nicht wie ich das anders ausdrücken soll, als dass ich weniger oberflächlich bin.“

„Ich habe heute immer noch Schwierigkeiten mit Männern, die mich herabsetzen. Oder die narzisstisch oder halb größenwahnsinnig oder zu sehr von sich selbst überzeugt sind. Also die sich für etwas ganz Tolles halten und damit verbunden ständig andere Menschen auch klein machen müssen.“

Aussagen zur beruflichen Entwicklung:

„Klar auf jeden Fall hätte ich zum Beispiel diese Fortbildung nicht machen können, wenn mein Bruder nicht erkrankt wäre. Und ich arbeite in einer sozialen Einrichtung, die sich um psychisch Kranke kümmern.“

„(…) Nicht das Gefühl hatte, dass ich jetzt mein Leben leben kann, meine Ausbildung machen kann. Ich wusste überhaupt nicht, was ich machen will.“

Aussage zur Qualität von Beziehungen:

„Und wenn ich so überlege, wo es mich am meisten verändert hat, dann glaube ich eben, dass ich eine emotionale Tiefe habe, die ich einerseits um keinen Preis der Welt missen möchte. Aber die andererseits hart ist manchmal. Und mich auch isoliert. Das glaube ich schon. Es können nicht alle etwas damit anfangen. Also etwas, das einsam macht halt.“

Für Rückfragen oder Anmerkungen steht die Autorin gerne zur Verfügung: bach@geschwisternetzwerk.de

Literatur

Bock, T., Fritz-Krieger, S., & Stielow, K. (2008). Belastungen und Herausforderungen. Situation und Perspektive von Geschwistern schizophrener Patienten. Sozialpsychiatrische Information, 38(1), 23-31.
Dahlbender, R. W., Torres, L., Reichert, S., Stübner, S., Frevert, G., & Kächele, H. (1993). Die Praxis des Beziehungsepisoden-Interviews. Zeitschrift für Psychosomatische Medizin und Psychoanalyse, 39(1), 51-62.
Luborsky, L. (1977). Measuring a pervasive psychic structure in psychotherapy: The core conflictual relationship theme. In N. Freedman & S. Grand (Hrsg.). Communicative structures and psychic structures (S. 367-395). Boston, MA: Springer.
Mayring, P. (2010). Qualitative Inhaltsanalyse. In G. Mey & K. Mruck (Hrsg.). Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie (S. 601-613). Wiesbaden: Springer Fachmedien.
Peukert, R. (2017). Erlebte, gelebte, erlittene Verantwortung von Schwestern und Brüdern eines psychisch erkrankten Geschwisters. In Aktion psychisch Kranke, P. Weiß & A. Heinz (Hrsg.). Verantwortung übernehmen. Verlässliche Hilfen bei psychischen Erkrankungen. Tagungsband der APK (S.168-190). Bonn: Psychiatrie-Verlag.
Schmid, R., Spießl, H., & Cording, C. (2005a). Zwischen Verantwortung und Abgrenzung: Emotionale Belastungen von Angehörigen psychisch Kranker. Psychiatrische Praxis, 32(06), 272-280.

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Fußnoten:
[19] Die Masterarbeit mit dem Titel „Auswirkungen von Psychose-Erkrankungen auf die Geschwister der Erkrankten: Belastungen, Konflikte, Wünsche und Bewältigungsformen. Eine qualitative Studie.“ ist online unter www.geschwisternetzwerk.de/wissen/literatur zu finden, ebenso wie eine Zusammenfassung, die über diesen Beitrag hinausgeht (u.a. werden die verwendeten Methoden expliziert).
[20]  Gezielt wurden ausschließlich stark belastete Geschwister angesprochen und der Schwerpunkt der Interviews lag ausschließlich auf den Belastungen, nach Ressourcen oder positiven Beziehungsgeschichten wurde nicht gefragt! Dies schmälert die Aussagekraft für die gebildete Untersuchungsgruppe keinesfalls.
[21] Die Interviewten verwenden von sich aus diesen Begriff „Vernachlässigung“, der unter den Geschwistern des GeschwisterNetzwerkes gezielt vermieden wird, da er in der Gefahr steht, missverstanden zu werden.
[22] Vor dem Hintergrund der systemischen Theorie lassen sich diese Ergebnisse als Verschiebungen in der Kommunikation interpretieren. Dahinter steht der Versuch, die anderen Familienmitglieder nicht zu belasten. Gleichzeitig werden auf diese Weise Konflikte vermieden und die familiäre Wirklichkeitskonstruktion (Schweitzer & von Schlippe, 2009) wird immer konfuser.
[23] Siehe auch am Ende des Beitrags von Leonore Julius
[24] Bei allen Interviewten ist die Erkrankung ihres Geschwisters zu einer Zeit ausgebrochen, in der sie selbst Jugendliche oder im jungen Erwachsenenalter waren, deshalb beziehe ich mich in meinen Ausführungen nur auf diese Lebensphase. Grundsätzlich spielen das Alter und der Entwicklungsstand eine erhebliche Rolle und sollten immer differenziert betrachtet werden.
[25] beispielsweise zu finden in der Literatursammlung des GeschwisterNetzwerkes unter www.geschwisternetzwerk.de/wissen/literatur.

Tagesseminar für Eltern und Geschwister am 19.08.2017

Moderatoren: Reinhard Peukert und Holger Simon

Aus der Einladung:

Wenn in der Familie ein Kind von einem oder mehreren Geschwistern krank wird, verändert sich das ganze Familienleben. Verständlicherweise steht das psychisch erkrankte Kind im Mittelpunkt. Alles dreht sich um dieses Kind. Plötzlich ist kein Raum mehr für die gesunden Kinder. Man hat ja Vertrauen, dass die gesunden Kinder ihr Leben meistern. Oft kommt es vor, dass sich die gesunden Kinder zurückziehen. Eltern befinden sich in einer Zwickmühle. Sie wollen dem kranken Kind beistehen, aber auch für die gesunden Kinder da sein. Eltern stehen jeden Tag vor dem Problem die gesunden Kinder nicht aus ihrem Blickfeld zu verlieren. Eltern sehen schon, dass die Geschwister mit ihren eigenen Bedürfnissen zu kurz kommen.

Protokoll: Reinhard Peukert und Holger Simon

„Wir sind übrigens auch noch da! Ich bin a u c h Dein Kind“ lautete der Titel einer Tagesveranstaltung, zu der Frau Monika Zindorf als Vorsitzende von Territorio (Verein für gemeindenahe psychosoziale Versorgung e.V. Mainz) Eltern eingeladen hatte, die in vorangegangenen Treffen ein Unbehagen geäußert hatten das sie immer dann fühlten, wenn sie an ihre gesunden Kinder dachten – denn ihnen war klar, dass die Belastungen und die Konzentration auf das erkrankte Kind an dem oder den gesunden Geschwisterkindern nicht spurlos vorbei gegangen sein kann.

13 Eltern (davon ein Elternpaar) und vier Geschwisterkinder folgten der Einladung (siehe unten), ebenso wie wir: Holger Simon und Reinhard Peukert, die die Rolle von Moderatoren an einem bewegenden Tag einnahmen.
Außerdem nahm die Ehegattin eines psychisch erkrankten Mannes teil, und zwar aufgrund eines höchst unerfreulichen Erlebnisses mit dem Bruder ihres Mannes, der kurz nach Krankheitsbeginn zu ihr sagte: „Mit dem X kann man nicht mehr reden, der ist ja geistig nicht mehr normal!“
Das war eine zweifelsfrei verletzende Äußerung, die jedoch auch eine schmerzliche Erfahrung von sehr vielen gesunden Geschwistern spiegelt: ihm ist sein langjähriger und vertrauter Gesprächspartner verlorengegangen.

Eine breite und offene Diskussion

Die Fülle, Breite und Tiefe der Beiträge kann nicht wiedergegeben werden – also beschränken wir uns auf das, was uns persönlich überrascht hat und/oder was wir persönlich für besonders wichtig halten.

Höchst beeindruckt waren und sind wir von der Offenheit, mit der alle Beteiligten ihre schwierigen Situationen schilderten – nicht etwa als Klagen oder Vorwürfeverpackt, sondern als Selbstreflexion auf das, was ihre Situation als Familie mit mind. einem psychisch erkrankten Menschen angeht.
Hierbei wird sicher die ggf. schon langjährige Auseinandersetzung mit den Problemen und mit sich selbst in einer Angehörigengruppe eine gewisse Rolle spielen.

Das „partielle funktionelle Schweigen“

Für uns überraschend war die wiederholte Schilderung des „Partiellen Familiären Schweigens“. Als die Erkrankung begann und das Familienleben durcheinander rüttelte war die Erkrankung und/oder das verstörende Verhalten natürlich Thema für alle Familienmitglieder. Sehr bald mussten alle, als sich die Erkrankung als langwierige bzw. chronische herausstellte, ihre Haltung zur Erkrankung, zu dem erkrankten Familienmitglied und zu den weiteren Familienmitgliedern finden, mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen: die eine Familie fällt völlig auseinander, die Ehe wird geschieden, alle leben weit voneinander entfernt – bis auf ein Familienmitglied, das sich um die bzw. den Erkrankten kümmert. Andere Familien rücken dicht zusammen, um das gemeinsame Problem gemeinsam anzugehen – jeder auf seine Weise.
Aus den Berichten der gesunden Geschwisterkinder wissen wir: ihre Weise bei der Bewältigung des gemeinsamen Problems besteht häufig darin, die (vielleicht nur vermeintlichen?) Erwartungen an sie anzunehmen: Zurecht zu kommen, stark zu sein, keine Probleme zu haben etc. Genau so sagen es auch die anwesenden Geschwisterkinder und ergänzen: „Ich hatte und habe das Gefühl, nicht das Recht auf meine eigenen Probleme zu haben, ich habe nie meine Eltern noch zusätzlich mit dem belastet, was mich berührt – sie waren doch schon belastet genug!“

In ähnlicher Weise äußert sich auch eine der Schwestern im Beisein der ebenfalls anwesenden Mutter, der dieses Selbsterleben erstmals mitgeteilt wurde – was sicher für Gesprächsstoff auf der Rückreise aus Mainz gesorgt hat.

Dank der Offenheit dieser Familie wurden wir Zeugen, wie das in Bewegung geriet, was von anderen Eltern vorher als das „Partielle Familiäre Schweigen“ vorgestellt wurde, unter dem sie sehr litten und das sie in das Seminar geführt hatte. Nachdem die Familie zunächst für alle unübersehbar durcheinander gerüttelt wurde, sich die familiären Rollen daraufhin neu sortiert hatten, jeder für sich im bestehenden Spannungsfeld seine Position – verbunden mit entsprechenden Verhaltensweisen und -Erwartungen – gefunden hatte ging das Leben weiter, aber das „Partielle Familiäre Schweigen“ hielt Einzug!
Damit ist nun ganz und gar nicht das Ende familiärer Kommunikation und/oder die Entfremdung der Familienmitglieder voneinander gemeint. Die anwesende Familie, von der oben die Rede war, kann als das Gegenteil angesehen werden: es wird in der Regel offen und vertrauensvoll miteinander gesprochen und viele Erfahrungen werden geteilt – aber diejenigen, die mit der besonderen Situation als Geschwister einer erkrankten Schwester oder eines erkrankten Bruders zusammen hängen nicht, darum Partielles Familiäres Schweigen.

Die bereits oben zitierte Frau eines psychisch erkrankten Mannes meine dazu: „Dieses Schweigen in der Herkunftsfamilie meines Mannes macht mir noch heute die meisten Probleme.“

Fragen der Eltern zur Situation der Geschwisterkinder

Gleiches gilt sicher auch für die Eltern, die heute unter dem Schweigen leiden; sie fragen sich

  • wie sehr die Erkrankung ihre gesunden Kinder beeinflusst haben könnte,
  • unter welchen Belastungen diese Kinder aufgrund der Erkrankung in der Familie gestanden haben – vielleicht nochstehen,
  • wie sie als Eltern von diesen Kindern wahrgenommen worden sind,
  • ob diese Kinder zufrieden sind – oder ihnen ggf. Vorwürfe machen,
  • etc.

Fragen müssen vertagt werden – die Zeit sie zu stellen verrinnt …

Aus Sicht der Autoren hatte das Schweigen eine wichtige Funktion. Es hat wesentlich dazu beigetragen, dass die gewählten – und keinesfalls leicht zu handhabenden – Haltungen und Rollen in der Familie sich so ‚einrütteln‘ konnten, dass alle Beteiligten unter den damals gegebenen Bedingungen irgendwie mit den außerordentlichen Herausforderungen fertig werden konnten. (Daher sprechen wir auch vom ‚funktionellen‘ familiären Schweigen.) Aber die Zeit lief weiter, alle Beteiligten wurden älter, das Erleben wurde weniger aufwühlend, die Auseinandersetzung mit der Thematik führte nicht nur zu Antworten, sondern auch zu Fragen, die zwar vorher schon längst bedeutsam waren – aber im Zuge der Aufregungen sowie der Herausforderungen kamen sie nicht zu Bewusstsein, also konnte sie auch nicht gestellt wurden. Eine dieser Fragen lautet:
„Wie geht es eigentlich den gesunden Kinder in der Familie?“ – mit den oben aufgeführten Unterfragen.

Warum werden sie nicht jetzt gestellt, wo es doch ruhiger geworden ist und alle Beteiligten mit der Situation deutlich besser zurecht kommen als in der ersten Zeit, als alles fremd, ungewohnt und aufwühlend war?

Geht die Zeit erst einmal über die Momente hinweg, zu denen etwas hätte angesprochen werden sollen oder können wird es immer schwieriger, darauf zurück zu kommen. Das kennen wir alle, und es wird umso schwieriger, umso brisanter das Anzusprechende ist und umso unsicherer wir sind, was das Ansprechen nach sich ziehen könnte.
Aber genau das erhöht auch das Unbehagen, die Fragen nicht zu thematisieren und es verstärkt den Wunsch, dies dennoch zu tun – aber wie? Dazu weiter unten unter „Ergebnisse und Folgerungen“.

Wie geht es den gesunden Kindern in der Familie?

Diese Frage war für die anwesenden Eltern so bedeutsam, dass sie die Ergebnisse aus Geschwistergesprächen und Forschungsprojekten unbedingt erfahren wollten.

… wir stehen im Schatten der elterlichen Aufmerksamkeit

Für die gesunden Kinder – die anwesenden Geschwister sowie die in verschiedenen Zusammenhänge befragten – steht ein Umstand im Vordergrund: die Schwester oder der Bruder wird krank, dies zieht nahezu die gesamte familiäre Aufmerksamkeitauf sich, die gesunden Geschwister geraten mit ihren jeweiligen alterstypischen Anliegen und Problemen in den Hintergrund.

In der Diskussionsrunde wurde sehr schnell klar: dies ist ein Geschehen in nahezu allen Familien, in denen ein Kind chronisch erkrankt, egal um welche Erkrankunges sich handelt. Auch in Familien mit einem psychisch kranken Kind entstehen die hier berichteten Dynamiken erst mit der Chronifizierung, d.h. bei einem lange andauernden Krankheitsgeschehen, unabhängig von den dazwischen liegenden gesunden Zeiten.

Die Mutter eines an Krebs erkrankten Kindes sagte in einer Radio-Sendung: „Alles drehte sich nun um die Krankheit von Y, und der kleine Z kam zu kurz!“
Ist die Erkrankung eine psychische kommen noch einige beunruhigende Aspekte hinzu.

… Werde ich oder werden meine Kinder auch psychisch erkranken?

Die Geschwister fragen sich, ob sie ggf. auch psychisch erkranken könnten, und/oder ob sie dies für ihre Kinder befürchten müssen.

Ich muss immer die Starke sein, ich darf keine Probleme haben …

Und dann tritt neben die als Mangel erlebte niedrige Aufmerksamkeit durch ihre Eltern die Erfahrung, als gesundes Kind von den Eltern als stark und frei von eigenen Problemen wahrgenommen zu werden. Dies bestätigten die anwesenden Geschwister: Sie würden sich immer bemühen, ihren Eltern nicht noch mehr Probleme zu machen; eine Schwester formulierte es so: „Ich glaube immer, ich habe nicht das Recht auf eigene Probleme und Ansprüche“. Die Folge: Rückzug, Anpassung an die Erwartungen, und die Bedürfnisse werden ggf. außerhalb der Familie befriedigt.

Den anwesenden Eltern kommentieren dies mit ihren Erfahrungen.
„Sie (die gesunde Schwester) hatte Nichts zu klagen. Sie hatte ihren Kreis.“
„Unser gesunder Sohn ist immer da und bereit, wenn er gebraucht wird – das war schon immer so.“
„Es war für uns beruhigend, dass er (der gesunde Sohn) so stabil und gesund war. – Aber war er wirklich so stabil?“

Aus diesem Gesprächsteil erwuchs die Frage:
„Wie kann ich die Balance halten zwischen den Anforderungen und Ansprüchen der Geschwister?“
Eine Mutter thematisierte auch das Problem, dass bei mehreren gesunden Geschwistern nicht alle gleich ‚übersehen‘ werden: „… die Mittlere geht unter ,sie wird zerrieben!“ Nach dem bisher gesagten ist deutlich: dies ist eine große Herausforderung, die ggf. gar nicht zu meistern ist, siehe weiter unten.

Wir sehen, was unsere Eltern auf sich nehmen …

Was Eltern bereit sind auf sich zu nehmen zeigte sich einmal mehr: eine Familie hat die erkrankte erwachsene Tochter, die ein Kind bekam, wieder bei sich aufgenommen – mit Wirkungen für die anderen Geschwister, insbesondere die, die als Jüngere noch bei ihren Eltern leben. Sie mussten sich sofort sehr zurücknehmen: eine erkrankte Schwester und das kleine Kind erfordern viel Aufmerksamkeit.

Eine Familie hatte sich vor Jahren psychologischen Rat für den Umgang mit ihrem gesunden Kind geholt; der Junge wurde vom Therapeuten gebeten, ein Bild zu malen. Er zeichnete zwei Bäume: in dem einen saßen seine Eltern mit dem erkrankten Kind, in dem anderen er – allein, mit wohl traurigem Blick auf den stark bewohnten Baum!

Die Bedeutung der gesunden Geschwister beim Elterntreffen

Ursprünglich war eine reine Elterngruppe geplant, es kam anders – und das war gut so. Die anwesenden Eltern konnten aus dem Mund der gesunden Geschwister deren Wahrnehmungen und deren Verarbeitungsbemühungen erleben, nicht nur kognitiv, sondern in unmittelbarem emotionalem Miterleben.

Außer den bereits protokollierten Berichte der Geschwisterkinder aus ihrer Innenwelt konnten die Eltern u.a. auch die große Bandbreite der Unterschiede in der Verarbeitung der Geschwister-Rolle erleben:
„Ich bin nicht verantwortlich für das Glück meiner (erkrankten) Schwester.“ bis hin zu: „Ich verbiete mir, glücklich und froh zu sein.“

In der Runde wurde Eltern erstmals gesagt, dass die gesunden Geschwister die Auffälligkeiten ihrer kranken Schwester bzw. ihres kranken Bruders viel früher wahrgenommen hatten als die Eltern selbst: „Ich hatte schon immer Schwierigkeiten mit ihm“ – „Er wusste grundsätzlich und immer Alles besser …..“

Die Eltern konnten die schleichende Hoffnungslosigkeit gesunder Geschwister wahrnehmen:
„Es bringt nichts, egal was ich tue – sie ist krank, ich kann nichts ausrichten.“

Das spricht für gemeinsame Treffen – allerdings mit zu Beginn getrennten Gruppen, in denen die jeweiligen Gruppenmitglieder die Stärkung aufgrund gemeinsamen Erlebens erfahren können die sie benötigen, um sich in der gemeinsamen Gruppe offen und ‚schonungslos‘ zu äußern.
So hatte auch der Elterntag begonnen und die Geschwisterkinder haben vor der gemeinsamen Debatte in einer Vorrunde die Gelegenheit genutzt, Wünsche und Forderungen an die Eltern zu formulieren – ein guter Beginn für den Teil: „Was tun?“

Ergebnisse und Folgerungen:
Die zentralen Problemstellungen – und erste Überlegungen zu Lösungen

Die zentralen Fragen der Eltern lauteten:

  • Wie können wir die Balance was unsere Kinder betrifft?
  • Was dürfen wir unseren gesunden Kindern zumuten, und was nicht?
  • Wie können wir erfahren, wie es unseren gesunden Kinder geht – angesichts des eingetretenen ‚funktionellen‘ Schweigens in der Familie?

Die vier gesunden Geschwister haben in ihrer Vorrunde deutliche Hinweise auf Antworten gegeben. Die anwesenden Geschwister haben zu Anfang des Tages in einer Kleingruppe Wünsche und Forderungen an die Eltern formuliert:

  • Aufklärung und Beteiligung: Nicht Wissen über Diagnosen, Behandlung oder Medikation stehen im Fokus des Wunsches nach Aufklärung. Vielmehr formulieren die Geschwister den Wunsch und das Anliegen, beteiligt zu werden und zu erfahren was gerade passiert. Sie erleben überdeutlich, dass sich in der Familie etwas verändert und ihre Bruder oder Schwester „anders“ ist.
  • Hilfe für die Eltern: Bei Überforderung der Eltern durch die schwierige Situation erwarten die gesunden Geschwister von ihren Eltern, dass diese sich gezielt Hilfe im professionellen Hilfesystem suchen.
  • Offenheit: Der Forderung nach Offenheit stellen die Eltern das Persönlichkeitsrecht des Erkrankten gegenüber. Sie befürchten, dass sich der Kranke zurückgesetzt und übergangen fühlt. Tatsächlich aber bedeutet Offenheit zunächst: überhaupt erst einmal gemeinsam zu kommunizieren über die jeweils eigenen Belange, Gefühle und Belastungen.
  • Ehrlichkeit und keine Schonung: Das gut gemeinte Zurückhalten auch negativer Ereignisse, Prognosen und Vorkommnisse zur Schonung der gesunden Geschwister führt bei diesen zu einer zunehmenden Belastung durch das Nichtwissen. Die Enge geschwisterliche und familiäre Bindung lässt sie sehr feinfühlig die Belastungen in der Familie wahrnehmen. Ein Verschweigen und Zurückhalten hat einen gegenläufigen, höchst belastenden Effekt.
  • Keine Schuldzuweisungen: Bitte keine Vorwürfe, durch geschwisterliches Verhalten Krankheitsepisoden auszulösen.
  • Auseinandersetzung mit dem Thema: Gerade in der frühen Erkrankungsphase erwarten die (sehr häufig noch jungen,Geschwister), dass ihre Eltern sich der Thematik stellen: „Psychische Erkrankungen und Wirkungen auf die gesamte Familie“.
  • Gemeinsam aufarbeiten: Es ist eine Familienaufgabe, die Erkrankung eines Familienmitgliedes aufzuarbeiten, um mit dieser Situation fertig zu werden. Dazu müssen alle Familienmitglieder eingebunden werden, um die subjektiven Belastungen Aller weitest möglich zu reduzieren.
  • Übernahme der Verantwortung: Geschwister erwarten, dass Eltern ihrer Rolle gerecht werde und die Verantwortung für ihr erkranktes Kind übernehmen und diese nicht den gesunden Geschwistern zuweisen.

Die zuletzt geäußerte Erwartung der gesunden Geschwister hat viele Facetten, je nach Lebensalter der Eltern sowie der Kinder.

In der eigenen Kindheit und Jugend sehen die gesunden Geschwisterkinder die Verantwortung ihrer Eltern u.a. in den oben aufgezählten Erwartungen.

Deutlich schwieriger wird es bei fortschreitendem Lebensalter der Eltern; dann rückt die Frage nach der Neuverteilung der wechselseitigen Verantwortung in den Fokus sowie Überlegungen, wie diese Neuausrichtung bewerkstelligt werden könnte. Im Bewusstsein, dass die Eltern als Verantwortungsträger in der ersten Reihe ausfallen werden, stellt sich für gesunde Geschwister, wie auch Eltern, früher oder später die Fragen nach dem Übergang der Verantwortung. Dem häufigen Wunsch der Eltern, den gesunden Kindern nichts aufzubürden, steht die Erwartung der Geschwisterkinder nach transparenter und verbindlicher Klärung entgegen.

Selbst wenn die Familien diese gemeinsame Aufgabe beherzt in Angriff nehmen ereilt sie dennoch ein Problem: Planungen, Abstimmungen und Aufgabenverteilungen können nicht abschließend vereinbart werden, da sich im Zeitverlauf die persönlichen Situationen der gesunden Geschwister ebenso wie die der erkrankten Geschwister ändern werden.

Die ggf. schrittweise Verantwortungsübernahme für eine schwer chronisch kranke Schwester oder Bruder hat letztlich Auswirkungen auf die gesamte Lebensplanung, die Partnerschaft sowie die eigenen Kinder. Trotz oder gerade wegen dieser Unwägbarkeiten betonen die Teilnehmenden – Eltern und Geschwisterkinder – die herausragende Bedeutung der wiederkehrenden Thematisierung innerhalb der Familie, und zwar bei unbedingter Einbeziehung aller Betroffenen, einschließlich des erkrankten Familienmitgliedes.

Neben der abnehmenden Lebenskraft der Eltern sind das Recht und die Pflicht der gesunden Geschwister zu berücksichtigen, auf sich selbst und ihre Familien zu achten, das eigene Leistungsvermögen und die Belastungsgrenzen der eigenen Familie zu berücksichtigen. In diesem komplizierten Wechselspiel müssen die Familien die Zukunft aller Familienangehörigen überdenken und gestalten.

Damit verschiebt sich die Frage der Balance zwischen den Anforderungen und der Aufmerksamkeit zwischen allen Kindern der Familie (siehe oben) unausweichlich auf die weitaus kompliziertere Frage nach der Balance zwischen den vielen Beteiligten mehrerer Generationen.

Naheliegender Weise erwächst hier der Wunsch nach kompetentem Coaching, nach Lotsen durch hin und wieder stürmische See.

Die Überwindung des partiellen familiären Schweigens

Eine zentrale Rolle kommt der Überwindung des partiellen funktionellen Schweigend in den Familien zu. Aber wie die Mauer durchbrechen?

Der Einstieg zu solchen Gesprächen wird von allen als sehr schwierig beschrieben. Hemmungen entstehen durch die Angst zu überfordern und/oder den richtigen Ton nicht zu treffen. Die erhebliche Emotionalität solcher Gespräche lässt auch deren Verlauf und Fortgang nicht absehen. Einigkeit besteht darin: Schweigen und Nicht-Sprechen ist alles andere als ein Schutz für die gesunden Geschwister.

Aufgrund der langen kontinuierlichen Verläufe psychischer Erkrankung finden die Beteiligten häufig keinen Aufhänger für einen Gesprächsbeginn. Warum sollte man gerade jetzt darüber sprechen, wie es einem geht?

„Wie soll es mir schon gehen? Schlecht natürlich!“

Aber wie nun beginnen? Eine Frage, welche auch in dieser Runde nicht endgültig beantwortet werden konnte. Die Notwendigkeit des Austausches steht außer Zweifel – er stellt eine der wichtigsten Unterstützungsmöglichkeiten dar, welche Eltern ihren gesunden Kindern bieten können; und wie oben protokolliert wünschen sich die Eltern ebenfalls ein Durchbrechen der partiellen Mauer des Schweigens.

Was beim Treffen aus Sicht der Eltern sowie der Geschwisterkinder zum Durchbrechen der Mauer geholfen hat war die Erkenntnis, dass sie unabhängig von der jeweiligen Rolle in der Familie das unbedingte Recht haben das Schweigen zu brechen; mehr noch: sie haben in gewisser Weise auch die Pflicht dazu, im eigenen Interesse sowie im Interesse der gesamten Familie.

Allerdings, so die Teilnehmenden, braucht es auch einen Anlass; das könnte z.B. die Teilnahme an der heutigen Veranstaltung sein, gefolgt von Berichten darüber in der Familie. Oder Broschüren für Eltern und Geschwister zum ‚Geschwisterthema“, oder auch Zeitschriftenartikel wie der „Brief an Mama: Das schwarze Mal“ in der Psychosozialen Umschau 03/2017, Seite 27.

Die unbedingte Berechtigung und die Möglichkeit des Aufrüttelns der festgefahrenen Rollen und Haltungen scheint für die anwesenden Familien die Grundlage zu sein, das funktionelle Schweigen zu beenden.

Was wir Moderatoren noch gelernt haben …

Für die Autoren wurde im Verlaufe des Tages immer deutlicher, wie wichtig für alle Angehörigen der Austausch untereinander ist und wie dringend es einer weiterführenden Thematisierung der innerfamiliären Dynamiken sowie der Unterstützungssysteme bedarf.

Für uns wares sehr beeindruckend zu erleben, wie den Rechten der erkrankten Familienmitglieder immer wieder ein sehr hohen Stellenwert zugerechnet wurde, obwohl diese ‚familiäre Rolle‘ in der Runde nicht selbst vertreten war.

Nachdem wir zunächst meinten, uns nur mit Eltern treffen zu sollen fragen wir uns nun, ob in einem weiteren Schritt die hier aufgeworfenen Fragen mit allen Teilen der Familie weitergeführt werden sollten: mit den Eltern, den gesunden Geschwistern, deren erwachsenen Partnern, den erkrankten Familienmitgliedern.

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