Beate Schrank, Ingrid Sibitz, Markus Schaffer, Michaela Amering (2007)

veröffentlicht in Neuropsychiatrie, 21(3), 216-225

Zusammenfassung:

Anliegen: Die vorliegende Untersuchung vergleicht Geschwister von PatientInnen mit einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis mit Eltern und PartnerInnen bezüglich ihrer Nutzung von Information, Hilfe und einer routinemäßig stattfindenden expertengeleiteten Angehörigengruppe, ebenso wie hinsichtlich ihrer Belastung und Lebensqualität.

Methode: Insgesamt wurden 147 Angehörige stationär bzw. tagesklinisch aufgenommener PatientInnen mit einem Fragebogen zum gesundheitlichen Wohlbefinden, zu Problemen in der Familie, zur Lebensqualität und zur Nutzung von Hilfe-Angeboten erfasst.

Ergebnisse: Obwohl Geschwister insgesamt weniger Kontakt zu PatientInnen pflegten als Eltern und PartnerInnen, fühlten sie sich subjektiv kaum weniger stark belastet. Ihre Lebensqualität war jedoch weniger stark eingeschränkt als die der beiden anderen Gruppen. Geschwister erhielten im Vergleich zu Eltern und PartnerInnen signifikant weniger Information und Hilfe und wurden signifikant seltener zur Angehörigengruppe eingeladen.

Schlussfolgerungen: Geschwister von PatientInnen mit Schizophrenie sind in der Angehörigen-Arbeit eine vernachlässigte wenngleich subjektiv stark belastete Gruppe. Es scheint angebracht, dieser speziellen Gruppe Angehöriger vermehrte Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.

Rita Schmid, Tanja Schielein, Hermann Spießl, Clemens Cording (2006)

Psychiatrische Praxis, 33(4), 177-183. Der vollständige Artikel ist kostenpflichtig.

Zusammenfassung:

Hintergrund: Bisherige Studien zu Auswirkungen einer psychischen Erkrankung auf die Familie des Erkrankten basieren meist auf Aussagen von Eltern des Erkrankten. Geschwister gehörten dagegen bislang zur Gruppe der „vergessenen Angehörigen”.

Methode: Es wurden narrative Interviews mit 37 Geschwistern stationär behandelter schizophrener Patienten durchgeführt. Die Auswertung erfolgte mittels einer zusammenfassenden qualitativen Inhaltsanalyse mit anschließender Quantifizierung.

Ergebnisse: Die 492 Aussagen der Geschwister konnten in 26 globalen Statements zusammengefasst und in fünf Kategorien abgebildet werden:
1. „Belastungen im Umgang mit dem erkrankten Geschwister” (36,2 %),
2. „Belastungen für die persönliche Lebenssituation der gesunden Geschwister” (26,8 %),
3. „Belastungen im Umgang mit der Herkunftsfamilie” (15,7 %),
4. „Belastungen im Umgang mit Institutionen und professionellen Helfern” (14,2 %),
5. „Belastungen im eigenen sozialen Umfeld” (7,1 %).
Die drei von den gesunden Geschwistern am häufigsten genannten Belastungen sind: Umgang mit der Krankheitssymptomatik (100 %), emotionale Belastungen (100 %) und Unsicherheit in der Einschätzung der Belastbarkeit des Erkrankten (81,1 %).

Schlussfolgerung: Geschwister schizophren Erkrankter sind in vielfältiger Weise belastet. Ihre besondere Situation sollte bei der ambulanten und stationären Behandlung mehr Berücksichtung finden.

Rita Schmid, Hermann Spießl, Reinhard Peukert (2004)

Psychiatrische Praxis 31(5), 225-227. Der vollständige Artikel ist kostenfrei zugänglich.

Zusammenfassung:

Eine chronische Erkrankung bedingt einerseits starke Belastungen und vielfältige Veränderungen im Leben des Betroffenen, andererseits greift sie häufig tief in das persönliche Leben und Erleben der Angehörigen ein und verändert die Dynamik der familiären Interaktionen. Vertraute Familienrollen werden durch eine Erkrankung erschüttert, jedes Familienmitglied wird mit neuen Anforderungen, ausgesprochenen und unausgesprochenen Erwartungen und Rollenverschiebungen innerhalb der Familie konfrontiert. Das alltägliche Miteinander wie auch der individuell je notwendige Abstand müssen von allen Familienmitgliedern neu gelernt werden – Konflikte bleiben hierbei meist nicht aus!

Rita Schmid (2004)

Landesverband Bayern der Angehörigen psychisch Kranker e.V. (Hrsg.), Tagungsband 2004, S. 87-109; Angehörigentagung in Regensburg "Auch Geschwister und Kinder sind Angehörige"

Vorstellung einer Studie, durchgeführt an der psychiatrischen Klinik der Universität Regensburg. Auszug aus der Einleitung:

Während die Bedeutung der Einbeziehung von Eltern und Ehepartnern psychisch Kranker für den Behandlungserfolg des Patienten ebenso wie die Notwendigkeit ihrer persönlichen Entlastung inzwischen jedoch weitgehend erkannt wurde, gehört die Gruppe der Geschwister psychisch erkrankter Menschen bisher eher zu der Gruppe der „vergessenen Angehörigen”.
„Nur eine Schwester bzw. ein Bruder zu sein” wird fälschlicherweise häufig mit „nicht direkt betroffen sein bzw. außen vor zu sein” assoziiert. Diese Fehleinschätzung verursacht bzw. verstärkt bei Geschwisterbetroffenen nicht selten Gefühle von Einsamkeit und Hilflosigkeit, obgleich häufig sie die „Vermittler” in den Familien und die langfristigen Bezugspersonen der Erkrankten sind.

Reinhard Peukert (2003)

veröffentlicht in Psychosoziale Umschau, 4/2003, S. 35-37

Auszug:

Auf die Ähnlichkeit mit Kindern psychisch kranker Menschen folgt eine Phase, in der Geschwister offensichtlich – anders als z.B. viele Eltern – ein relativ unbelastetes Leben führen können, um dann im fortgeschrittenen Alter in einen für sie oft unerwarteten neuen Status zu wechseln: Werden die Eltern gebrechlich oder sterben sie, kommt man als Bruder oder Schwester möglicherweise sehr plötzlich in eine Verantwortung hinein, mit der man oder frau vorher nicht gerechnet hatte.
Hatten sich bislang die familiären Bindungen und Ansprüche auf die Eltern und Geschwister verteilt, könnte man plötzlich allein da stehen; lebte man bisher weit weg von der Herkunftsfamilie, fühlt man sich auf einmal genötigt, nach Hause zurück zu kehren, sich zur Verfügung zu stellen und dies und das zu regeln. Es treten die Fragen und Probleme auf, die Angehörige aus den Gruppen mit Eltern psychisch kranker Menschen nur zu gut kennen. Dann gilt, was ein Gruppenmitglied so formulierte: »Wir können so weit weg rennen wie wir wollen, wir können uns so viel abwenden wie wir wollen, unser kranker Bruder oder Schwester wird letztlich immer bei uns sein und uns immer auf dem Rücken sitzen«, und er fügte hinzu: »Und das ist gut so!«
Ich möchte ergänzen: Spätestens, wenn die Eltern nicht mehr sind, steigt er vom Rücken herab und steht mit fragendem Blick vor einem. Kann man und frau sich darauf vorbereiten?

Lotte Mucha (1982)

Beitrag in: Klaus Dörner, Albrecht Egetmeyer & Konstanze Koenning, Freispruch der Familie: Wie Angehörige psychiatrischer Patienten sich in Gruppen von Not und Einsamkeit, von Schuld und Last freisprechen.

Auszüge:

Ich bin eine solche Schwester und seit vielen Jahren in der Angehörigenbewegung tätig. Was mich beunruhigt: „Wo sind die Geschwisterangehörigen, wo sind die Ehepartnerangehörigen?”

…  Seit 45 Jahren bin ich Angehörige. Allerdings — „nur eine Schwester” —. Auch bei uns standen die Eltern fast 30 Jahre lang in der „ersten Reihe”. Sie trugen die Pflicht und die Verantwortung für die Betreuung der erkrankten Tochter. Als dann durch ihren Tod die „erste Reihe” ausgefallen ist, kam — nur die Schwester — in die „erste Reihe”. War das ganz selbstverständlich?

…  Dies alles löst bei mir zwar keine Schuld, aber noch so etwas wie ein schlechtes Gewissen aus und dazu die Zweifel: Werde ich den Bedürfnissen der erkrankten Schwester gerecht, was empfindet meine Schwester, wenn sie bei Sport, Spiel und Diskussion nicht mitmachen kann in einer Familie mit Jugendlichen? Wenn ihre Nichte ihr energisch verbietet sie in  der Schule abzuholen, wenn die Meinungsverschiedenheiten laut-stark ausgetragen werden?

…  Wir Angehörige sollten unser Leid nicht abwägen, es wiegt für jeden Einzelnen immer gleich schwer. Darum gehören in keine Gruppe Sätze wie: „Bei mir ist das aber ganz anders… !” Oder: „Bei Ihnen ist das ja nicht so schlimm…, Sie sind ja nur die Schwester.”

GeschwisterNetzwerk.de: Netzwerkgründung am 6. Mai 2017 in Halle
Gründungsmitglieder von links: Claudia B., Dragana K., Reinhard P., Anahita N., Rahel L., Wiebke Sch. (Foto: J. Berg-Peer)

von Reinhard Peukert

erschienen in der Zeitschrift Psychosoziale Umschau 3/2017

Erst seit Kurzem melden sich Brüder und Schwestern psychisch erkrankter Menschen als eigenständige Gruppe mit ureigenen Problemen und Anliegen in der Angehörigenselbsthilfe zu Wort, dabei zeigen die wenigen Studien zu deren Situation: Die psychische Erkrankung eines Familienmitglieds bringt die gesamte Familie in Not –, aber es sind die Schwestern und Brüder, deren Rolle, Funktion und Bedeutung in der Familie am stärksten verändert werden. Sie sind es auch, die am seltensten vom Hilfesystem wahrgenommen werden und in ihren Familien in den Hintergrund rücken: Die gemeinsamen Eltern sind vollauf mit der Problematik der erkrankten Schwester bzw. des er krankten Bruders beschäftigt – dies ist für die Eltern ein unvermeidbarer und zugleich belastender Tatbestand.

Am 6. Mai 2017 standen diese Themen beim Treffen der Landesverbände der Angehörigen in Halle zur Debatte; fünf Geschwister haben das Treffen genutzt, um das Netzwerk von Geschwistern psychisch erkrankter Menschenins Leben zu rufen. Mit dem Netzwerk wird allen Geschwistern einer psychisch erkrankten Schwester bzw. eines Bruders ein Diskussionsforum geboten, in dem die eigenen Erfahrungen mit anderen Geschwistern geteilt werden können; im wechselseitigen Austausch kann so Beratung wie auch gemeinsames Lernen erfolgen.

Von den Angehörigenverbänden wird die Geschwisterfrage aufgegriffen: Am Tag nach der Gründung des Netzwerkes wurde Frau Rahel Lorenzen in den Vorstand des Bundesverbandes der Angehörigen gewählt, und bereits im August dieses Jahres treffen sich in Mainz Eltern, um für sich zu klären, wie sie ihren gesunden Kindern besser gerecht werden können.

Das GeschwisterNetzwerk und das Forum findet man auf der Website www.geschwisternetzwerk.de [1]. Dort sind auch die Veröffentlichungen und Vorträge zum Thema eingestellt.

Wer mit den Gründungsmitgliedern Kontakt aufnehmen oder sich als Schwester bzw. Bruder im Netzwerk registrieren lassen möchte, kann dies tun über info@geschwisternetzwerk.de [1].

[1] Angaben aktualisiert

GeschwisterNetzwerk.de: Netzwerkgründung am 6. Mai 2017 in Halle
Gründungsmitglieder von links: Claudia B., Dragana K., Reinhard P., Anahita N., Rahel L., Wiebke Sch. (Foto: J. Berg-Peer)

Unser Netzwerk hat sich am 06. Mai 2017 im Rahmen einer Fachtagung der Landesverbände der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen in Halle gegründet. Unser Ziel ist es, auf die spezielle Situation von Geschwistern psychisch erkrankter Menschen aufmerksam zu machen und Geschwistern die Möglichkeit zum Kontakt und Austausch zu bieten. Wir unterstützen außerdem die Gründung von Selbsthilfegruppen für Geschwister und wissenschaftliche Untersuchungen zur besonderen Situation von Geschwistern, die sich mit deren ureigenen Belangen auseinandersetzen.

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