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Das GeschwisterNetzwerk hat inzwischen mehrere Geschwistertreffen und Eltern-Geschwister-Seminare durchgeführt und dabei haben sich die immer gleichen Erfahrungen heraus kristallisiert zur Beziehung zwischen den gesunden Geschwistern und ihren Eltern in der Kindheit und den Jugendjahren – Dinge, die gut gelaufen sind und Dinge, die hätten besser laufen können. Darüber hinaus liegen viele Aussagen von Geschwistern im Rahmen der wenigen deutschsprachigen Studien vor, die diese Erfahrungen bestätigen. Auch bei der Sichtung von internationalen Studien, die viel zahlreicher sind und auch bereits viel früher durchgeführt wurden, zeigt sich im Wesentlichen das gleiche Bild.

Das GeschwisterNetzwerk hat aus diesen Erkenntnissen zwei Papiere entwickelt: eines, in dem die Erfahrungen und die Folgerungen zusammengefasst werden und ein zweites mit Tipps für Eltern, die aus diesen Erfahrungen abgeleitet werden.

2019 Okt. Eltern-Geschwister-Beziehung: Hintergrund

Als erwachsene Geschwister einer psychisch erkrankten Schwester bzw. eines psychisch erkrankten Bruders möchten wir den Eltern mit den folgenden Ausführungen Aspekte unserer Erfahrungen mit dieser für die gesamte Familie belastenden Situation schildern, denn viele von uns Geschwistern haben in den ersten Jahren nach dem Auftre­ten der Erkrankung sehr gelitten.

2019 Okt. Eltern-Geschwister-Beziehung: Tipps

Unsere Erfahrungen als erwachsene Geschwister einer psychisch erkrankten Schwester oder eines psychisch erkrankten Bruders legen folgende Tipps nahe, die wir in unserer Kindheit bzw. beginnenden Jugend gern unseren eigenen Eltern gegeben hätten.

Liebe Eltern,

als erwachsene Geschwister einer psychisch erkrankten Schwester bzw. eines psychisch erkrankten Bruders möchten wir Ihnen mit den folgenden Ausführungen Aspekte unserer Erfahrungen mit dieser für die gesamte Familie belastenden Situation schildern1, denn viele von uns Geschwistern haben in den ersten Jahren nach dem Auftre­ten der Erkrankung sehr gelitten:

  • unter dem Verlust unserer Schwester bzw. unseres Bruders, wie wir sie oder ihn kannten,
  • unter dem Leid, das sie oder er zu tragen hatte und oft heute noch zu tragen hat,
  • aber auch unter den Belastungen, die wir bei unseren Eltern beobachten mussten.

Viele von uns haben daraus falsche Schlüsse gezogen

  • wir haben nicht gewagt nachzufragen, was in unserer Familie auf einmal los ist;
  • wir haben gespürt, dass unsere Eltern uns von schwierigen bis schrecklichen Dingen fern halten wollten – aber das hat unsere Phantasien, was los sein könnte, nur noch angeheizt;
  • wir haben uns bemüht, unseren Eltern weitere Belastungen zu ersparen und haben die Rolle des starken, gesunden, erfolgreichen Kindes gespielt – obwohl wir uns ganz anders empfunden haben;
  • wir haben Schuldgefühle entwickelt, da wir gesund sind und unser Geschwister so leiden muss – einige von uns haben sich deshalb sogar verboten, glücklich zu sein, was ihre Lebens- und Entwicklungschan­cen deutlich reduziert hat;
  • wir haben das Schweigen über das, was ‚in unserer Familie los ist‘, mit nach draußen getragen und gezielt vermieden, darüber zu sprechen;
  • wir haben große Angst verspürt, von unseren Freunden gemieden zu werden oder der Familie zu schaden, wenn wir darüber sprechen; denn
  • wir hatten ja auch erfahren, dass die Gespräche unserer Eltern mit Außenstehenden ins Stocken gerie­ten, wenn die Sprache auf unsere Schwester oder unseren Bruder kam;
  • als uns klar wurde, dass der Hintergrund all dessen eine psychische Erkrankung ist – da hat uns die Angst gepackt, vielleicht selbst psychisch krank zu sein oder zu werden;
  • wir haben begonnen, uns selbst überkritisch zu beob­achten, was die Sache nur noch schlimmer machte – wir haben so manche Eigenart an uns entdeckt2;
  • fast das Schlimmste für uns war jedoch:
    viele von uns hatten niemanden, absolut niemanden innerhalb oder außerhalb der Familie, mit dem wir über das hätten sprechen können, was uns umgetrieben hat.

Für einige Autoren ist dieser letzte Aspekt ein Merkmal von fast allen Geschwistern chronisch kranker oder behinderter Kinder und Jugendlicher; in vielen Publikationen ist die Rede von „Schattenkindern“.

Erst als wir erwachsen wurden und irgendwie in Kontakt mit anderen Geschwistern kamen, traten die Besonderheiten unserer Situation so langsam aus einem dunklen und beängstigenden Untergrund ins Bewusstsein. In diesem Prozess haben viele von uns eine tiefe Enttäuschung gespürt, die sich bei nicht wenigen in Wut, bei anderen in Depressionen geäußert hat: Die Enttäuschung darüber, in einer für uns so schweren Zeit allein gelassen worden zu sein, zumindest nicht in dem Maße wahrgenommen bzw. unter­stützt worden zu sein, wie wir es für eine gesunde Entwicklung gebraucht hätten. Gleichwohl wissen wir als Erwachsene noch besser um die damaligen Probleme unserer Eltern und dass so manches Ehepaar es nicht geschafft hat, die Last gemeinsam zu tragen. Einige von uns haben das späte Gespräch mit unseren Eltern gesucht und mit Erstaunen erfahren: ihnen war sehr bald nach Erkrankungsbeginn bewusst, dass sie uns andere Geschwister in unseren Bedürfnissen und Eigenheiten eher übersehen haben und dass ihnen das heute ein schlechtes Gewissen bereitet.

Andere haben ihre Erfahrungen als Chance wahrgenommen

Dafür haben wir uns die Erfahrungen von Geschwistern angeschaut, die den Einzug der Erkrankung in die Familie in wesentlichen Punkten anders als oben beschrieben erlebt haben und andere Schlussfolgerungen daraus gezogen haben. Diese Geschwister sehen als Erwachsene die Belastungen, die die Familie getroffen haben, in erster Linie als Herausforderung, die ihre persönliche Entwicklung – was ihr Selbstbewusstsein, ihre sozialen Kompetenzen etc. angeht – befördert hat.

Aus ihren Schilderungen zeichnet sich ein Muster ab

  • Die Familien haben sehr schnell nach Ausbruch der Erkrankung die Herausforderungen als gemeinsame Aufgabe erkannt und angegangen.
  • Sie haben – unabhängig von Lebensalter der Geschwister – nicht versucht, sie von den belastenden Erfahrungen fern zu halten, sondern ihnen altersentsprechend erklärt, was in der Familie und mit der Schwester/dem Bruder los ist, häufig mit Unterstützung der Behandler des erkrankten Geschwisters.
  • Sie haben sich gezielt bemüht, die bisherigen Alltagsroutinen beizubehalten.
  • Sie haben trotz aller Belastungen Zeit mit dem oder den gesunden Geschwistern verbracht.

Unser Lerngewinn – ein möglicher Gewinn für andere Familien

Nachdem wir mutig genug waren und uns die Zeit genommen haben, über unser Erleben nachzudenken, ist uns heute wichtig, den ‚Lerngewinn‘ nicht für uns allein zu nutzen. Können wir Eltern, die heute diese schwierige Zeit zu meistern haben, etwas aus unseren Erfahrungen mitgeben:

  • um es ihren Kindern leichter zu machen als wir es erlebt hatten,
  • um sie dabei zu unterstützen, den erkrankten und den anderen Kindern gegenüber kein schlechtes Gewissen haben zu müssen,
  • um es allen Kindern der Familie zu ermöglichen, die geschwisterlichen Beziehungen aus der Zeit vor der Erkrankung in die Zukunft zu retten3?

Aus den Erfahrungen und Schlussfolgerungen der beiden hier idealtypisch vorgestellten Gruppen haben wir Tipps zusammengestellt, die wir gern in unserer Kindheit bzw. beginnenden Jugend unseren eigenen Eltern gegeben hätten: „Eltern-Geschwister-Beziehung: Tipps“.

1 Unsere Erfahrungen haben wir mit denen sehr vieler weiterer Geschwister abgeglichen, die sich in Foren geäußert haben, Interviews gegeben haben oder in größeren Studien befragt wurden.
2 Als Jugendlicher kommt man sich ohnehin immer wieder ‚komisch‘ vor, aber was wir als Geschwister erlebten hatte dieses ‚sich komisch fühlen‘ wohl noch verstärkt – und wir hatte ja auch irgendetwas von ‚angeboren‘ gehört oder gelesen.
3 Studien haben bestätigt: Eine gute Beziehung zwischen den Geschwistern spielt für das Wohlbefinden der oder des Erkrankten eine große Rolle, wobei es gerade die Attribute von Geschwisterbeziehungen sind, die sich als positiv wirksam erwiesen haben (und nicht etwa die Bereitschaft, als Betreuungsperson zur Verfügung zu stehen).

Unsere Erfahrungen als erwachsene Geschwister einer psychisch erkrankten Schwester oder eines psychisch erkrankten Bruders legen folgende Tipps nahe, die wir in unserer Kindheit bzw. beginnenden Jugend gern unseren eigenen Eltern gegeben hätten.
Sie beruhen auf den Erfahrungen und Schlussfolgerungen vieler Geschwister, die wir zusammengestellt haben in „Eltern-Geschwister-Beziehung: Hintergrund“.

Unsere „Wunschliste“

  • Das Schweigen durchbrechen! Ein ausgesprochenes oder unausgesprochenes „Schweigegebot“, innerhalb und außerhalb der Familie, ist mit die größte Belastung für die Kinder.
  • Die gesunden Kinder leiden mit! Auch wenn sie stark und unkompliziert erscheinen, versuchen Sie, ihrem Schmerz und ihrer Trauer Raum zu geben.
  • Keine (gutgemeinte) Schonung! Altersgemäße Erklärungen, was in der Familie und mit der Schwester/ dem Bruder los ist, schaffen Sicherheit und Vertrauen. Kind gerechte Bücher und die Behandler des erkrankten Geschwisters und können dabei helfen. Fordern Sie diese Unterstützung ein!
  • Der Entwicklung von Schuldgefühlen vorbauen! Schuldgefühle nisten sich in vielen Familien ein, auch bei den gesunden Kindern. Niemand in der Familie ist für die Erkrankung verantwortlich, niemand ist daran schuld!
  • Schützen Sie die Kinder vor Überforderung! Viele gesunde Geschwister versuchen, allen Erwartungen der Eltern gerecht zu werden, um den Eltern nicht noch zusätzliche Sorgen zu bereiten.
  • Unterstützen Sie die Kinder dabei, sich weiterhin als Geschwister zu begegnen! Für erkrankte und gesunde Geschwister ist es wichtig, die Beziehung und den Umgang miteinander vor der Erkrankung in die Zukunft zu retten; für ihr Wohlbefinden hat die größte Bedeutung, wenn sie sich als Geschwister begegnen und nicht als Hilfebedürftige und Helfer.
  • Insbesondere jüngere Kinder sollen keine „Carer“ (Betreuer, Kümmerer, …) sein! Sie brauchen ihren eigenen Freiraum, Freunde, Hobbys, etc., um sich gut zu entwickeln.
  • Konflikte richtig einordnen! Nicht jeder Konflikt zwischen kranken und gesunden Geschwistern hat mit der Erkrankung zu tun; geschwisterliche Rivalitäten kommen in nahezu allen Familien vor. Versuchen Sie zu unterscheiden.
  • Alltagsroutinen so weit wie möglich beibehalten! Auch das schafft Sicherheit für alle Beteiligten und stärkt das Gefühl der Geschwister, dazu zu gehören.
  • Verlässliche Elternzeit! Versuchen Sie, trotz aller Belastungen gelegentlich gezielt Zeit mit dem oder den gesunden Geschwistern zu verbringen – damit diese sich nicht als „Schattenkinder“ fühlen.

Grund zu Zuversicht

Wir erwarten nicht, dass unsere Tipps vollständig und zu jedem Zeitpunkt umgesetzt werden können, aber die gute Nachricht ist:
Geschwisterkinder, die in einer offenen und aufgeklärten Umgebung aufwachsen, haben eine gute Chance, aus den Beschwernissen für die Entwicklung ihrer eigenen Persönlichkeit zu profitieren.

Eine Geschichte von Liebe und Ohnmacht

Tina Bühler-Stehlé (2005)

Paranus Verlag

Rezension von Sibylle Prins in „Soziale Psychiatrie“:

Mutiger Erfahrungsbericht über zerstörerische Familie

Dieses Buch packt einen bereits auf den ersten Seiten. Dabei habe ich das normalerweise gar nicht gern, wenn der Ausgang einer erzählten Geschichte bereits zu Anfang vorweggenommen wird. Hier ist es hilfreich, zum Verständnis, auch, um die nun folgende Lektüre fortzusetzen, die nicht gerade „leichte Kost“ ist. Die Autorin berichtet von einem Familienhorror, der seinesgleichen sucht. Opfer dieses Szenarios ist für sie in allererster Linie ihr zwei Jahre älterer Bruder Swen, der nach jahrzehntelanger Isolation in grenzenloser Verwahrlosung in der Psychiatrie landet. –

„Um wahrgenommen zu werden, musste wohl oder übel einer von uns verrückt werden“ (S.77)

Als Leser/in dieses erschütternden Erfahrungsberichtes kann man sich kaum entscheiden, wer von den beiden Geschwistern das schwerere Leid zu ertragen hatte. Bühler-Stehlé schildert zunächst in kurzen Abschnitten, die als eine Art Briefe an den Bruder gerichtet sind, ihre gemeinsame Kindheit und Jugend. Anfangs ist der Bruder ihr geliebter Gefährte und bester Freund, ihr Vertrauter, Beschützer. Innerhalb sehr kurzer Zeit ändert sich das alles: der Bruder wird zu einem grausamen, unleidlichen Tyrannen, der seine ganze Familie, insbesondere aber die jüngere Schwester bis ins Letzte kontrolliert und zu bestimmen versucht. Alles kommt in dieser Familie vor: Gewalt, Vernachlässigung, sexueller, seelischer und sozialer Missbrauch. Dabei werden keineswegs die in manchen Kontexten hierüber üblichen Klischees bedient, sondern es werden zum Teil „unerwartete Wahrheiten“ sichtbar gemacht – erschreckend, und doch erleichternd, denn wann werden solche Geschichten erzählt? In späteren Jahren vegetiert der Bruder ohne irgendwelche Kontakte zur Außenwelt dahin. Alle Versuche der Schwester, zu ihm zu gelangen, etwas für ihn zu tun, scheitern. Bis dann die Ereignisse den Weg freimachen für – für eine Aufnahme des Bruders in die Psychiatrie.

Das Buch rührt auch an „Familienthemen“, die man aus weniger schrecklichen (?) Familien kennt: nach außen hin muss alles einen guten Eindruck machen, wie es intern zugeht, geht niemanden etwas an. Im Umgang mit der Außenwelt geben sich die Familienmitglieder auch ganz anders als untereinander. Über bestimmte, ja über die bestimmenden Themen darf nicht, um keinen Preis, gesprochen werden. Schon gar nicht mit Außenstehenden. Ein Mitglied wird von den anderen verraten, daraufhin aber selbst von der Familie als Verräter/in bezeichnet. Einer oder eine bestimmt, was wirklich ist, was die Wahrheit der Familie und der Welt ist. Da darf man sich hier und da auch in der eigenen, ganz anderen Biografie und Familiengeschichte berührt fühlen.

Welchen Sinn macht es, solch ein Buch zu lesen? Ist es mehr als bloß ein voyeuristischer Blick auf das, was sich hinter gut- bzw. großbürgerlichen Gardinen abspielen kann? Auf jeden Fall: Beim Lesen hat man manchmal das Gefühl, man möchte in die geschilderten Situationen eingreifen, dem Schrecken endlich ein Ende bereiten. Den in der Realität anwesenden Personen ging das, wie oben geschildert, offenbar nicht so. Wieso ist das so? Handelt vielleicht jede/r von uns in seinem Bereich, auf seine Weise genauso? Ferner: Schreckensgeschichten verlegen wir gern anderswohin – in ferne Länder, in andere Zeiten. Dass solche Dinge auch zu unserer hiesigen Wirklichkeit gehören, wollen wir nicht gern wissen. Sollten wir aber. Und schließlich: nicht an der Geschichte von Swen und seiner Schwester, wohl aber an der Gestaltung einer Welt, in der solche Lebensgeschichten möglich sind, sind wir alle beteiligt. Ein Buch für Leser/innen, denen man auch einmal etwas zumuten darf.

Unterstützungsbedarf für die Geschwister psychisch erkrankter Menschen

Seit Februar 2018 arbeitet die Arbeitsgruppe ‚Kinder psychisch und suchterkrankter Eltern‘. Sie wurde auf der Basis eines einstimmig verabschiedeten interfraktionellen Bundestags-Antrags eingerichtet und damit beauftragt, Vorschläge zu entwickeln zur Verbesserung der Situation von Kindern und Jugendlichen aus Familien, in denen mindestens ein Elternteil psychisch erkrankt ist. Den Abschlussbericht mit den Empfehlungen an den Deutschen Bundestag wird die Arbeitsgruppe im zweiten Halbjahr 2019 vorlegen.

Unter Berücksichtigung der interdisziplinären Fachexpertisen wird die Arbeitsgruppe Zielperspektiven festlegen, auf deren Grundlage sie Empfehlungen zur Verbesserung der Situation von Kindern psychisch und suchtkranker Eltern erarbeiten wird.

Dieser Bericht an den Bundestag ist Anlass für das GeschwisterNetzwerk, darauf hinzuweisen, dass die Geschwister eines psychisch erkrankten Kindes bzw. Jugendlichen ähnliche Belastungen und einen ähnlichen Hilfebedarf haben wie die Kinder mit einem psychisch kranken Elternteil.

Der Brief wurde Mitte Oktober 2019 an den unten genannten Empfängerkreis versandt; insgesamt rund 200 Empfänger.

Empfänger:

An

die Mitglieder und stellvertretenden Mitglieder der Bundestagsausschüsse FSFJ und Gesundheit
die Vorsitzenden bzw. Sprecher der Fraktionen
die Familienpolitischen Sprecher der Fraktionen

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Bundesministerium für Gesundheit
Gesundheitsministerkonferenz der Länder
Familienministerkonferenz
die Mitglieder der AG KipkE

Korrespondenzadresse:

GeschwisterNetzwerk.de
c/o AngehörigenNetzwerke.de
Am Stollhenn 43, 55120 Mainz
Tel.: 06131 686144

Prof. Dr. Reinhard Peukert
peukert@geschwisternetzwerk.de

Mit dem Bundestagsbeschluss zur Bildung einer Sachverständigen-Arbeitsgruppe ‚Kinder psychisch kranker Eltern‘ haben Sie die Erkenntnis unterstrichen, dass die psychische Erkrankung eines Familien­mitgliedes auch starke Auswirkungen auf deren Kinder hat. Die Ergebnisse dieser Arbeitsgruppe werden in Kürze vorliegen. Wir möchten bei dieser Gelegenheit darauf hinweisen, dass auch Geschwister psychisch kranker Menschen stark von diesen Auswirkungen betroffen sind. Dieser Problematik wird bisher in Deutschland wenig Beachtung geschenkt. Wir empfehlen, dass Sie bei Ihren Beratungen zum Bericht der AG KipkE auch die Situation der Geschwister berücksichtigen und Maßnahmen zur Verbes­serung ihrer Situation veranlassen. So könnte die Bundesregierung aufgefordert werden, in einem Projekt mit begleitender Expertengruppe den Stand der Erkenntnisse zu ermitteln und Handlungsemp­fehlungen zu erarbeiten.

Es gibt in Deutschland ca. 1 Million Geschwister psychisch Kranker aller Altersgruppen, deren besondere Situation bisher in der BRD so gut wie gar nicht wahrgenommen wird, anders als in einigen anderen Ländern (England, Australien, USA, Kanada). In Deutschland haben sich erwachsene Geschwister im GeschwisterNetzwerk organisiert und unterhalten eine Homepage www.geschwisternetzwerk.de mit einem Geschwisterforum, sie führen Geschwistertreffen und Eltern-Geschwister-Seminare durch und legen in Publikationen Beschreibungen der unterschiedlichen Lebenssituationen von Geschwistern vor. Die Erfahrungen des GeschwisterNetzwerks in Deutschland bestätigen internationale Forschungsergeb­nisse, in denen auf der einen Seite langfristig positive Effekte für die Persönlichkeitsentwicklung auf­grund der erlebten Herausforderungen hervorgehoben werden, wobei der Weg dorthin von vielfältigen Belastungen begleitet wird. Daneben gibt es andererseits eine nicht unerhebliche Zahl von Geschwis­tern, die schwere Belastungen aufgrund der besonderen Familiensituation mit sich tragen, bis hin zu eigenen, reaktiven psychischen Erkrankungen. Populationsbezogene Studien in Taiwan und Israel zeig­ten eine Krankheitslast der Geschwister, die der von Kindern psychisch erkrankter Eltern sehr ähnlich war, im Umfang und in der Verteilung der psychischen Störungen.

Ohne weiter in Details zu gehen ist die Notwendigkeit, dieser Gruppe von Angehörigen fachöffentlich die erforderliche Aufmerksamkeit zu widmen, nicht von der Hand zu weisen – mit dem Ziel, jenen jüngeren Geschwistern angemessene Unterstützung zur Verfügung zu stellen, bei denen sich eine schwierige Entwicklung anbahnt, sowie jenen, bei denen Belastungsreaktionen bereits chronifiziert sind.

Auch die Tatsache, dass Geschwister für in der Zukunft liegende Krisenzeiten der Erkrankten eine un­schätzbare Beziehungsreserve bieten und zur Stabilisierung beitragen können, spricht für die Entwick­lung von Angeboten an Geschwister sowie deren Eltern.

Die Lebenssituation der Geschwister ist u.a. von folgenden Erfahrungen geprägt:

  • Die Erkrankung des Geschwisters stürzt dessen Schwestern und Brüder in unauflösbare Ambivalenzen:

— neben dem starken Impuls zu helfen stehen Scham und Wut über herausforderndes Verhalten;
— neben die aus gemeinsamen Jahren gewachsene Zuneigung bis hin zu Liebe tritt das Bestreben, sich um der eigenen Entwicklung willen abzugrenzen.

  • Nicht nur, dass die zwiespältigen Gefühle belasten – sie ziehen unweigerlich Schuldgefühle nach sich:

— z.B. bei jeder Überlegung, Abstand von der Schwester bzw. dem Bruder zu nehmen,
— oder wenn ihnen klar wird, dass sie als Zweitgeborene am Erstgeborenen vorbei ziehen,
— und manchmal schon bei der Frage: ‚Warum hat es ihn erwischt – und nicht mich?‘

  • Es erfolgt eine Konzentration der Eltern auf das erkrankte Kind – Geschwister geraten in den Schatten und bemühen sich, die guten, braven, unproblematischen zu sein, um die Eltern nicht noch mehr zu belasten.
      
  • Gleichzeitig entsteht ein hoher Leidensdruck aufgrund der spezifischen Rolle mit der Gefahr der Über­forderung.
      
  • Eltern und Geschwister treibt bereits relativ bald nach Erkrankungsbeginn die gleiche Frage um.

— Die Eltern fragen sich: ‚Werden meine gesunden Kinder meine Rolle übernehmen, wenn ich nicht mehr kann?‘
— Die Geschwister spüren diese Erwartung und quälen sich mit dem Problem, ob sie angesichts der Erkrankung der Schwester / des Bruders sowie des erspürten Anspruchs der Eltern ein eigenständi­ges Leben leben dürfen. Nicht wenige Geschwister verbieten sich sogar, glücklich zu sein ‚… da es allen anderen in der Familie doch auch so schlecht geht!‘

  • Angesichts der Erfahrung mit der Erkrankung in der Familie und den öffentlichen Debatten zur Ver­erbung psychischer Störungen treibt Geschwister oft die Angst um, ggf. auch selbst psychisch zu er­kranken bzw. erkrankte Kinder zu bekommen – dies führt u.a. nicht selten zur fatalen Entscheidung, Intimbeziehungen und Elternschaft aus dem Wege zu gehen.

Literatur wird von den Verfassern jederzeit gerne zur Verfügung gestellt; einige Literaturhinweise finden Sie auch im Anhang.

Mit freundlichen Grüßen

Prof. em. Dr. Reinhard Peukert
Professor für Sozialmedizin und Sozialmanagement
(Mitglied des Vorstands)

Prof. Dr. Renate Schepker
Ärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie
(Beratende Expertin)

Anhang: Literaturhinweise

Bock, T.; Fritz-Krieger, S.; Stielow, K. (2008): Belastungen und Herausforderungen. Situation und Perspektive von Geschwistern schizophrener Patienten.
In: Sozialpsychiatrische Informationen 38(1), 23-31
Einzusehen unter: https://geschwisternetzwerk.de/2008-bock-fritz-krieger-stielow-spinfo/

Bojanowski, S. (2016): Geschwisterbeziehungen im Kontext psychischer Erkrankungen. Dissertation Universität Potsdam;
darin enthalten: Bojanowski, S.; Nisslein, J.; Riestock, N.; Lehmkuhl, U. (2016): Siblings relationships of children and adolescents with mental disorders – risk factor or resource? Manuskript, 89-102
Einzusehen unter: https://geschwisternetzwerk.de/2016-bojanowski-dissertation/

Cheng, C.M.; Chang, W.H.; u.a. (2018): Co-aggregation of major psychiatric disorders in individuals with first-degree relatives with schizophrenia: a nationwide population-based study.
In: Molecular Psychiatry 23(8), S. 1756-1763
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/29112198

Leith, J.E.; Jewell, T.C.; Stein, C.H. (2018): Caregiving attitudes, personal loss, and stress-related growth among siblings of adults with mental illness.
In: Journal of Child and Family Studies 27(4), 1193-1206
https://link.springer.com/article/10.1007%2Fs10826-017-0965-4

Marsh, D.T.; Dickens, R.M.; Koeske, R.D.; u.a. (1993): Troubled journey: Siblings and children of people with mental illness.
In: Innovation and Research 2(2), 17-24
http://www.psychodyssey.net/wp-content/uploads/2012/05/Troubled-Journey.pdf (Autorenexemplar)

Peukert, R. (2017): Erlebte, gelebte, erlittene Verantwortung von Schwestern und Brüdern eines psychisch erkrankten Geschwisters.
In: Aktion psychisch Kranke; Weiß, P.; Heinz, A. (Hrsg.): Verantwortung übernehmen. Verlässliche Hilfen bei psychischen Erkrankungen. Tagungsband 43. Bonn: APK, 168-190
https://www.apk-ev.de/fileadmin/downloads/Band_43.pdf

Peukert, R., Julius, L.; Gagi K.; Bach, C. (2019): Geschwister nehmen das Leben als Schwester oder Bruder eines psychisch erkrankten Menschen in die eigenen Hände
In: Aktion Psychisch Kranke; Weiß, P.; Fegert, J.M. (Hrsg.): Planen – umsetzen – bewerten. Psychiatriepolitik gestalten. Tagungsband 45. Bonn: APK, 103-133
https://www.apk-ev.de/fileadmin/downloads/APK_2019_45_web.pdf

Popovic, D.; Goldberg, S.; Fenchel, D.; u.a. (2018): Risk of hospitalization for psychiatric disorders among siblings and parents of probands with psychotic or affective disorders: A population-based study.
In: European Neuropsychopharmacology 28(3), 436-443
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/29275842

Schmid, R.; Spießl, H.; Peukert, R. (2004): „Außen vor und doch mitten drin“ – Die Situation von Geschwistern psychisch Kranker.
In: Psychiatrische Praxis 31(5), 225-227
https://www.thieme-connect.com/products/ejournals/html/10.1055/s-2003-814991

Schrank B.; Sibitz, I.; Schaffer, M.; Amering, M. (2007): Zu Unrecht vernachlässigt: Geschwister von Menschen mit schizophrenen Psychosen.
In: Neuropsychiatrie 21(3), 216-225
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/17915182

Sin, J.; Murrells, T.; Spain, D.; Norman, I.; Henderson, C. (2016): Wellbeing, mental health knowledge and caregiving experiences of siblings of people with psychosis, compared to their peers and parents: an exploratory study.
In: Social Psychiatry and Psychiatric Epidemiology 51(9), 1247-1255
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC5025483/

Stålberg, G.; Ekerwald, H.; Hultman, C.M. (2004): At Issue: Siblings of patients with schizophrenia: sibling bond, coping patterns, and fear of possible schizophrenia heredity.
In: Schizophrenia Bulletin 30(2), 445-458
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/15279059

Wolfe, B.; Song, J.; Greenberg, J.S.; Mailick, M.R. (2014): Ripple effects of developmental disabilities and mental illness on nondisabled adult siblings.
In: Social Science and Medicine 108(5), 1-9
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4079586/

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