Unterstützungsbedarf für die Geschwister psychisch erkrankter Menschen

Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) führt in dieser Legislaturperiode einen Dialog zur Weiterentwicklung der Hilfen für psychisch erkrankte Menschen durch. Ziel des Dialoges ist eine Standortbestimmung, die Verständigung über Entwicklungsbedarfe und die Formulierung von Handlungsempfehlungen für eine personenzentrierte Versorgung. Vertreter und Vertreterinnen von Verbänden und sonstige Experten und Expertinnen sind eingeladen, sich zu beteiligen. Die Aktion Psychisch Kranke e.V. (APK) hat im Auftrag des BMG eine Geschäftsstelle eingerichtet und organisiert den Dialog.

Im Juni 2019 fand im Rahmen dieses Projektes ein Dialogforum zu „Versorgungsbereichen“ statt. Vorbereitend hatten Verbände die Gelegenheit, die für den jeweiligen Themenbereich zentralen Herausforderungen und Handlungsbedarfe aus ihrer Sicht zu skizzieren und so in den Dialogprozess einzubringen.

Das GeschwisterNetzwerk hat im Juni 2019 das nachfolgende Positionspapier (Autor: Reinhard Peukert) bei der APK eingereicht.

Stellungnahme des GeschwisterNetzwerks

im Rahmen des Dialog-Projektes (Versorgungsbereiche)

Sehr geehrte Damen und Herren,

das GeschwisterNetzwerk nimmt die gesamte Familie in den Blick, in der eine psychische Erkrankung Einzug gehalten hat, wobei wir unseren besonderen Focus auf die Familienmitglieder richten, die bisher sowohl in der Fachwelt als auch der Familienselbsthilfe nicht oder nur am Rande wahrgenommen werden. Der Blick auf die unterschiedlich betroffenen Familienrollen schließt die Berücksichtigung der familiären Dynamik zwingend mit ein.

Erfreulicherweise haben nach der Berücksichtigung der Eltern psychisch erkrankter Menschen auch die Kinder psychisch Erkrankter ein hohes Maß an Aufmerksamkeit gewonnen, ganz anders als bei den Geschwistern, deren Selbsterleben und Lebenswege von der Konfrontation mit der Erkrankung der Schwester bzw. des Bruders massiv beeinflusst wird. Deutschland hat hier gemessen an anderen Europäischen Ländern sowie Australien, Kanada und den USA einen sehr hohen Nachholbedarf.

Die negative Seite des Einflusses erweist sich u.a. in der signifikant höheren Krankheitslast der Geschwister, gemessen an Geschwistern aus Familien ohne psychische Erkrankung; in einer Studie, die auf der Basis der gesamten Population Taiwans erfolgte, ist diese Krankheitslast bei psychischen Erkrankungen bei den Geschwistern sogar höher als die bei den Kindern psychisch Erkrankter, deren subjektive Belastungen denen der Geschwister in vielen Bereichen sehr ähnlich ist.

Die positive Seite des Einflusses ist bei vielen Geschwistern ein deutlicher Zugewinn an Persönlichkeitswachstum, eine hervorzuhebende Empathie und soziale Kompetenzen, aber auch instrumentell-administrative Fähigkeiten. Dies wurde „erkauft“ mit besonderen Belastungen in der Kindheit und/oder Jugend sowie deren Bewältigung.

Hier kommt nun die Perspektive des Dialogprojektes ins Spiel, denn sowohl eine Reduzierung der Krankheitslasten als auch das Wenden der unvermeidbaren subjektiven Belastungen in ein positives Persönlichkeitswachstum kann durch gesetzlich fundierte Vorkehrungen gefördert werden.

  1. Die Belastungen im Zusammenhang mit Eskalationen bei einer sich (erneut) anbahnenden Erkrankung –
    durch die bundesweite Einführung von Krisenhilfen
    ,

wobei das Angebot denen von Bayern und Berlin angeglichen sein sollten, z.B. mit einer vorgeschalteten Clearingfunktion, damit alle Krisen dort „gemeldet“ werden können und sollen, auch „nur“ psycho-soziale, denn den Familien oder Freunde sollte die Entscheidung nicht zugemutet werden, ob es sich um einen psychiatrischen Notfall oder eine psycho-soziale Krise handelt.

Gesetzlicher Rahmen: Einfügen als Regelangebot ins SGB V, wobei ggf. eine Beteiligung der Kommunen (wegen der psycho-sozialen Krisenberatung) trotz der damit verbundenen Schwierigkeiten angestrebt werden muss, was aber auf keinen Fall zum Zurückstellen der gesetzlichen Regelung führen darf!
Die gegenwärtig geübte Praxis ist mehr als unangemessen: Auf viele, oft nicht miteinander kooperierende Schultern verteilt, zu jeweils festgesetzten Zeiten an unterschiedlichen Stellen abzurufen und gerade in den krisen-intensivsten Zeiten werden fachfremde Ärzte über den Notruf hinzugezogen.

  1. Belastungen aufgrund der verwirrend vielen, häufig nicht einschätzbaren Angebote auf der einen, und bei Familienmitgliedern verbleibende Hilfe- und Unterstützungsnotwendigkeiten auf der der anderen Seite –
    durch phasenadäquate Beratung aller Familienangehörigen sowie verbindlichen Absprachen mit allen Angehörigen, auch der Familienmitglieder untereinander

Innerhalb der Familie werden die faktisch geteilten Verantwortungen in den weitaus meisten Fällen nicht besprochen oder gar vereinbart, wodurch sich Geschwister im Kindes- und Jugendalter (ohne es zu dem Zeitpunkt zu erkennen, wohl aber im eigenen Erwachsenenalter) Verantwortungen zuschreiben, die sie nicht tragen können: Jugendliche werden von ihren Eltern gedrängt, Einweisungen zu initiieren, da sie selbst die Beziehung zum Kind nicht belasten wollen; Kinder und Jugendliche halten ihre Bedürfnisse innerhalb der Familie zurück – da sie sich für das Wohlergehen der doch ohnehin schon so sehr leidenden Eltern verantwortlich sehen; im Dienste der Außenwahrnehmung der Familie darf mit Freunden die Erkrankung nicht angesprochen werden etc. (Weitere Informationen u.a. dazu: www.GeschwisterNetzwerk.de).
Spätestens wenn die Eltern älter werden erleben sie die offen ausgesprochene oder unterschwellig vermittelte Erwartung, die gesamte elterliche Verantwortung für das erkrankte Geschwister zu übernehmen.

Gesetzlicher Rahmen: 1. Explizite Einführung eines Beratungsrechtes im Rahmen der medizinischen Behandlung für alle Familienmitglieder, individuell als auch in Form von Familiengesprächen. 2. Verankerung der Kompetenz von familienorientierten Hilfen, die die Differenzen der familiären Rollen berücksichtigen, in der Ausbildungs- und Weiterbildungsverordnung für Heilberufe unter Berücksichtigung des zwingend multiprofessionellen Handelns.

  1. Viele sinnvolle und im jeweiligen Einzelfall notwendigen Leistungen werden dennoch nicht erbracht, da deren Verordnung an der mangelnden Bereitschaft, Fremdleistungen hinzuzuziehen, scheitert –
    durch ein Recht von Angehörigen, selbst und unmittelbar folgende SGB V-Leistungen veranlassen zu können: Soziotherapie und bzw. oder schnell verfügbare fachärztliche Hausbesuche

Dies würde neben der Hilfe für den Patienten alle Familienmitglieder entlasten, denn was die Soziotherapie leistet, muss andernfalls ohne fachlichen Hintergrund irgendwie von Familienmitgliedern gestemmt werden, ob von den Eltern, den Geschwistern oder Großeltern sei dahin gestellt.

Gesetzlicher Rahmen: Einräumen eines Rechts für mit dem erkrankten Familienmitglied zusammenlebende erstrangigen Angehörige, auf einen ärztlichen Hausbesuch oder die Verordnung von Soziotherapie hinzuwirken.

Wir würden uns sehr freuen, wenn unsere Anregungen Ihre gefällige Aufmerksamkeit im Dialogprozess finden und wir stehen für Rückfragen bzw. Ergänzungen gern zur Verfügung.

Mit freundlichen Grüßen

Reinhard Peukert

Prof. Dr. Reinhard Peukert
für das GeschwisterNetzwerk

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