Unterstützungsbedarf für die Geschwister psychisch erkrankter Menschen

Seit Februar 2018 arbeitet die Arbeitsgruppe ‚Kinder psychisch und suchterkrankter Eltern‘. Sie wurde auf der Basis eines einstimmig verabschiedeten interfraktionellen Bundestags-Antrags eingerichtet und damit beauftragt, Vorschläge zu entwickeln zur Verbesserung der Situation von Kindern und Jugendlichen aus Familien, in denen mindestens ein Elternteil psychisch erkrankt ist. Den Abschlussbericht mit den Empfehlungen an den Deutschen Bundestag wird die Arbeitsgruppe im zweiten Halbjahr 2019 vorlegen.

Unter Berücksichtigung der interdisziplinären Fachexpertisen wird die Arbeitsgruppe Zielperspektiven festlegen, auf deren Grundlage sie Empfehlungen zur Verbesserung der Situation von Kindern psychisch und suchtkranker Eltern erarbeiten wird.

Dieser Bericht an den Bundestag ist Anlass für das GeschwisterNetzwerk, darauf hinzuweisen, dass die Geschwister eines psychisch erkrankten Kindes bzw. Jugendlichen ähnliche Belastungen und einen ähnlichen Hilfebedarf haben wie die Kinder mit einem psychisch kranken Elternteil.

Der Brief wurde Mitte Oktober 2019 an den unten genannten Empfängerkreis versandt; insgesamt rund 200 Empfänger.

Empfänger:

An

die Mitglieder und stellvertretenden Mitglieder der Bundestagsausschüsse FSFJ und Gesundheit
die Vorsitzenden bzw. Sprecher der Fraktionen
die Familienpolitischen Sprecher der Fraktionen

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Bundesministerium für Gesundheit
Gesundheitsministerkonferenz der Länder
Familienministerkonferenz
die Mitglieder der AG KipkE

Korrespondenzadresse:

GeschwisterNetzwerk.de
c/o AngehörigenNetzwerke.de
Am Stollhenn 43, 55120 Mainz
Tel.: 06131 686144

Prof. Dr. Reinhard Peukert
peukert@geschwisternetzwerk.de

Mit dem Bundestagsbeschluss zur Bildung einer Sachverständigen-Arbeitsgruppe ‚Kinder psychisch kranker Eltern‘ haben Sie die Erkenntnis unterstrichen, dass die psychische Erkrankung eines Familien­mitgliedes auch starke Auswirkungen auf deren Kinder hat. Die Ergebnisse dieser Arbeitsgruppe werden in Kürze vorliegen. Wir möchten bei dieser Gelegenheit darauf hinweisen, dass auch Geschwister psychisch kranker Menschen stark von diesen Auswirkungen betroffen sind. Dieser Problematik wird bisher in Deutschland wenig Beachtung geschenkt. Wir empfehlen, dass Sie bei Ihren Beratungen zum Bericht der AG KipkE auch die Situation der Geschwister berücksichtigen und Maßnahmen zur Verbes­serung ihrer Situation veranlassen. So könnte die Bundesregierung aufgefordert werden, in einem Projekt mit begleitender Expertengruppe den Stand der Erkenntnisse zu ermitteln und Handlungsemp­fehlungen zu erarbeiten.

Es gibt in Deutschland ca. 1 Million Geschwister psychisch Kranker aller Altersgruppen, deren besondere Situation bisher in der BRD so gut wie gar nicht wahrgenommen wird, anders als in einigen anderen Ländern (England, Australien, USA, Kanada). In Deutschland haben sich erwachsene Geschwister im GeschwisterNetzwerk organisiert und unterhalten eine Homepage www.geschwisternetzwerk.de mit einem Geschwisterforum, sie führen Geschwistertreffen und Eltern-Geschwister-Seminare durch und legen in Publikationen Beschreibungen der unterschiedlichen Lebenssituationen von Geschwistern vor. Die Erfahrungen des GeschwisterNetzwerks in Deutschland bestätigen internationale Forschungsergeb­nisse, in denen auf der einen Seite langfristig positive Effekte für die Persönlichkeitsentwicklung auf­grund der erlebten Herausforderungen hervorgehoben werden, wobei der Weg dorthin von vielfältigen Belastungen begleitet wird. Daneben gibt es andererseits eine nicht unerhebliche Zahl von Geschwis­tern, die schwere Belastungen aufgrund der besonderen Familiensituation mit sich tragen, bis hin zu eigenen, reaktiven psychischen Erkrankungen. Populationsbezogene Studien in Taiwan und Israel zeig­ten eine Krankheitslast der Geschwister, die der von Kindern psychisch erkrankter Eltern sehr ähnlich war, im Umfang und in der Verteilung der psychischen Störungen.

Ohne weiter in Details zu gehen ist die Notwendigkeit, dieser Gruppe von Angehörigen fachöffentlich die erforderliche Aufmerksamkeit zu widmen, nicht von der Hand zu weisen – mit dem Ziel, jenen jüngeren Geschwistern angemessene Unterstützung zur Verfügung zu stellen, bei denen sich eine schwierige Entwicklung anbahnt, sowie jenen, bei denen Belastungsreaktionen bereits chronifiziert sind.

Auch die Tatsache, dass Geschwister für in der Zukunft liegende Krisenzeiten der Erkrankten eine un­schätzbare Beziehungsreserve bieten und zur Stabilisierung beitragen können, spricht für die Entwick­lung von Angeboten an Geschwister sowie deren Eltern.

Die Lebenssituation der Geschwister ist u.a. von folgenden Erfahrungen geprägt:

  • Die Erkrankung des Geschwisters stürzt dessen Schwestern und Brüder in unauflösbare Ambivalenzen:

— neben dem starken Impuls zu helfen stehen Scham und Wut über herausforderndes Verhalten;
— neben die aus gemeinsamen Jahren gewachsene Zuneigung bis hin zu Liebe tritt das Bestreben, sich um der eigenen Entwicklung willen abzugrenzen.

  • Nicht nur, dass die zwiespältigen Gefühle belasten – sie ziehen unweigerlich Schuldgefühle nach sich:

— z.B. bei jeder Überlegung, Abstand von der Schwester bzw. dem Bruder zu nehmen,
— oder wenn ihnen klar wird, dass sie als Zweitgeborene am Erstgeborenen vorbei ziehen,
— und manchmal schon bei der Frage: ‚Warum hat es ihn erwischt – und nicht mich?‘

  • Es erfolgt eine Konzentration der Eltern auf das erkrankte Kind – Geschwister geraten in den Schatten und bemühen sich, die guten, braven, unproblematischen zu sein, um die Eltern nicht noch mehr zu belasten.
      
  • Gleichzeitig entsteht ein hoher Leidensdruck aufgrund der spezifischen Rolle mit der Gefahr der Über­forderung.
      
  • Eltern und Geschwister treibt bereits relativ bald nach Erkrankungsbeginn die gleiche Frage um.

— Die Eltern fragen sich: ‚Werden meine gesunden Kinder meine Rolle übernehmen, wenn ich nicht mehr kann?‘
— Die Geschwister spüren diese Erwartung und quälen sich mit dem Problem, ob sie angesichts der Erkrankung der Schwester / des Bruders sowie des erspürten Anspruchs der Eltern ein eigenständi­ges Leben leben dürfen. Nicht wenige Geschwister verbieten sich sogar, glücklich zu sein ‚… da es allen anderen in der Familie doch auch so schlecht geht!‘

  • Angesichts der Erfahrung mit der Erkrankung in der Familie und den öffentlichen Debatten zur Ver­erbung psychischer Störungen treibt Geschwister oft die Angst um, ggf. auch selbst psychisch zu er­kranken bzw. erkrankte Kinder zu bekommen – dies führt u.a. nicht selten zur fatalen Entscheidung, Intimbeziehungen und Elternschaft aus dem Wege zu gehen.

Literatur wird von den Verfassern jederzeit gerne zur Verfügung gestellt; einige Literaturhinweise finden Sie auch im Anhang.

Mit freundlichen Grüßen

Prof. em. Dr. Reinhard Peukert
Professor für Sozialmedizin und Sozialmanagement
(Mitglied des Vorstands)

Prof. Dr. Renate Schepker
Ärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie
(Beratende Expertin)

Anhang: Literaturhinweise

Bock, T.; Fritz-Krieger, S.; Stielow, K. (2008): Belastungen und Herausforderungen. Situation und Perspektive von Geschwistern schizophrener Patienten.
In: Sozialpsychiatrische Informationen 38(1), 23-31
Einzusehen unter: https://geschwisternetzwerk.de/2008-bock-fritz-krieger-stielow-spinfo/

Bojanowski, S. (2016): Geschwisterbeziehungen im Kontext psychischer Erkrankungen. Dissertation Universität Potsdam;
darin enthalten: Bojanowski, S.; Nisslein, J.; Riestock, N.; Lehmkuhl, U. (2016): Siblings relationships of children and adolescents with mental disorders – risk factor or resource? Manuskript, 89-102
Einzusehen unter: https://geschwisternetzwerk.de/2016-bojanowski-dissertation/

Cheng, C.M.; Chang, W.H.; u.a. (2018): Co-aggregation of major psychiatric disorders in individuals with first-degree relatives with schizophrenia: a nationwide population-based study.
In: Molecular Psychiatry 23(8), S. 1756-1763
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/29112198

Leith, J.E.; Jewell, T.C.; Stein, C.H. (2018): Caregiving attitudes, personal loss, and stress-related growth among siblings of adults with mental illness.
In: Journal of Child and Family Studies 27(4), 1193-1206
https://link.springer.com/article/10.1007%2Fs10826-017-0965-4

Marsh, D.T.; Dickens, R.M.; Koeske, R.D.; u.a. (1993): Troubled journey: Siblings and children of people with mental illness.
In: Innovation and Research 2(2), 17-24
http://www.psychodyssey.net/wp-content/uploads/2012/05/Troubled-Journey.pdf (Autorenexemplar)

Peukert, R. (2017): Erlebte, gelebte, erlittene Verantwortung von Schwestern und Brüdern eines psychisch erkrankten Geschwisters.
In: Aktion psychisch Kranke; Weiß, P.; Heinz, A. (Hrsg.): Verantwortung übernehmen. Verlässliche Hilfen bei psychischen Erkrankungen. Tagungsband 43. Bonn: APK, 168-190
https://www.apk-ev.de/fileadmin/downloads/Band_43.pdf

Peukert, R., Julius, L.; Gagi K.; Bach, C. (2019): Geschwister nehmen das Leben als Schwester oder Bruder eines psychisch erkrankten Menschen in die eigenen Hände
In: Aktion Psychisch Kranke; Weiß, P.; Fegert, J.M. (Hrsg.): Planen – umsetzen – bewerten. Psychiatriepolitik gestalten. Tagungsband 45. Bonn: APK, 103-133
https://www.apk-ev.de/fileadmin/downloads/APK_2019_45_web.pdf

Popovic, D.; Goldberg, S.; Fenchel, D.; u.a. (2018): Risk of hospitalization for psychiatric disorders among siblings and parents of probands with psychotic or affective disorders: A population-based study.
In: European Neuropsychopharmacology 28(3), 436-443
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/29275842

Schmid, R.; Spießl, H.; Peukert, R. (2004): „Außen vor und doch mitten drin“ – Die Situation von Geschwistern psychisch Kranker.
In: Psychiatrische Praxis 31(5), 225-227
https://www.thieme-connect.com/products/ejournals/html/10.1055/s-2003-814991

Schrank B.; Sibitz, I.; Schaffer, M.; Amering, M. (2007): Zu Unrecht vernachlässigt: Geschwister von Menschen mit schizophrenen Psychosen.
In: Neuropsychiatrie 21(3), 216-225
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/17915182

Sin, J.; Murrells, T.; Spain, D.; Norman, I.; Henderson, C. (2016): Wellbeing, mental health knowledge and caregiving experiences of siblings of people with psychosis, compared to their peers and parents: an exploratory study.
In: Social Psychiatry and Psychiatric Epidemiology 51(9), 1247-1255
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC5025483/

Stålberg, G.; Ekerwald, H.; Hultman, C.M. (2004): At Issue: Siblings of patients with schizophrenia: sibling bond, coping patterns, and fear of possible schizophrenia heredity.
In: Schizophrenia Bulletin 30(2), 445-458
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/15279059

Wolfe, B.; Song, J.; Greenberg, J.S.; Mailick, M.R. (2014): Ripple effects of developmental disabilities and mental illness on nondisabled adult siblings.
In: Social Science and Medicine 108(5), 1-9
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4079586/

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