Beiträge in: Wissen

Reinhard Peukert (2008)

Überlegungen im Anschluss an das Geschwistertreffen in Hamburg am 19.04.2008. Eine gekürzte Fassung ist in der Psychosozialen Umschau 3/2008 erschienen.

Ausschnitt:

Jede Zeit hat ihre Wunden und Lösungen …

Je nach dem,

  • wie lang der Zeitabstand zur Ersterkrankung ist, und
  • wie nahe das Ausscheiden der eigenen Eltern aus der Verantwortung zu erwarten oder bereits eingetreten ist

wandeln sich die Einflüsse, die sich aus der Erkrankung des Geschwisters auf die eigene Biographie ergeben.

Es wandeln sich die erlebten Belastungen, die wahrgenommenen Herausforderungen, die Wahrnehmung persönlicher Reifeprozesse aufgrund dieser Herausforderungen, aber auch der erkennbare sowie von den Geschwistern reklamierte Hilfebedarf verändert sich drastisch. Diese Wandlungen sind eingebettet in die unauflösbare Beziehung zur Schwester bzw. zum Bruder, wobei auch die Beziehung im biographischen Verlauf intensive Wandlungen erfährt.

Beate Schrank, Ingrid Sibitz, Markus Schaffer, Michaela Amering (2007)

veröffentlicht in Neuropsychiatrie, 21(3), 216-225

Zusammenfassung:

Anliegen: Die vorliegende Untersuchung vergleicht Geschwister von PatientInnen mit einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis mit Eltern und PartnerInnen bezüglich ihrer Nutzung von Information, Hilfe und einer routinemäßig stattfindenden expertengeleiteten Angehörigengruppe, ebenso wie hinsichtlich ihrer Belastung und Lebensqualität.

Methode: Insgesamt wurden 147 Angehörige stationär bzw. tagesklinisch aufgenommener PatientInnen mit einem Fragebogen zum gesundheitlichen Wohlbefinden, zu Problemen in der Familie, zur Lebensqualität und zur Nutzung von Hilfe-Angeboten erfasst.

Ergebnisse: Obwohl Geschwister insgesamt weniger Kontakt zu PatientInnen pflegten als Eltern und PartnerInnen, fühlten sie sich subjektiv kaum weniger stark belastet. Ihre Lebensqualität war jedoch weniger stark eingeschränkt als die der beiden anderen Gruppen. Geschwister erhielten im Vergleich zu Eltern und PartnerInnen signifikant weniger Information und Hilfe und wurden signifikant seltener zur Angehörigengruppe eingeladen.

Schlussfolgerungen: Geschwister von PatientInnen mit Schizophrenie sind in der Angehörigen-Arbeit eine vernachlässigte wenngleich subjektiv stark belastete Gruppe. Es scheint angebracht, dieser speziellen Gruppe Angehöriger vermehrte Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.

Rita Schmid, Tanja Schielein, Hermann Spießl, Clemens Cording (2006)

Psychiatrische Praxis, 33(4), 177-183. Der vollständige Artikel ist kostenpflichtig.

Zusammenfassung:

Hintergrund: Bisherige Studien zu Auswirkungen einer psychischen Erkrankung auf die Familie des Erkrankten basieren meist auf Aussagen von Eltern des Erkrankten. Geschwister gehörten dagegen bislang zur Gruppe der „vergessenen Angehörigen”.

Methode: Es wurden narrative Interviews mit 37 Geschwistern stationär behandelter schizophrener Patienten durchgeführt. Die Auswertung erfolgte mittels einer zusammenfassenden qualitativen Inhaltsanalyse mit anschließender Quantifizierung.

Ergebnisse: Die 492 Aussagen der Geschwister konnten in 26 globalen Statements zusammengefasst und in fünf Kategorien abgebildet werden:
1. „Belastungen im Umgang mit dem erkrankten Geschwister” (36,2 %),
2. „Belastungen für die persönliche Lebenssituation der gesunden Geschwister” (26,8 %),
3. „Belastungen im Umgang mit der Herkunftsfamilie” (15,7 %),
4. „Belastungen im Umgang mit Institutionen und professionellen Helfern” (14,2 %),
5. „Belastungen im eigenen sozialen Umfeld” (7,1 %).
Die drei von den gesunden Geschwistern am häufigsten genannten Belastungen sind: Umgang mit der Krankheitssymptomatik (100 %), emotionale Belastungen (100 %) und Unsicherheit in der Einschätzung der Belastbarkeit des Erkrankten (81,1 %).

Schlussfolgerung: Geschwister schizophren Erkrankter sind in vielfältiger Weise belastet. Ihre besondere Situation sollte bei der ambulanten und stationären Behandlung mehr Berücksichtung finden.

Rita Schmid, Hermann Spießl, Reinhard Peukert (2004)

Psychiatrische Praxis 31(5), 225-227. Der vollständige Artikel ist kostenfrei zugänglich.

Zusammenfassung:

Eine chronische Erkrankung bedingt einerseits starke Belastungen und vielfältige Veränderungen im Leben des Betroffenen, andererseits greift sie häufig tief in das persönliche Leben und Erleben der Angehörigen ein und verändert die Dynamik der familiären Interaktionen. Vertraute Familienrollen werden durch eine Erkrankung erschüttert, jedes Familienmitglied wird mit neuen Anforderungen, ausgesprochenen und unausgesprochenen Erwartungen und Rollenverschiebungen innerhalb der Familie konfrontiert. Das alltägliche Miteinander wie auch der individuell je notwendige Abstand müssen von allen Familienmitgliedern neu gelernt werden – Konflikte bleiben hierbei meist nicht aus!

Rita Schmid (2004)

Landesverband Bayern der Angehörigen psychisch Kranker e.V. (Hrsg.), Tagungsband 2004, S. 87-109; Angehörigentagung in Regensburg "Auch Geschwister und Kinder sind Angehörige"

Vorstellung einer Studie, durchgeführt an der psychiatrischen Klinik der Universität Regensburg. Auszug aus der Einleitung:

Während die Bedeutung der Einbeziehung von Eltern und Ehepartnern psychisch Kranker für den Behandlungserfolg des Patienten ebenso wie die Notwendigkeit ihrer persönlichen Entlastung inzwischen jedoch weitgehend erkannt wurde, gehört die Gruppe der Geschwister psychisch erkrankter Menschen bisher eher zu der Gruppe der „vergessenen Angehörigen”.
„Nur eine Schwester bzw. ein Bruder zu sein” wird fälschlicherweise häufig mit „nicht direkt betroffen sein bzw. außen vor zu sein” assoziiert. Diese Fehleinschätzung verursacht bzw. verstärkt bei Geschwisterbetroffenen nicht selten Gefühle von Einsamkeit und Hilflosigkeit, obgleich häufig sie die „Vermittler” in den Familien und die langfristigen Bezugspersonen der Erkrankten sind.

Reinhard Peukert (2003)

veröffentlicht in Psychosoziale Umschau, 4/2003, S. 35-37

Auszug:

Auf die Ähnlichkeit mit Kindern psychisch kranker Menschen folgt eine Phase, in der Geschwister offensichtlich – anders als z.B. viele Eltern – ein relativ unbelastetes Leben führen können, um dann im fortgeschrittenen Alter in einen für sie oft unerwarteten neuen Status zu wechseln: Werden die Eltern gebrechlich oder sterben sie, kommt man als Bruder oder Schwester möglicherweise sehr plötzlich in eine Verantwortung hinein, mit der man oder frau vorher nicht gerechnet hatte.
Hatten sich bislang die familiären Bindungen und Ansprüche auf die Eltern und Geschwister verteilt, könnte man plötzlich allein da stehen; lebte man bisher weit weg von der Herkunftsfamilie, fühlt man sich auf einmal genötigt, nach Hause zurück zu kehren, sich zur Verfügung zu stellen und dies und das zu regeln. Es treten die Fragen und Probleme auf, die Angehörige aus den Gruppen mit Eltern psychisch kranker Menschen nur zu gut kennen. Dann gilt, was ein Gruppenmitglied so formulierte: »Wir können so weit weg rennen wie wir wollen, wir können uns so viel abwenden wie wir wollen, unser kranker Bruder oder Schwester wird letztlich immer bei uns sein und uns immer auf dem Rücken sitzen«, und er fügte hinzu: »Und das ist gut so!«
Ich möchte ergänzen: Spätestens, wenn die Eltern nicht mehr sind, steigt er vom Rücken herab und steht mit fragendem Blick vor einem. Kann man und frau sich darauf vorbereiten?

Lotte Mucha (1982)

Beitrag in: Klaus Dörner, Albrecht Egetmeyer & Konstanze Koenning, Freispruch der Familie: Wie Angehörige psychiatrischer Patienten sich in Gruppen von Not und Einsamkeit, von Schuld und Last freisprechen.

Auszüge:

Ich bin eine solche Schwester und seit vielen Jahren in der Angehörigenbewegung tätig. Was mich beunruhigt: „Wo sind die Geschwisterangehörigen, wo sind die Ehepartnerangehörigen?”

…  Seit 45 Jahren bin ich Angehörige. Allerdings — „nur eine Schwester” —. Auch bei uns standen die Eltern fast 30 Jahre lang in der „ersten Reihe”. Sie trugen die Pflicht und die Verantwortung für die Betreuung der erkrankten Tochter. Als dann durch ihren Tod die „erste Reihe” ausgefallen ist, kam — nur die Schwester — in die „erste Reihe”. War das ganz selbstverständlich?

…  Dies alles löst bei mir zwar keine Schuld, aber noch so etwas wie ein schlechtes Gewissen aus und dazu die Zweifel: Werde ich den Bedürfnissen der erkrankten Schwester gerecht, was empfindet meine Schwester, wenn sie bei Sport, Spiel und Diskussion nicht mitmachen kann in einer Familie mit Jugendlichen? Wenn ihre Nichte ihr energisch verbietet sie in  der Schule abzuholen, wenn die Meinungsverschiedenheiten laut-stark ausgetragen werden?

…  Wir Angehörige sollten unser Leid nicht abwägen, es wiegt für jeden Einzelnen immer gleich schwer. Darum gehören in keine Gruppe Sätze wie: „Bei mir ist das aber ganz anders… !” Oder: „Bei Ihnen ist das ja nicht so schlimm…, Sie sind ja nur die Schwester.”

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