Geschwistertreffen am 10.11.2018 in Kassel

Reinhard Peukert berichtet vom ersten Netzwerktreffen der Geschwister psychisch erkrankter Menschen

Der Bericht ist erschienen in der Psychosozialen Umschau 1/2019.

15 Jahre nach dem ersten bundesweiten Treffen von Geschwistern psychisch erkrankter Menschen (PSU 4/2003) hatte das voranderthalb Jahren gegründete GeschwisterNetzwerk (PSU 3/2017) zu einem Treffen nach Kassel eingeladen: Am 10. November kamen 32 Geschwisterkinder aus allen Teilen Deutschlands und aus fast allen Altersgruppen: vom Baby bis zum Rentner. Aufgrund dieser Altersspreizung bot es sich geradezu an, die deutlich ausgeprägten altersphasentypischen Anforderungen und Belastungen zu besprechen.

Es gab aber noch andere Beweggründe, nach Kassel zu fahren, sie wurden in einer Vorstellungsrunde benannt: der Wunsch nach Austausch mit Personen in der gleichen Situation, die erlebte Hilflosigkeit verbunden mit der Ambivalenz von Trauer und Zorn, die bedrängende Angst vor der Zukunft, wenn die Eltern versterben und sie selbst in eine diffuse, nicht vorhersehbare Verantwortung eintreten. Außerdem motivierte der schlechte Kontakt zum Hilfesystem, der erfahrene Mangel an Informationen über Hilfeeinrichtungen und die mit Psychiatrie verbundenen juristischen Fragen zur Teilnahme.

Themen von Schwestern und Brüdern

Manche der Geschwister sind schon länger Mitglieder einer Angehörigengruppe, merkten aber sehr schnell, dass sie noch andere Themen hatten. Jedes Geschwisterkind hat den Unterschied des eigenen Erlebens zu dem der Eltern erfahren. Es kommt nahezu regelhaft zu Spannungen zwischen erwachsenen Geschwistern und den Eltern, wenn sich die Familie nicht rechtzeitig auf die sich wandelnden Verantwortlichkeiten vorbereiten kann oder will, aber es ist aufgrund des Älterwerdens der bis dahin sorgenden Eltern unvermeidbar sich zu fragen, wer nach dem Tod der Eltern für das kranke Familienmitglied da ist. Für den Prozess dieses Rollenwechsels hat sich einmal mehr eine Geschlechterdifferenz gezeigt: Schwestern werden wohl mehr in die Pflicht genommen als Brüder – und sind auch wohl eher bereit, die Verantwortung zu übernehmen.
Viel Raum nahmen die Versuche ein, die eigenen Gefühle zu ordnen und mit ihnen besser zurecht zu kommen, denn die Situation von Geschwisterkindern ist grundsätzlich immer ambivalent. So ist z.B. die Gleichzeitigkeit von Wut und Ärger über das, was die Erkrankung in der Familie auslöst fast immer gepaart mit tiefer Zuneigung zum erkrankten Geschwister und zugleich mit der geradezu selbstverleugnenden Bereitschaft, den Eltern mit den eigenen Bedürfnissen und Anliegen nicht noch weitere Sorge bereiten zu wollen.

Geschwisterkinder werden von den Eltern nicht bewusst vernachlässigt, wie man hier und da lesen kann: Sie nehmen die Rolle des gesunden, starken, problemlosen Kindes aktiv an,  was aber im Laufe der Jahre zu psychischen Problemen führen kann. Gleichzeitig wurde auch in Kassel wieder deutlich: Viele Geschwisterkinder erwerben aufgrund ihrer besonderen Lebenssituation psycho-soziale Kompetenzen, die sie therapeutische und soziale Berufe wählen lässt.
Einige Geschwister berichteten von ihrer Angst, selbst zu erkranken bzw. das Erkrankungsrisiko an eigene Kinder zu vererben. Bei manchen hat es zur Entscheidung geführt, kinderlos zu bleiben. Hier sehen wir einen Beratungsbedarf, den das GeschwisterNetzwerk bedienen kann. Geschwister teilen aber auch viele Themen anderer Angehöriger. Sie müssen sich wie alle Angehörigen gegen Stigmatisierungen wehren, ein weiteres Thema beim Treffen.
Natürlich beschäftigen sich Geschwister mit der Situation ihrer erkrankten Schwester bzw. ihres Bruders in den Hilfesystemen. Viele von ihnen sind mit dem, was sie beobachten müssen, nicht einverstanden und wollen sich für »eine andere Psychiatrie« einsetzen bzw. sie haben sich  bereits zusammen mit Professionellen und weiteren Angehörigen auf den Weg gemacht.

Der nächste Schritt: regionale Vernetzung

Es blieb auch noch Zeit, um über die bisherigen Erfahrungen sowie die Zukunft des GeschwisterNetzwerkes und des eingerichteten Forums zu diskutieren. Dabei wurde deutlich: Ein öffentliches, für Jedermann und Jederfrau zugängliches Forum hat seinen Sinn, aber es löst zugleich Hemmungen aus, sich dort mit der Breite an Erfahrungen und Erlebnissen zu präsentieren, wie es in einem geschlossenen Forum möglich wäre; dies hatte einige derTeilnehmenden an Diskussionsbeiträgen im Forum gehindert.
Sich in einer Geschwistergruppe ohne Nicht-Geschwister auszutauschen wurde von allen Anwesenden als höchst wertvoll erlebt und bekräftigt die bereits bestehenden Bemühungen, regionale Geschwistergruppen zu initiieren. Für Kassel ist das mit dem Treffen gelungen!
Über regionale Gruppen sowie das Forum hinaus soll es weiterhin überregionale Geschwistertreffen für alle diejenigen geben, für die es in ihrer Region bisher zu keiner Gruppenbildung gekommen ist. 11 der Teilnehmenden sind Mitglieder in einem Landesverband der Angehörigen, und bis auf eine Ausnahme wurde deren Teilnahme von ihrem Verband begrüßt und gefördert, denn viele Eltern in den Landesverbänden kommen langsam in ein Alter, in dem sie nicht umhin können, Aufgaben an die Geschwisterkinder abgeben zu müssen.
Der Landesverband Hamburg nimmt diese Herausforderung an und wird im kommenden Jahr ein Eltern-Geschwister-Seminar in Kooperation mit dem GeschwisterNetzwerk durchführen.

Nach dem Treffen hat eine Teilnehmerin ihre Eindrücke unter dem Titel  „Geschwister der anderen Art“ niedergeschrieben und uns zugesandt. Danke dafür.

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