Seminar für Eltern und Geschwister am 27.07.2019 in Mainz

Nach 2017 lud der Angehörigenverein “Territorio” in Mainz bereits zum zweiten Mal zu einem Seminar für Eltern und Geschwister ein.

Moderation: Prof. Dr. Reinhard Peukert, Gründungsmitglied des GeschwisterNetzwerks.

Protokoll/Bericht: Prof. Dr. Reinhard Peukert und Leonore Julius

  • Wie geht es weiter, wenn wir Eltern nicht mehr sind?
  • Was dürfen wir unseren gesunden Kindern zumuten?
  • Sind Geschwister nach dem Tod der Eltern verantwortlich für ihren erkrankten Bruder/Schwester?
  • Weitere Fragen, die in der Gesprächsrunde aufgeworfen werden.

Die Teilnehmenden, darunter vier Paare und vier Geschwister, gaben sehr offen Einblick in ihre jeweiligen familiären Problemlagen, denen sie sich aufgrund der Erkrankung eines Kindes gegenüber gestellt sehen. Ganz direkt wurde angesprochen, wie beruhigend es eigentlich wäre, wenn die Geschwisterkinder ohne Umschweife die Funktionen der Eltern übernehmen würden – aber dass das aus mehreren Gründen eine unrealistische Wunschvorstellung sei. Auf den unrealistischen Wunsch folgte unmittelbar der Zweifel. Die Eltern bzw. Elternteile zweifelten, ob sie (einen Teil) ihrer Verantwortung und ihres Kümmerns an andere Kinder in der Familie aus Sorge um diese Geschwister­kinder überhaupt weiter geben sollten, oder ob sie es erfolgreich könnten, wenn sie wollten.

Die Zweifel beruhten

  • auf der bereits wahrgenommenen Distanzierung bis hin zu Abwehr der Geschwisterkinder, sich einzulassen, oder
  • auf der Überlegung, dem oder den gesunden Geschwisterkindern dies nicht aufbürden zu sollen, und zwar selbst dann, wenn sich die Geschwisterkinder zum gegenwärtigen Zeitpunkt für die oder den Erkrankten engagieren und den Eltern hilfreich zur Seite stehen.

Sehr schnell wurde deutlich: Wie üblich gibt es auch hier kein „entweder – oder“; entweder die bruchlose vollumfängliche Übernahme der elterlichen Sorge oder die vollständige Befreiung von allen nur denkbaren Unterstützungsmöglichkeiten.

Damit schälte sich als zentrale Fragestellung heraus:

  • Welchen Beitrag der Geschwisterkinder können wir Eltern vor uns moralisch rechtfertigen und im Blick auf das oder die Mitgeschwister verantworten ohne sie zu überfordern?
    Dabei geht es um den geschwisterlichen Beitrag
    • bei der Sorge,
    • den Unterstützungen
    • und den Hilfen,

die das erkrankte Kind auch noch braucht, wenn ich nicht mehr bin oder nicht mehr dazu in der Lage bin.

Die Beschäftigung mit dieser Frage ist immer begleitet von den vorausschauenden Überlegungen:

  • Wozu wäre er oder sie überhaupt bereit?
  • Weiß ich das schon, oder wie kann ich das in Erfahrung bringen?
  • Was wäre uns Eltern besonders wichtig – was sollte die Schwester oder der Bruder unbedingt übernehmen?

Noch ist es nicht so weit, die anwesenden Mütter und Väter blicken auch auf die derzeitige Situation.

  • Eine Mutter hat z.B. den Eindruck, die Tochter könnte sich zu sehr sorgen,
  • eine andere Mutter beklagt die mangelnde Bereitschaft der Tochter, sich auf den erkrankten Bruder einzulassen.

Das prägt den Blick auf die Zukunft.

Exkurs: Die Geschwisterbeziehungen

Zur Betrachtung der aktuellen Situation gehört immer auch der Blick auf die Beziehung zwischen den Geschwistern. Studien belegen: War die Geschwisterbeziehung seit der Kindheit bis zum Erkrankungsbeginn eher positiv, bestimmt dies langfristig die Beziehung zwischen erkranktem und gesundem Geschwister. Andere Studien zeigten, eine gute Beziehung zwischen den Geschwistern wirkt sich positiv auf das Wohlbefinden der oder des Erkrankten aus und hat eine gewisse präventive Wirkung.
Aus diesen Gründen spricht viel dafür, der Beziehung zwischen den Geschwistern Freiraum für die eigene Gestaltung zu geben und mit Forderungen oder Kritik am Umgang des Geschwisterkindes mit der oder dem Erkrankten zurückhaltend zu sein. Mit hoher Wahrscheinlichkeit finden die Geschwister am ehesten die für sie günstigste Geschwisterkonstellation, wenn sie dabei nicht gestört werden.
Als Regel kann gelten: Eltern haben eher geringe Möglichkeiten, auf eine positive Geschwister­beziehung hinzuwirken, wenn die Geschwister das Erwachsenenalter erreicht haben; sie können aber vermeiden, negative Aspekte in der Beziehung zu verstärken.

Häufig wird darüber gesprochen, wie belastend die Situation für die Geschwisterkinder sei. Zum Gesamtbild gehört aber auch das Folgende:

Alle ausreichend sensitiven und intensiven Interviews mit Geschwistern einer psychisch erkrankten Schwester bzw. eines Bruders zeigen immer wieder: die meisten Geschwister können neben dem höchst negativen Erleben für sich auch Positives in den Herausforderungen erkennen.
Selbst wenn beispielsweise eine Schwester unter Tränen über das schwere Leid ihres Bruders, die Hilflosigkeit der Mutter damit fertig zu werden und ihre eigenen vergeblichen Bemühungen, Hilfen für den Bruder zu organisieren berichtet – auf Nachfrage und nach kurzem Nachdenken wird auch diese Schwester positive Effekte für sich sehen: z.B. die gewachsene Fähigkeit, an offiziellen Stellen Forderungen anzumelden; eine Zunahme an Empathie, der Bereitschaft und Fähigkeit, auch komplexe Gefühle bei anderen zu erkennen und sich darauf einzulassen, die Fähigkeit, in unübersichtlichen und krisenhaften Situationen „einen klaren Kopf zu bewahren“, und anderes mehr. Alles Fähigkeiten, die Geschwisterkinder für ihre eigene Entwicklung sowohl im beruflichen als auch im privaten Kontext sehr gewinnbringend nutzen können.

Alle auf die Zukunft gerichteten Überlegungen werden überlagert und werden möglicherweise unabwendbar torpediert, wenn das erkrankte Kind jegliche Unterstützung ablehnt, worunter die Eltern leiden und womit sie fertig werden mussten. Die Geschwisterkinder sehen diese Bürde der Eltern sehr wohl und sie wird nahezu zwangsläufig in dieser oder jener Weise auf die Geschwisterkinder zukommen:
Das Band zwischen Geschwistern ist letztlich unauflösbar; selbst dann, wenn jeglicher Kontakt zusammengebrochen ist bleibt die Beziehung zur Schwester oder zum Bruder bestehen, so wie die zwischen Müttern (oft auch den Vätern) und deren Kindern.

Zwei der anwesenden Mütter müssen damit leben, dass ihre Söhne jede Hilfe radikal ablehnen und auf der Straße leben. Das ist ein schweres Los, das die Geschwister mitzutragen haben. Trauern, sich abfinden und das eigene Leben weiterleben scheint der einzig mögliche Weg zu sein – immer mit der stillen Hoffnung, dass sich im Laufe der Zeit doch noch etwas ändern könnte.

In ihren Überlegungen zu der Frage, was mal werden soll hegen die einen Eltern mit Blick auf ihre Erfahrungen mit dem erkrankten Kind stille Erwartungen an die Geschwisterkinder, andere formulieren die Erwartungen offen und ausdrücklich, und wieder andere Eltern klagen die an die Mitgeschwister gerichteten Ansprüche offen ein.

Das zuletzt genannte Verhalten, das Einklagen von Ansprüchen und Erwartungen an die Geschwister, war bei den teilnehmenden Eltern nicht zu erkennen. Dieser massiven Druck, sich um die Schwester oder den Bruder zu kümmern, ist jedoch aus Geschwistergesprächen bekannt – bis hin zu der Verankerung der Aufgaben des Mitgeschwisters im elterlichen Testament, indem das Erbe an die Auflage gebunden wird, für das erkrankte Kind Sorge zu tragen.

Mehrere teilnehmende Eltern bzw. Elternteile haben eine ‚weichere‘ Regelung getroffen; sie haben den „eigentlichen“ Erb- bzw. Vermögensanteil des erkrankten Kindes diesem entzogen und die Verwaltung dieses Anteils den gesunden Kindern übertragen, mit geringen oder umfangreicheren Auflagen; Stichwort ist hier „Behindertentestament“ bzw. eine vergleichbare Vereinbarung. Ein wesentlicher Aspekt bei diesen Arrangements war erkennbar der Wunsch, das Vermögen vor dem Zugriff Dritter und dem unbedachten Verschleudern während einer Krise des erkrankten Kindes zu schützen, um es längerfristig zur Verbesserung seiner finanziellen Ausstattung nutzbar zu machen.

Bemerkenswert ist, dass zwei Elternpaare die getroffenen Regelungen inzwischen massiv hinterfragen. Sie sehen nach der prozesshaften Auseinandersetzung mit dieser Frage

  • einerseits die Bürde, die sie dem oder den gesunden Kindern auferlegen, obgleich diese der Vereinbarung zugestimmt haben,
  • andererseits, dass sie dem erkrankten Kind einen Teil seiner Selbstbestimmung nehmen
  • und darüber hinaus hoffen sie auf eine weniger belastete Geschwisterbeziehung, wenn dieses auf einem Machtgefälle beruhende potenzielle Minenfeld ausgeräumt wird (siehe dazu auch den Abschnitt: Der Wunsch nach einer „normalen“ Beziehung zwischen allen Geschwistern).

Deutlich wurde aber auch, dass der Verzicht auf solche Regelungen nicht frei von Risiken ist und erhebliches Vertrauen in das erkrankte Kind voraussetzt.

Eine Teilnehmerin bekräftigte diese Überlegungen. Sie hat in ihrem beruflichen Umfeld erlebt, wie gut es einer Klientin tat, wenigstens für einen gewissen Zeitraum von fremder Unterstützung (in diesem Fall durch das Sozialamt) frei zu sein und ganz allein finanziell für sich sorgen zu können.

Von einer enormen moralischen Druck erzeugenden Verantwortungsübergabe hat eine anwesende Schwester berichtet. Ihr wurde vom Vater auf dem Totenbett das Versprechen abgenommen, sich um die Erkrankten zu kümmern – in diesem Falle sind es sogar mehrere erkrankte Geschwister. Die Schwester fühlt sich nicht gut dabei, hat permanent ein schlechtes Gewissen und sieht symbolisch „den Arm des Vaters aus dem Grab“. Sie hat dennoch für sich eine Lösung gefunden, die gut als Modell für alle Geschwisterkinder mit der Bereitschaft, sich später um die erkrankte Schwester bzw. den Bruder irgendwie zu kümmern, gelten kann: „Ich habe versprochen, mich zu kümmern – aber nicht auf seine Weise, sondern auf meine!“ Ihre Weise besteht darin, die „Schirmherrschaft“ über die organisierten und zu organisierenden Hilfen zu übernehmen.
Die kranken Geschwister dieser Schwester haben gesetzliche Betreuer, eine Schwester lebt im Heim. Sie kann sich kümmern, da sie den Zugang zu professioneller Hilfe organisiert hat und diese managt, sieht es aber dennoch als „schwierig bis unmöglich“ an, dauerhaft die Kontrolle zu behalten.

Es sollte nicht übersehen werden, dass Erwartungen und Wünsche der Eltern oder eines Elternteil an die gesunden Geschwister im Allgemeinen nicht so deutlich ausgesprochen werden wie in dem genannten Beispiel. Häufig kommen sie sehr subtil in unterschiedlichen Gewändern daher.

Eine fast wortgleiche Formulierung, wie sie beim ersten Seminar geäußert wurde, kam auch in diesem Seminar vor: „Meine Söhne sind immer sofort da, wenn sie gebraucht werden, um ihre Schwester und mich zu unterstützen.“ Kann diese selbstverständliche Bereitschaft der jüngeren Söhne, die möglicher­weise durch die besondere Familiensituation nach dem Tod des Vaters mitbegründet ist, genauso für die Zukunft fortgeschrieben werden, wenn sie eingespannt sein werden in ihr eigenes berufliches und familiäres Umfeld?

Eine andere Art von moralischem Druck kann entstehen bei Kindern, die sich um die Eltern sorgen, wenn sie wahrnehmen oder wahrzunehmen glauben, dass diese sich in ihrer anhaltenden Sorge für die erkrankte Schwester oder den Bruder überfordern. Sie sehen sich zur Übernahme von Verantwortung veranlasst, um die Eltern zu entlasten.

Bei einem Elternpaar klang dies an; der Sohn, der zunächst ebenfalls seine Schwester unterstützt hatte, äußerte diese Sorge um die Eltern. Derzeit ist das Empfinden der Eltern, dass er sich sowohl gegenüber der Schwester als auch gegenüber den Eltern abschottet – eine mögliche Reaktion auf das Gefühl, die Eltern nicht schützen zu können.

Ein Beispiel dafür, dass moralischer Druck auf die Geschwisterkinder noch von einer dritten Seite entstehen kann, lieferte eine andere Mutter. Ihre beiden Töchter wurden von ihrem wesentlich jüngeren erkrankten Halbbruder ganz offensiv aufgefordert, ihn zu unterstützen. Eine der Töchter lehnte dieses Ansinnen ab, die andere erklärte sich dazu bereit.

Wir sehen an diesen Beispielen: Wir haben es mit erspürten moralischen Selbstverpflichtungen der Geschwisterkinder und mit den aus familiären Normen abgeleiteten moralischen Ansprüchen den Geschwisterkindern gegenüber zu tun, und nicht mit rechtlich kodifizierten Verpflichtungen zu Verantwortlichkeiten. In unserem Kulturkreis haben die Geschwisterkinder weder eine rechtliche noch eine finanzielle Verpflichtung, wenn die Schwester oder der Bruder nicht selbst für sich sorgen kann. Diese gilt nur in direkter Linie (Großeltern, Eltern, Kinder und umgekehrt), subsidiär tritt das Sozialsystem ein, wenn keine Verwandten in direkter Linie vorhanden oder diese nicht leistungsfähig sind.
Dessen ungeachtet sind die normativ bzw. moralisch geprägten Erwartungen gewichtig und wirken auf das Miteinander in der Familie.

Immer dann, wenn sich herausstellt, wie weit die eigenen Wünsche und Vorstellungen von dem realen Handeln anderer Familienmitglieder abweichen, kommt es vorhersehbar zu Schuldvorwürfen.

Bei dem Treffen war eine Mutter sehr unzufrieden mit der „uneinsichtigen“ Tochter und beklagte deren mangelnde Bereitschaft, sich auf den erkrankten Bruder einzulassen. Die Mutter berichtet zudem von der Wut der Tochter auf den Bruder und die Mutter. Diese Wut von Geschwisterkindern tritt in der Regel dann auf, wenn sie ein enges Band zwischen den Eltern (oder einem Elternteil) und der oder dem Erkrankten erleben – bei gleichzeitigem Ausschluss aus dieser Beziehung.

Eine Teilnehmerin machte deutlich, dass solche Wut über die betroffene Familie hinaus ausstrahlen kann. Sie sorgt sich um Tochter und Schwiegersohn, der nach der Erkrankung des Bruders außerhalb der Kernfamilie aufwachsen musste und wütend auf die Eltern und den Bruder ist; auf die Eltern, weil er sich als zu kurz gekommen empfindet und auf den Bruder, dem er vorwirft, durch sein Verhalten seine Erkrankung selbst verschuldet zu haben.

In Berichten von Geschwisterkindern wird das Phänomen des „Übersehen-Werdens“ häufig benannt; auch andere Teilnehmende kennen Beschwerden über zu wenig Zuwendung. Eine Teilnehmerin berichtet dies von ihrem Neffen, der sich bereits in jungen Jahren an der Betreuung der erkrankten Schwester intensiv beteiligte und dem aus ihrer Sicht zu viel zugemutet wurde; er beschwerte sich bei ihr, der Tante über zu wenig Zuwendung, äußerte dies aber nicht gegenüber seinen Eltern. „Alles ging an das arme Kind, der Bruder blieb auf der Strecke.“

Eine Mutter berichtete, dass ihre Tochter über viele Jahre hinweg nie geäußert habe, was sie als so schlimm empfunden habe: die schweren Verhaltensauffälligkeiten und Lebensumstände des kranken Bruders, aber auch bestimmte Verhaltensweisen der Eltern.

Eine gerechte Verteilung der Aufmerksamkeit auf alle Kinder ist schwer, aber unbedingt erforderlich. Zu Beginn der Erkrankung ist dies zumeist kaum möglich, aber wenn diese unausgewogene Situation anhält wird es voraussichtlich kaum möglich sein, später irgendwelche Aufgaben an dieses Geschwisterkind zu übergeben.

Wenn deutlich hervortretende, lang andauernde Ungleichheiten in der Aufmerksamkeit für und im Verhalten gegenüber den Kindern für die Geschwister erkennbar und bedeutsam werden, dann beginnt sich in der Regel ein Gefühl der Zurücksetzung, des Übersehen-Werdens auszubilden. Können diese Kinder sich das unterschiedliche Verhalten der Eltern – zumeist der Mutter – plausibel erklären, ist es für sie meist akzeptabel. Allerdings dürfte eine sehr lange andauernde Ungleichbehandlung schwerlich plausibel zu machen sein.

Benannt werden muss im Kontext dieses Abschnitts auch die Eifersucht, die von mehreren Teilnehmen­den erwähnt aber nicht weiter diskutiert wurde und in unterschiedliche Richtungen wirkt. Dieses aus den meisten Geschwisterbeziehungen bekannte Gefühl kann bei entsprechender Ausprägung zusätzlich hinderlich sein bei der Lösungssuche „für später“.

Was zwischen den Familienmitgliedern gilt, gilt auch in Richtung auf das professionelle Hilfesystem. ‚Funktioniert es nicht wunschgemäß‘, bleiben Schuldzuschreibungen nicht aus, wird Ärger und Wut erlebt. Wird jedoch auf professionelle Hilfe verzichtet, bleibt alles an den Familienmitgliedern oder einem von ihnen hängen.

Es gibt Geschwisterkinder, die ihr zentrales Problem in der ungeteilten Sorge der Mutter um das erkrankte Kind sehen, wobei die beiden – nach den Worten der Geschwister – eine Symbiose bilden, aus der alle anderen herausgehalten werden. Diese Geschwister treibt die Frage, wie es mal ohne die Mutter weiter gehen soll, in tiefe Verzweiflung.

Bei dem Treffen kam dieses Extrem bei einer Teilnehmerin zur Sprache. Ihr war viele Jahre lang nicht einmal das Ausmaß der Erkrankung und der Hilfsbedürftigkeit ihrer jüngeren Schwester bekannt, „ich kam nie an die Schwester ran“. Beherrscht wurde die Lage vom großen Schweigen. Erst nach dem Tod der Mutter, der bei der Schwester eine Krise zur Folge hatte, sah sie sich in der Rolle, weitgehend unvorbereitet „das Management“ übernehmen zu müssen.

Bei fast allen Schilderungen der aktuellen familiären Situation als Ausgangspunkt für die Gestaltung der Zukunft spielte das professionelle Hilfesystem eine wesentliche oder sogar entscheidende Rolle.

Dauerhaft stabile und voll zufriedenstellende Beziehungen zum professionellen Hilfesystem sind eher die Ausnahme, nicht die Regel. Im Verlauf der länger andauernden Erkrankungen ihrer Familienmit­glieder haben alle Anwesenden Zugang zum Hilfesystem gefunden, wobei sie alle mindestens „ein Auge darauf haben müssen“ und immer wieder versuchen, im Interesse des erkrankten Kindes bzw. Geschwisters nachzujustieren.

Die vielen mehr oder weniger kostspieligen und/oder aufopfernden Versuche, durch gesetzliche Regelungen, durch Hierarchisierung von Verantwortlichkeiten, durch wohldurchdachte Modelle, durch regionale Absprachen etc. Ordnung und eine möglichst störungsfreie Funktionalität in die Unüber­sichtlichkeit von vermeintlicher oder tatsächlicher Verantwortung zu bringen sind Legion.

Im Falle einer psychischen Erkrankung werden sowohl die Familienmitglieder als auch das Versorgungssystem vor die Notwendigkeit gestellt,

  • sich um die Erkrankten sowie ihre Belange allumfassend zu kümmern,
  • in unterschiedlichen Bereichen je nach Bedarf zu unterstützen und
  • gezielte Hilfen selbst anzubieten oder zu organisieren.

Wir müssen erkennen, dass neben den innerfamiliären Dynamiken die Verfügbarkeit und Qualität der gewünschten und/oder erforderlichen Angebote des Hilfesystems ein ganz wesentlicher und kaum beeinflussbarer Parameter in der Vorsorgeplanung ist und genauso wie der Hilfebedarf der Erkrankten und die Leistungsfähigkeit der Familienmitglieder ständigen Veränderungen unterliegt.

Bei fehlenden oder nicht passenden Angeboten des Versorgungssystems bleibt den hilfesuchenden Familien nur die Möglichkeit, sich an die regionalen Anbieter oder die überregionalen Träger der Hilfsangebote zu wenden, um eine besser passende Hilfeleistung zu erreichen. Das setzt neben Durchsetzungsvermögen auch eine gewisse Kenntnis des Hilfesystems, seiner Angebotsvielfalt und seiner Strukturen voraus. In solchen Fällen kann die Beratung und ggf. die unmittelbare Unterstützung einer Selbsthilfeorganisation der Angehörigen, sprich: eines Landesverbandes, eine große Hilfe sein. Über die Verbesserung der Hilfen im Einzelfall hinaus setzen sich die Landesverbände für eine generelle Weiterentwicklung des Versorgungssystems ein, wenn Angebote nicht oder nicht in der erforderlichen Ausprägung zur Verfügung stehen – mit im Einzelfall weitreichenden Konsequenzen.

Welche Entlastung ein passendes Angebot des Versorgungssystems bedeuten kann, betonte eine Mutter: seit der Heimunterbringung ihres Sohnes sei „alles soweit geregelt.“

Der bisher berichtete Gesamteindruck beruht auf sehr detaillierten Situationsberichten, in denen viel über die eigene Familie und die Familienmitglieder sowie die bisherigen Erfahrungen mit dem Hilfesystem offenbart wurde – um auf diesem Hintergrund zu überlegen, wie es weiter gehen könnte.

Mit Blick auf alle Schilderungen und die sich anschließenden Diskussionen schält sich ein Bild der „Gesamtgemengelage“ heraus, dessen Kern die Wünsche, die Erwartungen und/oder die Ansprüche der jeweiligen Personen sind, die diese gegenüber den jeweils anderen Personen bzw. Institutionen unausgesprochen hegen oder ausdrücklich formulieren. Die „jeweils anderen Personen“ sind diejenigen, die in unterschiedlicher Weise an der Sorge, der Unterstützung und/oder Hilfeerbringung für das erkrankte Kind beteiligt sind oder beteiligt sein könnten.

Häufig drohen die Wünsche, Erwartungen oder Ansprüche zu scheitern, teilweise wurde ein Scheitern bereits erlebt. Die berichteten Probleme bilden eine Konfrontationslinie, wo Wünsche, Erwartungen und Ansprüche auf der einen Seite mit der generellen Bereitschaft, dem Ausmaß der Engagements, der unterschiedlich wahrgenommenen Machbarkeit im Alltag und dem ebenfalls unterschiedlich wahrgenommenen Unterstützungsbedarf auf der anderen Seite kollidieren.

Die Basis der beschriebenen Probleme, der potentiellen Lösungsmöglichkeiten sowie von unlösbar erscheinenden Dilemmata ist in der Regel nicht die Schwere der Erkrankung selbst, auch nicht die häufig als Erklärung genutzte fehlende „Krankheitseinsicht“, wobei selbstredend die Schwere der Erkrankung bzw. der Symptomatik zusätzlich ins Gewicht fällt. Die Basis sind vielmehr die von jedem einzelnen Beteiligten in der Familie an alle weiteren involvierten Familienmitglieder sowie das Hilfesystem gerichteten Erwartungen, die aus den bisherigen ganz persönlichen positiven und negativen Erfahrungen und Strategien entstanden sind und einer dynamischen Entwicklung unterliegen.

Mit anderen Worten: Es sind sehr individuelle Prozesse, die sehr individuelle Problemlagen sowie Lösungen einschließen. Gleichwohl treten (auch) große Ähnlichkeiten bei den Problemen, den bedeutsamen Themen und den potentiellen Lösungen in den Blick.

Es darf davon ausgegangen werden, dass die beteiligten Familienmitglieder sowie das Hilfesystem jeweils sehr unterschiedliche Anteile von den beschriebenen Notwendigkeiten übernehmen können, dabei eine unterschiedliche Bereitschaft zeigen, dies zu tun und dass alle Beteiligten dazu jeweils eigene Erwartungen an die anderen Mitspieler in diesem Interaktionsfeld haben. In einem solchen Feld sind Probleme und Konflikte nicht singuläre Ereignisse, sondern die Regel.

Die Erwartungen haben zwei Richtungen:

  • Es geht es immer darum, was von den anderen gewünscht, erwartet oder gefordert wird
  • und es geht darum, was man selbst bereit ist den jeweils anderen zu geben, nicht nur dem erkrankten Kind bzw. der erkrankten Schwester oder dem erkrankten Bruder.
  • Somit geht es immer auch um die Frage, in wie weit man bereit ist,
    • den Wünschen, Vorstellungen oder Forderungen der jeweils anderen zu folgen,
    • sich diesen zu beugen oder
    • diesen zu widerstehen.

Am Ende einer ganztägigen intensiven Beschäftigung mit den Fragen, die um die Kernfrage ‚was wird, wenn wir mal nicht mehr sind‘ kreisten, stand eine Erkenntnis unwidersprochen im Raum:

  • An dem Versuch, sich mit allen Beteiligten auf deren Anteile an Sorge, Unterstützung und direkter Hilfeerbringung zu verständigen führt kein Weg vorbei. Diese Klärung sollte so früh als möglich beginnen, denn es ist voraussichtlich ein längerer und häufig konfliktreicher Prozess.

Diesem am Ende unwidersprochenen Ergebnis stand für viele der Teilnehmenden die Frage gegenüber:

  • Wäre es nicht besser, die Geschwisterkinder so lange als möglich raus zu halten, sie nicht zu belasten?

Diese Skrupel sind gut nachvollziehbar und der Sorge um diese Kinder geschuldet. Allerdings sind die Geschwisterkinder (unabhängig von ihrem jeweiligen Alter!) so oder so involviert, sie erleben und fühlen auf unterschiedliche Weise mit, selbst wenn sie schon ausgezogen sind. Sie sind sogar dann noch psychisch beteiligt, wenn der Kontakt zu allen (!) Familienmitgliedern abgebrochen wurde; dies wissen wir aus Interviews mit Geschwisterkindern.

Das führt zu folgenden Thesen:

  • Ein gemeinsamer Versuch, eine Klärung herbeizuführen oder damit zu beginnen hat eher eine entlastende Funktion.
  • Sorgen, Vermutungen, Ängste weichen den real zu bewältigenden Problemen.
  • Falls sich Geschwisterkinder in der ersten Zeit der Erkrankung zurückgesetzt sahen, weil die Eltern (bzw. ein Elternteil) voll und ganz von den Herausforderungen in Anspruch genommen worden war, birgt der Beginn gemeinsamer Zukunftsplanungen die Chance, die damit verbundenen negativen Gefühle aufzulösen. Dies setzt natürlich die unbedingte Berücksichtigung der Empfindungen, Erfahrungen und Bedürfnisse der Geschwisterkinder voraus.
  • Mit der Aufnahme des Gesprächs über die Zukunft kommt man an der Betrachtung und Bewertung der Vergangenheit nicht vorbei. Das sollte auch auf keinen Fall versucht werden, denn sonst wirft sie einen unaufgeklärten Schatten in die Zukunft.

Gelegentlich kommt es bei den Gesprächen zu überraschenden Effekten. Ein Elternpaar hatte nach dem vorangegangenen ersten Seminar in Mainz die Befürchtung, ihre beiden Geschwisterkinder könnten sich zurückgesetzt fühlen. Als sie sie darauf ansprachen konnten sie erfreut feststellen: Dieses für viele Geschwisterkinder typische Erleben teilten die Schwestern nicht.

Spätestens mit Beginn des Prozesses wird deutlich: Ein Familienmitglied hat die Aufgabe der primären Bezugsperson übernommen, wozu u.a. gehört, den Gesamtüberblick zu haben. Dieses Familienmitglied sieht sich in einer Gesamtverantwortung, es hat, wie ein Teilnehmer es formulierte, „das Sagen“, eine Teilnehmerin nannte das „die Schirmherrschaft“. Eine schwierige Rolle, denn vieles funktioniert nicht so wie gewünscht, also gehört auch das Management des Mangels zu den Rollenaufgaben und die Suche nach praktikablen Lösungen.

In der Regel fällt diese Rolle den Müttern zu. Bei dem Treffen sahen wir aber auch Paare, die dies gemeinsam stemmen und einen Bruder, der diese Rolle innehat: er mache die Ansage, wo es lang geht – die Eltern seien die moderaten Kümmerer. Diese besondere Situation gründet sicher auch im späten Krankheitsbeginn der Schwester lange nach ihrer Jugendzeit, Bruder und Schwester sind zu diesem Zeitpunkt bereits jenseits der 30.

Mit Beginn des Prozesses prallen auch die unterschiedlichen Einschätzungen vom Hilfe- und Unterstützungsbedarf des erkrankten Kindes aufeinander. Dies ist wegen der verschiedenen, teils generationsbedingten Blickwinkel und der unterschiedlichen Erfahrungen nahezu unvermeidlich.

Eine jüngere Schwester vertrat eine nahezu fatalistische Position; sie glaube, die Eltern machten sich viel zu viele Gedanken, „es käme eben, wie es käme, ob man sich Sorgen mache oder nicht“ und setzte hinzu „man gewöhnt sich dran“.

Eine teilnehmende Mutter dagegen ist fest davon überzeugt, das erkrankte Kind könne unmöglich für sich sorgen und müsse familiär unterstützt werden, während ihre Tochter der Meinung ist, der Bruder habe „keine ernsthafte Therapie-Absicht“ und bringt damit zum Ausdruck, der Bruder würde seinen Beitrag zur Lösung des Problems verweigern. In solchen Situationen werden die Schwierigkeiten auf dem Weg zu einer gemeinsamen Einschätzung überdeutlich.

Das Beispiel zeigt aber auch:

  • Man darf das, was die erkrankte Tochter bzw. der erkrankte Sohn über sich selbst denkt, was sie oder er bereit ist für das eigene Wohlergehen aktiv zu tun und ihre oder seine Ansprüche auf Selbstbestimmung und Selbständigkeit auf keinen Fall aus dem Blick verlieren! Sonst wird womöglich „die Rechnung ohne den Wirt gemacht“.

Beginnt das Gespräch darüber, was mal sein wird zunächst zwischen Eltern und Geschwisterkindern – früher oder später muss die- oder derjenige, um deren bzw. dessen Zukunft verhandelt wird, mit beteiligt werden. Dies gilt auch, wenn sie oder er sich zunächst weigern sollte oder wenn der Eindruck vorliegt, sie oder er könne die Situation ohnehin nicht überschauen.
Wie gesagt: Die Rechnung kann nicht ohne den Wirt gemacht werden.

Dass das intensive Bemühen um die für alle Beteiligten bestmögliche Regelung zu einer Veränderung der Sichtweise, ja regelrecht zu einer Kehrtwende führen kann, daran ließ uns eine Mutter teilhaben. Sie hatte lange gemeint, ihre Tochter solle einmal ihre Rolle übernehmen mit allen damit verbundenen Verpflichtungen gegenüber ihrer erkrankten Schwester. Inzwischen ist sie sich sicher:
Die angemessenste Rolle der Tochter sei die übliche Schwesternrolle, so wie bei anderen Schwestern auch – angemessen für beide Schwestern.

Die Vorstellung einer zukünftig durch die Erkrankung möglichst wenig belasteten Beziehung zwischen allen Geschwistern wurde nicht nur von dieser Mutter explizit formuliert, sondern war ganz offenkundig auch ein Leitgedanke im Kontext der oben ausgeführten Vermögensregelungen.

Es wurde nicht mehr diskutiert, dass dieser Leitgedanke nur dann eine Option sein kann, wenn die Beziehung zwischen den Geschwistern eine im Grunde positive ist und nicht bereits zerrüttet und von Vorwürfen und Schuldzuweisungen geprägt.

Es wurde auch nicht mehr diskutiert, dass die erkrankte Schwester oder der erkrankte Bruder aufgrund der Erkrankung und dem daraus resultierenden Unterstützungsbedarf eine besondere Schwester, ein besonderer Bruder ist und bleibt, und dass daher selbst eine eindeutige Geschwisterrolle zwingend anders ist als dies üblicherweise der Fall ist.

Die Schwester, der Bruder ist krank, und sie oder er ist hoffentlich in angemessene Hilfestrukturen integriert. Dann werden sich die Geschwister ‚geschwisterlich‘ mit der Erkrankung und deren Folgen beschäftigen können – als Schwester oder Bruder, unter Gleichen. Solange sie dem erkrankten Geschwister bei der Bewältigung überschaubarer Alltagsanforderungen beistehen bleiben sie in dem „geschwisterlichen Rahmen“, in dem ansonsten vorrangig mehr oder weniger häufige gemeinsame soziale Aktivitäten stehen: sich sporadisch treffen zu einem Spaziergang oder in einem Kaffee, hin und wieder gemeinsam eine Veranstaltung besuchen. Dieser Rahmen würde dann verlassen, wenn Geschwister begännen, sich in guter Absicht in die alltäglichen Verrichtungen ihrer erkrankten Schwester, ihres erkrankten Bruders einzumischen, mit liebevollem Druck bestimmte Hilfen schmack­haft zu machen, sich dazu veranlasst sähen, z.B. die Medikamenten-Einnahme zu überwachen.

Bleiben wir bei der Schwester und der ihr zugedachten Rolle in unserem Beispiel. Sie kann sich auch in dieser Rolle nicht davon frei machen zu reagieren, wenn etwas bei den organisierten Hilfen schief läuft. Und dann kommt wieder das Besondere der Geschwisterrolle bei einer psychischen Erkrankung ins Spiel. Wenn sie es einfach laufen lässt fühlt sie sich schlecht; wenn sie steuernd eingreift, verlässt sie die auf Gleichheit beruhende Schwesternrolle und gefährdet die positiv-unterstützenden Aspekte dieser Rolle (siehe auch Exkurs: Geschwisterbeziehungen).
Also raten wir ihr, so etwas wie die „Schirmherrschaft“ zu übernehmen, mit abgeschwächtem Herrschaftsanteil, so etwas wie die Sorge für eine ausreichende Beschirmung der Schwester, quasi die Rolle des Schirmes über den Schirmen. Sie wird sich also bemühen (müssen), dafür zu sorgen, dass die Hilfen Dritter angemessen erbracht werden, die Schirme gespannt und ausreichend dicht sind. Eine Teilnehmerin nannte das „die advokatorische Funktion“.

Kommt das Gespräch in einer konstruktiven Atmosphäre zustande, wissen wir aufgrund unseres Blicks auf die „Gesamtgemengelage“ Folgendes:

  • Am Anfang steht die Analyse der Ist-Situation mit dem oben angesprochenen Blick zurück, bei dem die bisherigen Erfahrungen und Umgangsweisen thematisiert werden.
  • Bei dem Seminar wurde das mit den Berichten der Anwesenden aus ihrer jeweiligen Sicht geleistet; in dem Familiengespräch ist es etwas komplizierter: Jedes Familienmitglied muss seine Sicht der Dinge auf den Tisch legen, damit alle zusammen ein Gesamtbild erhalten.
  • Danach kommt es darauf an, die Erfordernisse der Zukunft festzustellen, d.h. die voraussichtlichen Bedarfe an übergreifender Sorge, an Unterstützung und an konkreten Hilfeleistungen. Dies kann gelingen, indem dies aus der aktuellen Situation herausgelesen und aufgelistet wird, je konkreter umso besser.
  • In einem dritten Schritt gilt es auszuloten, wer davon was übernehmen könnte, und dabei sollte das professionelle Hilfesystem eine bedeutende Rolle spielen gemäß dem Motto: Was andere leisten können, muss ich nicht machen. Das gibt mir die Möglichkeit, dasjenige mit Ruhe und ausreichen­dem Zeitbudget zu machen, was sinnvollerweise nur ich machen kann und sollte.
    Sofern eine rechtliche Betreuung besteht oder notwendig werden könnte, erfordert die Frage, ob diese selbst übernommen werden soll spezielle Überlegungen; siehe dazu den Hinweis im Anhang.

Hier sei an die oben ausgeführten Aussagen zweier Mütter und einer Schwester erinnert, bei denen die erforderlichen Unterstützungen und Hilfen durch das professionelle Hilfesystem befriedigend erbracht werden und sie sich darum darauf beschränken können, dies „zu überwachen“.

In der Regel werden es die primären Bezugspersonen sein, also die Mutter oder beide Eltern, die bereits vor dem Gespräch viele Überlegungen anstellen. Dass bereits bei diesen vorauslaufenden Überlegungen ‚Bewegung‘ entstehen kann, wurde bereits weiter oben ausgeführt. Es spricht nichts gegen die Annahme, dass dies für alle Beteiligten gelten kann.

Ob es in den Familien gelingt, im Laufe der Zeit die Herausforderungen bei der Klärung der künftigen Rollen, Aufgaben und Bereitschaften zu meistern, ist zu Beginn des Prozesses offen. Es ist für die Eltern sicher sinnvoll, sich die Offenheit des Ergebnisses vor Augen zu führen und nicht zu versuchen, mit vielen Vorschlägen oder gar mit Druck ein Ergebnis in ihrem Sinn herbei zu führen. Allen Beteiligten verlangt es einiges ab, ihren Beitrag am Gesamtgeschehen zu erkennen, der sinnvoll und leistbar erscheint und sich in einem zweiten Schritt auch noch zu dessen Übernahme bereit zu erklären. Keinen Druck auf die Geschwisterkinder auszuüben, sie statt dessen „kommen lassen“ wurde bei dem Treffen als eine sinnvolle Strategie angesehen.

Bei dem Seminar wurden konkrete Aspekte angesprochen, die jedoch nicht Thema waren. Dennoch hier einige Hinweise dazu:

Die Rolle „gesetzlicher Betreuer“ und die Frage, ob man diese als Familienmitglied übernehmen sollte:

Hierzu hat der LV Bayern der Angehörigen einen Selbstprüfungs-Katalog entwickelt und in diesem Jahr überarbeitet. Der Katalog enthält wichtige Fragen, die sich jede/r vor einer Entscheidung für oder wider stellen sollte. Zu finden unter http://www.lvbayern-apk.de/index.html.

Im Seminar wurde diese Frage kontrovers diskutiert; während es einer Schwester notwendig und selbstverständlich erschien, die rechtliche Betreuung an Stelle des bisherigen Betreuers zu über­nehmen, warnte eine andere Schwester, dies nur zu tun, „wenn Sie Ihr Leben aufgeben wollen“.
Wichtig erscheint uns zum Einen, vor einer Entscheidung für oder gegen die Übernahme dieser Funktion die Motivation sehr kritisch zu prüfen. Zugespitzter als im bayerischen Katalog formuliert: Geht es um Entlastung, die Auslagerung von konfliktträchtigen Aufgaben oder geht es um ein „Durchgriffsrecht“ gegenüber der oder dem Erkrankten?
Zum Anderen weisen wir aber auch darauf hin, dass Angehörige häufig viel zu hohe Erwartungen mit dem Tätigwerden eines Berufsbetreuers verbinden. Ein Grund dafür liegt darin, dass die Aufgaben­bereiche eines gesetzlichen Betreuers eng begrenzt sind auf rechtliche Fragen und keinesfalls eine Art von „sozialer Betreuung“ beinhalten, was sich auch im Zeitbudget ausdrückt, das einem Betreuer für jeden Betreuten zugestanden wird. Ein anderer Grund liegt darin, dass die Qualifikation, das Engagement und das Selbstverständnis der Berufsbetreuer (z.B. im Hinblick auf eine Zusammen­arbeit mit Angehörigen) sehr, sehr unterschiedlich sind. So ist es trotz jahrelanger Bemühungen der Berufsverbände bis heute möglich, dass jeder unbescholtene Bürger ohne expliziten Qualifikations­nachweis Betreuer werden kann.
Dennoch: Gelingt es, einen qualifizierten, engagierten und kooperativen Betreuer resp. Betreuerin zu finden, kann dies eine erhebliche Entlastung bedeuten; dies berichten Angehörige immer wieder.

Fragen, die bei der Vererbung oder Überschreibung des familiären Vermögens auftauchen:

Ein Hinweis auf das sog. „Behindertentestament“ findet sich im Text. Eine bedeutsame Problematik, die damit verbunden sein kann, wurde ebenfalls dort ausgeführt; wir haben weitere Vorbehalte. Dessen ungeachtet kann ein derartiges Testament im Einzelfall sinnvoll sein.
Aus den Erfahrungen von anderen Familien empfehlen wir dringend, sich mit den eigenen Wün­schen, den Möglichkeiten und Grenzen einer solchen Testamentsgestaltung intensiv auseinander­zusetzen, bevor man „zur Tat schreitet“.
Ebenfalls aus der Erfahrung anderer Familien: Paare sollten nicht übersehen, bei einer Regelung zunächst sich selbst gegenseitig abzusichern, bevor es zum Vermögensübergang auf das oder die Kinder kommt. Die häufige Annahme, dafür reiche ein sog. „Berliner Testament“ aus, ist in der Regel nicht zutreffend.

Fragen zur „Vererbung“ von psychischen Erkrankungen:

Bei dem Seminar wurde diese Frage von einer Schwester angesprochen, wir wissen aber, dass sie sehr viele Geschwister und sicher auch viele Eltern umtreibt. Daher folgender Hinweis:
Das GeschwisterNetzwerk wird demnächst eine sehr umfangreiche Monographie veröffentlichen. Darin enthalten ist ein ausführlicher Diskurs zur Genetik und Epigenetik, der den derzeitigen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse abbildet. Wer interessiert ist, kann sich über unsere Website www.geschwisternetzwerk.de gerne für unseren Newsletter einschreiben; dort werden wir über die Veröffentlichung informieren.

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