Beiträge in: Wissen

Miriam Munkert (2008)

Diplomarbeit FH Wiesbaden • University of Applied Sciences, Fachbereich Sozialwesen, Studienbereich Soziale Arbeit

Ausschnitt aus dem Abschnitt: „Persönliche Einschätzung“

Während der Auseinandersetzung mit dieser Arbeit rückte für mich folgende Frage in den Vordergrund:
Wie viel Verantwortung wird dem Erkrankten selbst zugesprochen?
Oder besser gesagt:
Können die gesunden Geschwister oder deren Familie die Last der Verantwortlichkeit nicht ein Stück weit an den Erkrankten selbst zurückgeben?

Die besonders tief greifende Belastung durch Schuldgefühle entwickelte sich hauptsächlich durch die gefühlte Verantwortung für den erkrankten Bruder oder die Schwester. Das Gefühl, immer für ihn/sie da sein zu müssen, den nächsten Suizidversuch verhindern zu können oder für seine Lebenszufriedenheit verantwortlich zu sein, sind Beispiele hierfür. Die Schuldgefühle entstanden dadurch, dass die Geschwister das Gefühl hatten, stellenweise versagt oder nicht genug getan zu haben.

Manfred Ziepert

Vortrag; gehalten bei der Jahrestagung des Landesverbandes der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen in Rheinland-Pfalz im November 1999

Fast alle Angehörigen verspüren diese Ambivalenz; auch bei allen Treffen von Geschwistern und in unserem Forum spielt sie immer wieder eine Rolle. Dr. Ziepert legt dar: „Liebe und Abgrenzung – ein Widerspruch? Nein, im Gegenteil.“ Und er geht auf die Gefühle ein, die eine Abgrenzung behindern: Ohnmacht und Hilflosigkeit, Schuldgefühle, vermiedene Trauer und unterdrückter Zorn.

Leben mit behinderten und lebensverkürzt erkrankten Geschwistern

Frauke Lodders, Regisseurin (2019)

Mindjazz Pictures

Dokumentarfilm

seit Januar 2019 im Kino
ab 28.06.2019 als DVD verfügbar

Süddeutsche Zeitung:
Frauke Lodders Dokumentarfilm lässt diejenigen zu Wort kommen, die in Familien mit schwerkranken und behinderten Kindern oft um die Aufmerksamkeit der Eltern kämpfen müssen: die gesunden Geschwister. In leisen, berührenden Nahaufnahmen werden sie hier einmal zu den Hauptpersonen.

Programmkino.de:
In einer besonders schwierigen Situation befinden sich die Geschwister von behinderten Kindern, die aus nachvollziehbaren, aber dennoch schmerzhaften Gründen etwas im Schatten stehen. Um sie geht es in Frauke Lodders Dokumentation „Unzertrennlich“, die mit großer Behutsamkeit beobachtet und dadurch allen Seiten gerecht wird.
 
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Helen Arnet (2018)

SRF Dokumentarfilm, 50 Min.

in 3sat gesendet am 30.01.2019
auf YouTube veröffentlich am 21.09.2018

Die Autorin (Auszüge):

Kinder, die Angehörige pflegen, gab es schon immer
„Young Carer“ – ein neuer Begriff für ein altes Phänomen. Denn Kinder und Jugendliche in der Pflegerolle gab es schon immer. „Young Carer“ übernehmen regelmässig Pflegeaufgaben für ein physisch oder psychisch erkranktes Familienmitglied. Die Betreuung kann sich über Jahre hinziehen oder kurz und intensiv sein. …

Schweigen aus Angst und Scham
Fakt ist: „Young Carer“ pflegen meist im Verborgenen. Oft wissen nicht einmal die engsten Freunde, Lehrer oder Lehrmeister von den teils zeitintensiven Aufgaben der pflegenden Kinder und Jugendlichen. Es ist einerseits die Scham darüber, dass im eigenen Elternhaus vieles anders läuft als bei ihren Schulkameraden, die „Young Carers“ verstummen lässt. Andererseits sind es oft auch die Eltern, welche den Kindern bewusst oder unbewusst ein Redeverbot auferlegen – aus Scham darüber, dem eigenen Kind so viel Verantwortung zu übertragen, aus Angst, als Eltern nicht zu genügen oder um eine Einmischung der Behörden zu verhindern. …

Fachleute für die Thematik sensibilisieren
Ziel der Forschung ist es, Fachpersonen wie Lehrerinnen und Lehrer, Ärzte und Pflegepersonal für die Thematik zu sensibilisieren. „Wenn sie den Begriff „Young Carer“ zum ersten Mal hören, fällt es vielen Fachpersonen wie Schuppen von den Augen“, sagt Agnes Leu, Leiterin des Forschungsprogramms „Young Carers“. …

„Young Carer“ sind sozialkompetent
Sinkende Schulleistungen, Müdigkeit, Konzentrationsschwächen fehlende soziale Kontakte und Freizeit sind nur die eine Seite der Medaille. „Young Carer“ weisen auf der anderen Seite eine sehr hohe Sozialkompetenz, Empathiefähigkeit und ein gutes Selbstwertgefühl aus und sind gewohnt, Verantwortung zu tragen. Das sagt Karin Gäumann-Felix, Dozentin an der Höheren Fachschule Pflege des Berufsbildungszentrums Olten. In ihrem Unterricht hat sie regelmässig mit jungen Pflegenden zu tun. Denn überdurchschnittlich viele ehemalige und aktuelle „Young Carer“ ergreifen einen Beruf im Pflegebereich. „Viele Betroffene merken erst im Rahmen der Ausbildung, dass sie selber „Young Carer“ sind oder waren und fangen dann an, über das Tabuthema zu reden“ – diese Erfahrung hat Karin Gäumann-Felix schon oft gemacht. …

Stella Tinbergen, Autorin und Regisseurin (1998)

Eigenverlag

Dokumentarfilm

Der Film wurde 2006 mit dem Journalistenpreis "Schizophrenie und Stigma" ausgezeichnet.

Die Autorin:

Mein Bruder Siegfried war 16, als er zum ersten Mal in eine psychiatrische Klinik eingeliefert wurde. Seine Diagnose: Jugendliche Schizophrenie. Schon bald wurde er nicht mehr therapeutisch behandelt, sondern lediglich ruhiggestellt, mehr als zwanzig Jahre lang.
Als Siegfried vierzig war, setzte ich noch einmal alles daran, ihm ein größeres Maß an Selbstbestimmung zu verschaffen. Ich wollte, dass er den Wechsel in ein Übergangsheim wagt und lernt, sich selbst zu versorgen.
Würde er das schaffen, wäre er in der Lage, in einer betreuten Wohngemeinschaft zu leben?

Über die Website der Autorin kann der Film auf DVD bestellt werden.

Reinhard Peukert (2018)

Psychiatrische Praxis, 45(2), 106-110. Der vollständige Artikel ist kostenpflichtig.

Einleitung:

Am 6. Mai 2017 haben sechs Geschwister – fünf Frauen und ich selbst – das Netzwerk Geschwister psychisch kranker Menschen ins Leben gerufen und sofort eine Homepage mit einem Forum sowie verfügbarer Literatur eingerichtet. Wir waren und sind überzeugt: Es ist Zeit, dass wir Geschwister uns endlich öffentlich zu Wort melden.

Vor fast 15 Jahren habe ich selbst (damals bereits seit 25 Jahren Psychiatrie-Profi) begonnen, mich auf mein „Bruder-Sein“ zu besinnen. Um nicht allein darüber nachzudenken, ob und wie dies mein Leben (mit-)beeinflusst hat, habe ich mich zuerst in Berlin (2004), dann in Wiesbaden, in Hamburg und in Halle mit Geschwistern getroffen – heute gibt es erfreulicherweise sich regelmäßig treffende Gruppen in Hamburg, Berlin und München (Anschriften, Treffen etc. finden Sie auf unserer Homepage). Diese eigenständigen Gruppen sind entstanden, da sich die üblichen Angehörigengruppen als nicht hilfreich für Geschwister erwiesen haben. Die dort vor allem von Eltern eingebrachten Fragen und Themen sind nicht die von uns Geschwistern – gleichwohl sehen wir natürlich die großen Belastungen unserer Eltern. Neben den eigenen Erfahrungen sowie denen aus diesen Gruppentreffen gehen in die folgenden Überlegungen die Ergebnisse der drei deutschsprachigen empirischen Untersuchungen ein.

Zu diesem Artikel gibt es einen Nachtrag unter dem Titel: „Die Beziehung des erkrankten Kindes zu seinem gesunden Geschwister ist eine protektive Ressource!“ Unten der Link zum Aufsatz zu diesem bisher eher wenig beachteten Aspekt.

Reinhard Peukert (2017)

veröffentlicht in Psychosoziale Umschau 3/2017, S. 26

Einleitung:

Erst seit Kurzem melden sich Brüder und Schwestern psychisch erkrankter Menschen als eigenständige Gruppe mit ureigenen Problemen und Anliegen in der Angehörigenselbsthilfe zu Wort, dabei zeigen die wenigen Studien zu deren Situation: Die psychische Erkrankung eines Familienmitglieds bringt die gesamte Familie in Not –, aber es sind die Schwestern und Brüder, deren Rolle, Funktion und Bedeutung in der Familie am stärksten verändert werden. Sie sind es auch, die am seltensten vom Hilfesystem wahrgenommen werden und in ihren Familien in den Hintergrund rücken: Die gemeinsamen Eltern sind vollauf mit der Problematik der erkrankten Schwester bzw. des erkrankten Bruders beschäftigt – dies ist für die Eltern ein unvermeidbarer und zugleich belastender Tatbestand.

Gagi K. (2017)

veröffentlicht in Psychosoziale Umschau 3/2017, S.27

Neuerdings überkam mich wieder Panik. Panik, dass es dich nicht mehr gibt und ich die Scherben aufsammeln muss und alleine entscheiden muss, was nun mit meinem Bruder passiert.

Er bekommt keine Rente, besucht keinen Arzt, nimmt keine Hilfe an, geht nicht raus. …

Reinhard Peukert (2017)

Vortrag bei der Jahrestagung der APK "Verantwortung übernehmen" am 7. und 8. Nov. 2016

Zitat aus der Tagungsdokumentation:

Ein zentrales Ergebnis der vorliegenden Studien sowie meiner Gespräche vorne weg: Die Geschwister psychisch erkrankter Schwestern und Brüder fühlen sich häufig in ihren Herkunftsfamilien übersehen, aber auch in gemischten Angehörigengruppen; im Umgang mit professionellen Helfern geht die Einschätzung von „übersehen“ bis zu „missachtet“.

Thomas Bock, Stefanie Fritz-Krieger, Karen Stielow (2008)

veröffentlicht in Sozialpsychiatrische Information, 38(1), 23-31

Ausschnitt: Diskussion und Ausblick

Die Situation der Geschwister wird durch mangelhafte Gesprächsfähigkeit in der Primärfamilie und mangelhafte Gesprächsbereitschaft der Behandler sowie durch zusätzliche äußere Ereignisse erheblich belastet. Die eigene Rolle wird häufig als zwiespältig erlebt; sie ist gekennzeichnet von hoher Verantwortlichkeit, sowie Scham- und Angstgefühlen. Der Behandlungsbeginn entlastet die Geschwisterbeziehung, verstärkt andererseits aber (auch bei den Geschwistern) das Risiko der (Selbst-)Stigmatisierung sowie die Angst, selbst zu erkranken.

Die Qualität der Geschwisterbeziehung vor der Erkrankung ist meist wesentlicher Indikator für die Zeit danach. Ein direkter Kontakt zu den Behandlern kommt im Regelfall nicht zustande; das prägt das Bild der Psychiatrie als nicht hilfreich. Hilfe wird meist auch nicht bei der Primärfamilie, sondern bei Freunden und Partnern gefunden. Dabei geht es vor allem um die Überwindung von Schuld- und Angstgefühlen sowie um die Relativierung der eigenen Verantwortlichkeit. Gleichzeitig erleben viele Geschwister die eigene Situation im Nachhinein auch als positive Herausforderung; dazu passt, dass ein relativ hoher Anteil später einen sozialen Beruf ergreift. Welche Rolle Alter, Altersunterschied und Zeitpunkt der Erkrankung haben, muss in späteren Untersuchungen geklärt werden.

Die Perspektive der Geschwister lässt ein rein somatisches Krankheitskonzept fragwürdig erscheinen. Auch im Interesse der Geschwister sollte die Erstbehandlung früher als bisher, dabei aber umso vorsichtiger erfolgen, also weniger stigmatisierend, weniger stationär und weniger invasiv. Die Angehörigen und damit eben auch die Geschwister müssen früher wahrgenommen und gestützt werden.

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