Reinhard Peukert (2020)

Der Artikel wurde veröffentlicht in Kontakt 01/2020

Die erste Ausgabe seiner Mitgliederzeitschrift „Kontakt“ im Jahr 2020 widmete der österreichische Angehörigenverband HPE (Hilfe für Angehörige psychisch Erkrankter) den Geschwistern – „Was sie belastet. Was sie stärkt.“

In dem Themenheft konnten wir „Das GeschwisterNetzwerk in Deutschland“ vorstellen.

Das Netzwerk von Geschwistern psychisch erkrankter Menschen in Deutschland (GeschwisterNetzwerk.de) wurde im Mai 2017 gegründet.
Zunächst war das Netzwerk im Rahmen des Bundesverbandes der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen (BApK) aktiv. Im Interesse eindeutiger Unabhängigkeit aller Geschwister-Aktivitäten entschlossen sich im November 2018 die Netzwerk-Mitglieder zur Gründung eines eigenen Trägerverbandes (AngehörigenNetzwerke.de), der auch für andere Netzwerke offen ist. Die sechs Gründungsmitglieder des GeschwisterNetzwerks haben eine Bewegung angestoßen, die inzwischen auf über 200 Mitglieder angewachsen ist.

Das GeschwisterNetzwerk geht – soweit die folgenden Herausforderungen gemeistert werden – von einem weiteren massiven Anstieg von Interessierten aus, denn nach eigenen Berechnungen auf der Grundlage des Mikrozensus und der Querschnittsergebnisse aus der KIGG(S)-Studie (zweite Welle: Trends) gibt es in Deutschland ca. 2,4 Millionen Geschwister von psychisch erkrankten Kindern unterhalb der Volljährigkeitsschwelle. Mit Blick auf verfügbare nationale und internationale Studien ist bei bis zu 0,5 Mio. dieser Geschwister mit klinisch relevanten Belastungen mit Krankheitswert zu rechnen. Da die Geschwister von Erkrankten jenseits der Volljährigkeitsgrenze in diesen Berechnungen nicht eingeschlossen sind, liegt die absolute Anzahl von Geschwistern mit psychischen Störungen deutlich höher. (Die Berechnungen sowie deren Grundlagen sind auf der Homepage des GeschwisterNetzwerks einsehbar).

Neben den zum Teil bis ins hohe Erwachsenenalter stark belasteten Geschwistern gibt es einen nicht unerheblichen Anteil, bei denen die besonderen Herausforderungen – eigenen Aussagen gemäß – zu einem deutlichen Persönlichkeitswachstum beigetragen haben und die die Erfahrungen, ein psychisch krankes Geschwister zu haben, nicht missen möchten.

Herausforderungen des GeschwisterNetzwerks

Nach fast drei Jahren sieht das GeschwisterNetzwerk drei miteinander verbundene Herausforderungen, die als voneinander unabhängige Aufgaben zu bewältigen sind.

  1. Unterstützung der Selbstreflexion von Geschwistern in einem Internetforum, bei überregionalen Geschwistertreffen und durch die Bildung sowie Unterstützung von regionalen Geschwistergruppen.

Die Situation der Geschwister ist von vielfältigen Ambivalenzen und gravierenden Ängsten gekennzeichnet. Dazu zählt die Angst, selbst psychisch zu erkranken, was von der aktuellen Debatte um die Genetik noch verstärkt wird – obwohl es vorrangig die belastende Geschwistersituation ist, die gemessen an der Normalbevölkerung zu erhöhten Krankheitsraten führt. Dazu zählt das geschwisterliche Hilfedilemma, nämlich das tiefe Bedürfnis zu helfen bei der gleichzeitig erdrückenden Erfahrung von Hilflosigkeit und dem Verbot eigenen Glücks angesichts des Leids der Schwester bzw. des Bruders.

  1. Die Moderation von Eltern- und Eltern-Geschwister-Seminaren sowie das Erstellen von Handreichungen für Geschwister und Eltern.

Zwei Vorläufer von Handreichungen sind bereits entstanden: Ein Beitrag in der Begleitbroschüre für Eltern zu einem Comic für Kinder ,Die Wunschperle‘ (Hrsg BApK) sowie das Informationsblatt für Eltern, deren Kinder in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie behandelt werden (Seite KASTEN dieser Ausgabe); dieses Info-Blatt entstand auf Anregung von Kinder- und Jugendpsychiatern.

Auch Eltern in den Kanon der Aktivitäten des GeschwisterNetzwerks einzubeziehen beruht auf der gesicherten Erkenntnis des großen Einflusses der Eltern auf die Situation der gesunden Geschwister, wobei drei Aspekte besonders bedeutsam sind:

    1. Die Geschwister erleben ihre Eltern – und stellen sich darauf ein; u.a. spielen sie in der Herkunftsfamilie die Rolle des unproblematischen, fitten Kindes, um die Eltern nicht noch mehr zu belasten, und viele von ihnen verlassen der eigenen Entwicklung wegen im Jugendalter die Herkunftsfamilie.
    2. Aus eigenen Elternseminaren sowie der internationalen Literatur ist ein Schweigegebot in den Familien bekannt. Einige Zeit nach der Ersterkrankung werden Fragen der Erkrankung und der damit im Zusammenhang stehenden Umstände nicht mehr thematisiert, um das fragile familiäre Gleichgewicht nicht zu gefährden und in den Außenbeziehungen wird die Erkrankung nicht angesprochen, um einer befürchteten Stigmatisierung zu entgehen.
    3. Unter dem Deckel des familiären Schweigens stellen sich sowohl die Eltern als auch die Geschwister nahezu unausweichlich die Frage: Was wird, wenn die Eltern die Sorge für die oder den Erkrankten nicht länger tragen können? Bei vielen Eltern erwächst daraus eine unausgesprochene Hoffnung, stillschweigende Erwartung oder gar Forderung, der Schwester oder dem Bruder (lebenslang) zur Seite zu stehen; bei vielen Geschwistern dagegen entstehen Ambivalenzen und Ängste bis hin zur Panik, diese Ansprüche mit der Verantwortung für die eigene Entwicklung, das eigene Leben, die eigenen Ehegatten und Kinder verbinden zu sollen. In diesem Punkt besteht eine deutliche Diskrepanz zum Bundesverband der Angehörigen, der in einem Tagungsband die unbegrenzte Inanspruchnahme der gesunden Geschwister als schiere Selbstverständlichkeit formuliert hat (Aktion Psychisch Kranke, Band 45, S. 56).
  1. Herstellen von Aufmerksamkeit des professionellen Hilfesystems für die Belange der Geschwister aller Altersgruppen, einschließlich der Bereitstellung abrufbarer Informationen.

Anders als bei den Kindern psychisch Erkrankter werden die Geschwister vom Hilfesystem nach wie vor nur selten wahrgenommen. Den Geschwistern zur notwendigen Aufmerksamkeit im Hilfesystem zu verhelfen kann das Geschwisternetzwerk erst im Jahr 2020 in Angriff nehmen.

Alle drei Herausforderungen resultieren aus den Lernprozessen der vergangenen Jahre, die auf eigenen Erfahrungen, dem Zugang zu ca. 140 qualitativen Interviews mit Geschwistern sowie der Auswertung von Geschwister- und Elterntreffen beruhen. Diese Erkenntnisse werden unterfüttert mit Recherchen in der (dürftigen) deutschsprachigen sowie der kontinuierlichen Auswertung der umfangreichen internationalen Literatur.

In Kürze werden die Ergebnisse der Lernprozesse sowie der Recherchen in einer Geschwister-Monographie veröffentlicht, in der neben den oben angerissenen Themen u.a. die mit dem Einzug der Erkrankung in der Familie sich grundlegend ändernden Rollenbeziehungen ausgeführt werden. Die Identifikation von Bewältigungsstrategien anhand der verfügbaren Interviews sowie der internationalen Literatur, mit denen die Geschwister die erlebten Ambivalenzen, Dilemmata und Ängste lebbar machen, bildet die Basis für hilfreiche Hilfestrategien für die Geschwister selbst, für die Familien und seitens des professionellen Hilfesystems.

Herausforderungen für das GeschwisterNetzwerk

Die größte Herausforderung für das noch junge und bisher ausschließlich auf ehrenamtliches Engagement angewiesene GeschwisterNetzwerk besteht jedoch darin, Strukturen zu gestalten, die die Umsetzung der Ziele innerverbandlich dauerhaft und belastbar ermöglichen und die Interessen der Geschwister nach außen sichtbar machen. Während die fachliche Basis als vollkommen gesichert gelten kann, besteht für die passenden Strukturen noch Diskussionsbedarf. Chance und Risiko zugleich ist dabei, dass die biographische Zusammensetzung der Netzwerk-Mitglieder sich deutlich von der in den traditionellen Selbsthilfeorganisationen von Angehörigen unterscheidet.

  • Das Durchschnittsalter der Geschwister liegt erheblich unter dem der Mitglieder anderer Organisationen, was einerseits Möglichkeiten eröffnet, andererseits aber bedeutet, dass diese Menschen häufig ihre persönliche Entwicklung noch nicht abgeschlossen haben, sei es die berufliche Etablierung oder die Phase der Familiengründung; beides beschränkt ein mögliches Engagement.
  • Ebenfalls anders als in anderen Selbsthilfeorganisationen finden sich beim GeschwisterNetzwerk zu einem bedeutenden Anteil (15-20 Prozent) Geschwister mit Migrationshintergrund ein, die ihre ganz eigenen – aber nicht einheitlichen – zusätzlichen Probleme mitbringen. So erfreulich es ist, dass Unterschiede im kulturellen Hintergrund das gegenseitige Verständnis in keiner Weise beeinträchtigen, so muss doch deren speziellen Anliegen angemessen Rechnung getragen werden.
  • Das GeschwisterNetzwerk ist entschlossen, sich diesen Herausforderungen zu stellen und mutig neue Wege zu erproben – ist sich jedoch völlig darüber im Klaren, dass noch viele Hürden auf diesen Wegen stehen, die übersprungen oder weggeräumt werden müssen.


Prof. Dr. Reinhard Peukert war bis zum Ruhestand Professor für Sozialmanagement und Sozialmedizin und ist Gründungsmitglied des GeschwisterNetzwerks (www.geschwisternetzwerk.de). Er war über 20 Jahre lang 1. Vorsitzender des Landesverbandes Hessen der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen e.V.; seit über 20 Jahren geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Aktion Psychisch Kranke e.V.

KASTEN

Wunschliste an die Eltern

Aus den Erfahrungen und Schlussfolgerungen vieler Geschwister hat das GeschwisterNetzwerk folgende ‚Wunschliste‘ an die Eltern zusammengestellt:

Das Schweigen durchbrechen!
Ein ausgesprochenes oder unausgesprochenes ‚Schweigegebot‘, innerhalb und außerhalb der Familie, ist mit die größte Belastung für die Kinder.

Die gesunden Kinder leiden mit!
Auch wenn Ihre Kinder stark und unkompliziert erscheinen, versuchen sie als Eltern, deren Schmerz und Trauer Raum zu geben.

Keine (gutgemeinte) Schonung!
Altersgemäße Erklärungen, was in der Familie und mit der Schwester / dem Bruder los ist, schaffen Sicherheit und Vertrauen. Kindgerechte Bücher und die Behandler des erkrankten Geschwisters und können dabei helfen. Fordern Sie diese Unterstützung ein!

Der Entwicklung von Schuldgefühlen vorbauen!
Schuldgefühle nisten sich in vielen Familien ein, auch bei den gesunden Kindern. Niemand in der Familie ist für die Erkrankung verantwortlich, niemand ist daran schuld!

Schützen Sie die Kinder vor Überforderung!
Viele gesunde Geschwister versuchen, allen Erwartungen der Eltern gerecht zu werden, um den Eltern nicht noch zusätzliche Sorgen zu bereiten.

Unterstützen Sie die Kinder dabei, sich weiterhin als Geschwister zu begegnen!
Für erkrankte und gesunde Geschwister ist es wichtig, die Beziehung und den Umgang miteinander vor der Erkrankung in die Zukunft zu retten; für ihr Wohlbefinden hat die größte Bedeutung, wenn sie sich als Geschwister begegnen und nicht als Hilfebedürftige und Helfer. Insbesondere jüngere Kinder sollen keine ‚Carer‘ (Betreuer, Kümmerer, …) sein! Sie brauchen ihren eigenen Freiraum, Freunde, Hobbys, etc., um sich gut zu entwickeln.

Konflikte richtig einordnen!
Nicht jeder Konflikt zwischen kranken und gesunden Geschwistern hat mit der Erkrankung zu tun; geschwisterliche Rivalitäten kommen in nahezu allen Familien vor. Versuchen Sie zu unterscheiden.

Alltagsroutine so weit wie möglich beibehalten!
Auch das schafft Sicherheit für alle Beteiligten und stärkt das Gefühl der Geschwister, dazu zu gehören.

Verlässliche Elternzeit!
Versuchen Sie, trotz aller Belastungen gelegentlich gezielt Zeit mit dem oder den gesunden Geschwistern zu verbringen – damit diese sich nicht als ‚Schattenkinder‘ fühlen.

Grund zu Zuversicht
Wir erwarten nicht, dass unsere Tipps vollständig und zu jedem Zeitpunkt umgesetzt werden können, aber die gute Nachricht ist: Geschwisterkinder, die in einer offenen und aufgeklärten Umgebung aufwachsen, haben eine gute Chance, aus den Beschwernissen für die Entwicklung ihrer eigenen Persönlichkeit zu profitieren.


Die Vollversion der Info-Blätter für Eltern finden Sie hier: geschwisternetzwerk.de/2019-okt-eltern-geschwister-beziehung

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