Gagi K. im Gespräch mit Daniela Schreyer (2020)

Der Artikel wurde veröffentlicht in Kontakt 01/2020

Die erste Ausgabe seiner Mitgliederzeitschrift „Kontakt“ im Jahr 2020 widmete der österreichische Angehörigenverband HPE (Hilfe für Angehörige psychisch Erkrankter) den Geschwistern – „Was sie belastet. Was sie stärkt.“

In einem Beitrag für das Themenheft sprach eine der Redakteurinnen mit Gagi K. über ihre Erfahrungen und Gefühle als Schwester, für wie hilfreich sie Geschwistergruppen hält und über ihre Tipps für andere Geschwister.

Gagi lebt in Deutschland und ist Mitglied im Geschwister-Netzwerk. Sie ist schon einige Jahrzehnte mit der psychischen Erkrankung ihres Bruders konfrontiert. Es ist vieles nicht gut gelaufen in der Vergangenheit, doch Gagi hat einen Weg gefunden, trotz der Belastungen ein gutes Leben zu führen. Im Gespräch mit Daniela Schreyer lässt sie uns an ihrem Erfahrungsschatz teilnehmen und spricht sich vor allem für einen offenen Umgang mit der Erkrankung aus.

Daniela: Magst Du uns schildern, wie die Erkrankung in Eure Familie eingebrochen ist?

Gagi: Es war ein Zusammenbruch der Welt, wie ich sie kannte. Es hat alles verändert, und es hat die Familie, vor allem durch das gewaltsame ‚nicht wahrhaben wollen‘ meiner Mutter (es tat ihr zu sehr weh, das weiß ich ja) in ein ‚Nur noch ein bisschen und dann wird alles wie früher‘ reingezwängt. Dieser Zustand dauerte 25 Jahre …

Ich war damals sehr jung, nun bin ich in einem Alter, wo Vergangenheit und Zukunft sich wahrscheinlich die Waage halten. Die Mutter hielt stur an ihrem Vertrauen fest, der Vater hat sich abgesondert (sie waren geschieden). Ich war nicht vorhanden und mein Bruder und sein Leid wurden die Achse des Familienlebens und gefühlt auch sonst allen Lebens. Erst seit einem Jahr ist es entspannter geworden, da mein Bruder, wie durch ein Wunder, eine kleine Rente erhielt. Meine Familie lebt nicht in Deutschland. Es ist ein Land in Europa, wo das Leben auch sonst sehr schwierig ist. Ich fühlte mich von Anfang an, auch später im Studium hier in Deutschland, verantwortlich / schuldig dafür, dass es meiner Mutter und dem Bruder schlecht geht, psychisch und finanziell. Papa starb früh.

Wie hat sich Euer Alltag durch die Erkrankung Deines Bruders verändert?

Nun, er lag am Anfang fast ein Jahr nur im Bett, bis dann irgendwann die ersten Krisen kamen, wo er glaubte, wir würden ihn vergiften, und viele andere unliebsame Momente. Manche sind mit Angst vor ihm verbunden. Wir lebten zu dritt in einer Zwei-Zimmer Wohnung. Alles hat sich verändert, auch wir haben uns verändert. Jeder von uns verschwand in seiner eigenen Landkarte, in der Landschaft dieser Geschichte.

Gab es psychiatrische Hilfe und war die Hilfe für Eure Familie auch hilfreich?

Es gab keine wirklichen Therapieangebote außer medikamentöse. Es gab kaum Kommunikation von den behandelnden Ärzten mit uns als Familie – es war lediglich ein klar machen dessen, welche Medikamente er nun bekommt, wie viele und wann. Es war entwürdigend für uns alle. Die Ärzte trafen alle Entscheidungen ohne sich mit uns als Familie zusammenzusetzen, uns aufzuklären über die Möglichkeiten oder wirklich Hilfe anzubieten. Sobald mein Bruder im Krankenhaus war, wurde die Familie ausgeblendet. Im Anschluss wurde er dann zur Familie abgeliefert, die dann wieder komplett zuständig war. Also meine Antwort: Der Psychiatrie fehlt es an Demut in der Tatsache, dass es sich immer um Entscheidungen handelt, die Menschenleben betreffen.

Hat Dich die Erkrankung weiter von Deinem Bruder entfernt?

Ja, schon, wobei wir waren uns früher nicht sonderlich nah. Ich wollte Nähe, denke ich, mehr als mein Bruder. Ich war jünger als er und war dadurch, glaube ich, nicht wirklich interessant für ihn. Als er dann krank wurde verlor ich den Bruder, den ich vorher kannte, der in vieler Hinsicht auch ein Vorbild für mich war. Ich hatte immer gehofft, dass wir später, wenn wir älter sind, eine größere Nähe entwickeln, aber das fand leider nie statt.

Das klingt sehr belastend. Wurde Deine Not von jemandem wahrgenommen?

Nein, dies war nie ein Thema, von niemand, auch von mir lange nicht. Mir ging es ja ‚gut‘. Vielleicht klingen meine Worte hart oder trocken, aber ich habe mit dem, was war, Frieden geschlossen. Ich habe gelernt, mir selber das zu geben was ich nicht bekommen habe. Es ist nie zu spät für eine gute Kindheit. Deshalb erzähle ich mir heute eine andere Geschichte meines Lebens, wohl wissend natürlich, wie es war. Ich habe eine Art Lebensrückblick gemacht und möchte nun an dem schönsten Ort der Welt leben: in der Gegenwart. Die Vergangenheit ist ein Archiv, die Zukunft ein Gerücht, – die Gegenwart soll von keinem von Beiden überlagert werden.

Wie hat sich Deine Rolle innerhalb der Familie durch die Erkrankung Deines Bruders verändert?

Ich verschwand noch tiefer in dem Labyrinth meiner selbst. Meine Eltern haben mich nie wirklich kennen gelernt. Mehr Veränderung geht kaum, denke ich. Ich wirkte nach außen wie ein Kind aus einem guten Zuhause, war eher ruhig und zurückgenommen. Ich wollte ‚das gute Kind‘ sein und nicht auch noch Probleme verursachen. Ich habe mich selber freiwillig verbogen. Mein Innenleben war eine andere Sache, da passierte sehr viel. Leider auch viel Wut und Trauer und Einsamkeit und dann Schuldgefühle wegen dem, was ich empfand. Es ist sehr komplex, was mit einem Menschen in einer solcher Situation passiert und auf wie vielen Ebenen … Und dann, wenn man so sensibel auf fremde Energien reagiert und das unausgesprochene Wort in all seiner Deutlichkeit hört, wie ich es tat schon als kleines Kind, dann ist es noch schwieriger. Ich fühlte mich für meine Mutter zuständig, hoffte erstmal meinen Bruder gesund kriegen, dann bin ich dran … Ich habe mir selber meine Pubertät verwehrt, da ich zu viele Verantwortungsgefühle mit mir herumschleppte …

Hast Du mit Freunden oder Verwandten über die Schwierigkeiten in Deiner Familie sprechen können?

Es ist ein schwer mit Stigma belegtes Thema, ein Tabu. Ich sprach in meiner Heimat mit niemanden über diese Situation, außer mit meinem damaligen Freund, das ging gehörig nach hinten los. Plötzlich war es für ihn furchtbar schlimm, dass ich ihn gebeten hatte, darüber nicht mit anderen zu sprechen, um meine Familie zu schützen. Er fand das unfair von mir, da es ja ihn nun so schwer belastete. Plötzlich war sein Seelenheil die Hauptgeschichte.

Ich aber hatte gehofft mir durch das Mitteilen ein Gefühl der Erleichterung zu verschaffen, dass endlich jemand mich anhört. Es war wirklich ein ganz schlechter Zeitpunkt in meinem Leben, an einen Narzissten (der er war) zu geraten. Später dann sprach ich erst mit meinem heutigen Ehemann darüber, das war gute Wahl 🙂

Meiner Erfahrung nach sind auch sehr nette Menschen total überfordert mit dem Thema. Man kann es erzählen, aber wirklich verstehen können es nur diejenigen, die es selbst erlebt haben, und zwar andere Angehörige. Menschen lieben das Happy End und es fällt den meisten schwer zu fassen, dass es vielleicht keins gibt. Das ist schwer zu akzeptieren.

Gibt es etwas, das Du Deinen Eltern aus heutiger Perspektive raten würdest?

Ja! Macht was! Einigt euch zumindest über diese eine Sache. Sucht Euch gemeinsam Hilfe und helft eurem Sohn. Ihn nur ‚in Ruhe‘ zu lassen und zu warten, wird der Familie sehr viel Leid, Dramen, Ängste, Schuldzuweisungen, dramatische und traumatische Momente bescheren. Es wird euch alle viel kosten, seelisch, körperlich und auch finanziell. Vergesst nicht euer gesundes Kind, es hatte es auch so schon schwer in der Familienkonstellation, und nun ist es komplett aus dem Spielfeld herausgeschleudert worden. Die Suche nach dem Weg heraus aus der tiefsten Einsamkeit wird sie sehr viele Jahre kosten und ihr werdet nicht einmal ahnen, wie es in ihrer Seele wirklich aussieht, sie wird euch schonen. Ich verstehe, dass es euch freut und entlastet, dass sie gesund ist, aber sie wird sehr, sehr einsam unter euch sein …

Welche Sorgen beschäftigen Dich für die Zukunft?

Was wird mit meinem Bruder passiert, wenn Mama nicht mehr ist und welche Konsequenzen wird es für mein Leben geben? Schaffe ich das? Die Fragen sind eine Konstante geblieben. Wobei, heute denke ich nur noch selten daran, es wird, was sein wird und ich werde versuchen bestmöglich damit umzugehen.

Wie würdest Du aus heutiger Sicht die Probleme in der Beziehung mit Deinem Bruder beschreiben?

Wir hatten dann Kontakt, wenn mein Bruder das wollte. Er und seine Spielregeln hielten alles in Atem. Ich musste in sehr schlechten Zeiten auch ziemlich viele Beleidigungen von ihm einstecken. Ich bin ja gesund und lebe mein eigenes Leben, ich arbeite und ich bin ja trotzdem immer noch ‚die kleine Schwester‘ … Ich verstehe das, er hat das alles nicht. Diese Dynamik kennen viele von uns ‚Geschwistern‘. Ich wiederum trug viel Wut auf ihn in mir, für das, wie er sich, der Mama, mir, dem Leben gegenüber benommen hat und was er alles gesagt und getan hat … Bei ihm waren immer für alles die Anderen schuld, für das was geschah und auch für das, was nicht eingetreten ist. Er war früher ein ‚goldener Junge‘ mit vielen Talenten …

Ich habe durch sein Verhalten begriffen, wie giftig die Anspruchshaltung dem Leben, der Familie und anderen gegenüber ist. Zu glauben, wir hätten Anspruch auf etwas, versperrt uns komplett den Blick für das, was wir selbständig erreichen können.

Du hast im Austausch mit anderen Geschwistern Hilfe gefunden. Wie war es, als Du endlich darüber reden konntest?

Nun, hier habe ich zum ersten Mal begriffen, dass Geschwister auch eine Geschichte haben, dass ich nicht alleine bin mit meinem Schicksal und dem Gefühl des Nicht-dazu-Gehörens. Es kommt auch häufig vor, dass Geschwister weit weg von ihrer Herkunftsfamilie leben, wenn auch nicht unbedingt im Ausland, so wie ich. Ich fühlte mich lange blockiert und hatte unterschwellig Schuldgefühle, weil ich gesund bin … Hier konnte ich das zum ersten Mal thematisieren. Ich erfuhr, dass glückliche Momente kein Verrat an der Familie sind, dass ich frei sein darf; das begriff ich, als ich anderen zuhörte und merkte, wie auch sie mit solchen Themen kämpfen. Mein Mitgefühl mit den Anderen brachte mich näher zu mir. Selbsthilfegruppen sind eine Plattform, wo wir Geschwister uns austauschen und uns offenbaren, so, wie wir es sonst fast nirgendwo anders können. Mich traf nicht der Blitz, als ich das erste Mal von dem ‚Unaussprechlichen‘ sprach und auch sonst passierte nichts Schlimmes dadurch. Im Gegenteil, ich fühlte plötzlich, dass in meiner Lunge mehr Platz war. Es gewährte mir mehr Platz für mich in mir selbst.

Hast Du Tipps für andere Geschwister, die vielleicht noch nicht den Mut haben, sich anderen zu öffnen?

Man muss nicht stumm und stoisch diesen inneren Knoten ertragen, und den dann noch brav selber fest zuziehen, falls er lockerer wird. Sucht euch Hilfe! Die Vorstellung, was passieren könnte, wenn ihr euch einmal offenbart, ist anfangs schlimm.

Der erste Schritt ist am schwierigsten und manchmal dauert es Jahre bis man sich traut, da die meisten von uns ein unausgesprochenes aber dennoch deutliches Schweigegelübde früh auferlegt bekamen. Unter Gleichgesinnten werdet ihr feststellen, dass ihr keine Verräter seid und auch nicht allein. Lebt euer Leben, weder aus Trotz noch in der Schuld, denn so seid ihr nicht frei. Lebt, weil es euch gibt und weil das schön ist! Verzeiht euren Eltern, sie sind komplett überfordert, haben Schuldgefühle, Angst, fragen sich was sie falsch gemacht haben … Habt Mitgefühl mit ihnen, mit euren Geschwistern und mit euch selbst. Und am wichtigsten, verwandelt euch durch diese Geschichte nicht in harte und unnachgiebige Menschen, werdet bessere und wärmere Menschen. Jeder Mensch hat eine Geschichte und jedes Leben ist ein Geschenk, das mit Kleingedrucktem zu uns kommt. Das ist okay so! Dem haben wir Kunst, Musik, Poesie, Theaterstücke, Philosophie und auch sonst vieles anderes, das die Seele berührt, zu verdanken. Viel Schönes auf dieser Welt ist durch die Verarbeitung von Trauer entstanden, durch Menschen, die bereit waren, in nackter Ehrlichkeit etwas zu erschaffen, das sie dann in Liebe mit ihren Mitmenschen teilten.

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