Leonore Julius, Reinhard Peukert (2020)

Bericht vom 2. bundesweiten Geschwistertreffen am 3. August 2019 in Wiesbaden

Mehr als 20 Geschwister waren zu dem überregionalen Treffen gekommen. In vertrauensvoller und von gegenseitigem Verstehen geprägter Atmosphäre konnten auch ‚heiße Eisen‘ besprochen werden: Strategien zum Umgang mit ambivalenten Gefühlen, die allgegenwärtige ‚Schuldfrage‘ und die für einige Teilnehmende sehr belastende Frage nach dem Vererbungsrisiko von psychischen Erkrankungen.

Trotz der schweren Themen fand auch Heiterkeit ihren Platz – und das Gefühl, nicht allein zu sein mit den Sorgen und der Hilflosigkeit und manchmal auch der Verzweiflung.

"Raum für die eigenen Bedürfnisse"

Das 2. bundesweite Geschwistertreffen fand am 3. August 2019 in Wiesbaden statt. Wie bei früheren Treffen war die Atmosphäre wieder sehr offen und vertrauensvoll. Und es gab auch diesmal wieder Tränen und Lachen – vor allem aber das Gefühl, nicht allein zu sein mit den Sorgen und der Hilflosigkeit und manchmal auch der Verzweiflung.

Der folgende Bericht ist mehr als ein Protokoll der Veranstaltung. Einige der angesprochenen Themen wurden wesentlich erweitert; so der für Geschwister besonders brisante Diskussionspunkt um die Vererblichkeit von psychischen Erkrankungen und die scheinbar unvermeidliche ‚Schuldfrage‘.
Hinweis:
Beide Themen werden in der (noch nicht publizierten) umfangreichen Geschwister-Monographie ausführlich behandelt; die beiden Kapitel wurden hier vorab veröffentlicht. Links am Ende des Artikels.  

Bericht von der Veranstaltung

Veranstalter:
Netzwerk von Geschwistern psychisch erkrankter Menschen

Impulsreferat:
Prof. Dr. Reinhard Peukert (GeschwisterNetzwerk.de):
„Streiflichter …..“
Wahrnehmung von Geschwistern und Unterstützung für Geschwister psychisch Erkrankter im In- und Ausland

Moderation:
Prof. Dr. Reinhard Peukert (RP)

Protokoll:
Leonore Julius (GeschwisterNetzwerk.de)
Prof. Dr. Reinhard Peukert (GeschwisterNetzwerk.de)

Trotz einiger kurzfristiger Absagen waren mehr als 20 Geschwister zu dem Netzwerktreffen gekommen. Die meisten Teilnehmenden waren zwischen 25 und 50 Jahre alt und blickten häufig bereits auf eine langjährige ‚Geschwister-Biographie‘ zurück. Das Treffen startete mit einer Vorstellungsrunde, bei der Themenschwerpunkte gesetzt und Erwartungen formuliert wurden.

Ein typisches Bild zeigte sich bei den Teilnehmenden: Zwei Brüder und viele Schwestern; dieses Bild ist aus Studien bekannt.

RP: Schwestern sind eher bereit, sich zu kümmern und Verantwortung zu übernehmen, und sie haben folglich die größeren Probleme, einen Ausgleich zu finden in der Diskrepanz zwischen ihren eigenen Erwartungen in Bezug auf ihre Hilfe für die Schwester bzw. den Bruder sowie den Unterstützungs-Erwartungen der Eltern auf der einen Seite (‚Fremdsorge‘) und ihren eigenen Bedürfnissen und Interessen (‚Selbstsorge‘) auf der anderen Seite.

Knapp ein Viertel der Teilnehmenden hatte bereits im Vorjahr an dem Netzwerktreffen teilge­nommen, eine Teilnehmerin war von ihrer Mutter auf die Veranstaltung aufmerksam gemacht worden, alle übrigen hatten über die Website, das Forum oder den Newsletter des Geschwister-Netzwerks von dem Treffen erfahren.

Eher untypisch für Veranstaltungen der Selbsthilfe ist dagegen die Teilnahme von mehreren Geschwistern mit Migrationshintergrund, die sich alle mit zusätzlichen Herausforderungen konfrontiert sehen. Beispielhaft seien hier genannt: ein kulturell bedingtes unterschiedliches Verständnis von psychischen Erkrankungen und die fehlende Entscheidungsfreiheit, ob und in welchem Umfang die Geschwister sich an der Sorge für das erkrankte Familienmitglied beteiligen, da nur sie über gute Deutschkenntnisse verfügen und für Eltern und andere Angehörige jegliche Kommunikation dolmetschen müssen.

RP stellt dazu fest, dass im deutschsprachigen Raum keine Untersuchungen zur Verfügung stehen, die Unterschiede im eigenen Erleben und in den Erwartungen der Herkunftsfamilien zum Thema haben, die durch die Herkunft aus Ländern mit anderem kulturellem Hintergrund markiert werden – anders als z.B. in den USA, wo Ethnien häufig berücksichtigt werden.

In seinem Impulsreferat trug Reinhard Peukert vor, welchen Stand seine in Arbeit befindliche Monographie erreicht hat. Die ursprüngliche Absicht war, deutschsprachige Studien zu ermitteln und auszuwerten, um dieses Wissen interessierten Geschwistern zugänglich machen, was diesen die Möglichkeit des Abgleichs und der Reflexion der eigenen Erfahrungen und Einstellungen im Spiegel der wissenschaftlichen Erkenntnisse eröffnet. Es stellte sich jedoch heraus, dass die Quellenlage im deutschsprachigen Raum sehr dürftig ist, sodass die Recherche auf den englischsprachigen Raum ausgeweitet wurde, wo eine Fülle von Material verfügbar ist. Die Monographie wird voraussichtlich Anfang 2020 veröffentlicht werden.

Bei seinen Ausführungen griff der Referent schwerpunktmäßig die bereits in der Vorstellungsrunde formulierten Themen und Anliegen auf. Diese wurden bei den jeweiligen Diskussionspunkten eingefügt und teilweise um weitere Aspekte erweitert.

Die Diskrepanz zwischen Fremdsorge und Selbstsorge war ein Thema, das sich durch den ganzen Tag zog; nachdem die Frage nach der eigenen Rolle etwa in der Mitte der Vorstellungsrunde zum ersten Mal angesprochen worden war, stand dieses Problem schließlich fünf Mal auf der Tagesordnung, und in zwei der drei Kleingruppen am Nachmittag wurde es aus unterschiedlichen Perspektiven reflektiert.

Unter der Perspektive der Gruppe 1, die sich mit der Erfahrung als außenstehendes Familienmitglied angesichts einer ‚symbiotischen Beziehung zwischen der Mutter und dem erkrankten Geschwister‘ beschäftigte (drei Mal wurde die eigene familiäre Situation mit diesen Worten beschrieben), wurde neben der erlebten Trauer, dem emotionalen Rückzug aus der Familie und einer erhofften Unter­stützung von außen durch Freunde und Profis als Ausweg aus der emotional belastenden Situation ‚erdiskutiert‘: Man müsse sich fragen ‚Wie geht es mir dabei?‘, um dann für sich eine Konsequenz zu ziehen, bei der die unbedingt notwendige Selbstsorge nicht zu kurz kommt. In der Beschäftigung mit dieser subjektiv bedeutsamen Fragestellung haben sich die regionalen Geschwistergruppen bewährt, was z.B. aus dem Bericht von Gagi K. bei einer Tagung herausgelesen werden kann (Gagi K.: Der schwierige Weg zur Autonomie).

Vier der Teilnehmenden äußerten Sorge um die Mutter, die seit vielen Jahren die Hauptlast der familiären Unterstützung für das erkrankte, inzwischen erwachsene Kind trägt – ein sehr häufiges Belastungserleben von Geschwistern psychische erkrankter Menschen. Darauf gibt es zwei Antworten: Die Mutter entlasten, indem man selbst viele Dinge übernimmt – oder die Mutter entlasten, indem man ihr hilft, auf professionelle Hilfe zuzugreifen.

Aber da schaut bereits die nächste Frage um die Ecke: Wo ist die Hilfe zu finden? Welche Hilfen gibt es eigentlich?

Die bisherige Antwort des GeschwisterNetzwerks lautet: In jeder Kommune gibt es einen Sozialpsychiatrischen Dienst, dessen Aufgabe u.a. die Organisation von Hilfen für psychisch Erkrankte ist, und in nahezu jedem Bundesland gibt es einen Landesverband der Angehörigen, der sich seit Jahren mit den verfügbaren Hilfen beschäftigt und auch beraten kann (ggf. durch Weitervermittlung an eine örtliche Gruppe). Die Hilfe-Landschaft ist zu komplex und regional zu unterschiedlich gestaltet, als dass das bundesweite GeschwisterNetzwerk regional und situativ angemessene Antworten finden könnte.

Bei der zweiten Gruppe war das Gruppenthema: Verantwortung und Verantwortungsübernahme, dies wurde in der Vorstellungsrunde sechs Mal als Problem benannt (eine der häufigsten Nennungen, gefolgt von Aggressivität, fünf Nennungen). In diese Gruppe fand folgerichtig auch die Fragestellung Eingang, die in der Vorstellungsrunde ebenfalls sechs Mal genannt wurde: Was wird später?

Die gefundenen Antworten gleichen denen der ersten Gruppe: Die Sichtweisen aller Beteiligten müssen reflektiert, also berücksichtigt werden. Das bedeutet ggf. eine harte Auseinandersetzung, um von den Sichtweisen zu gemeinsamen Strategien zu finden; ‚Strategien zu entwickeln‘ war der Gruppe wichtig. Die Gruppe gibt den Rat, dass das am sinnvollsten von einem Austausch unter Gleichen (also Geschwistern) begleitet werden sollte – und eines sollte auf keinen Fall vergessen werden: ‚Man kann nur helfen, wenn man Kraft hat‘. Dabei könne z.B. eine Distanzierung auf Zeit hilfreich sein.

Die Entscheidung, ob Geschwister die rechtliche Betreuung für ihre erkrankte Schwester oder ihren erkrankten Bruder übernehmen sollten war ein mehrfach angesprochener Teilaspekt der Frage, was werden wird, wenn die Sorge tragenden Eltern bzw. Elternteile dazu nicht mehr in der Lage oder bereits verstorben sind. Während einige der anwesenden Geschwister dies bereits entschieden haben, ist sie für andere noch völlig offen. Diese seien auf einen Selbstprüfungs-Katalog verwiesen, den der Landesverband Bayern der Angehörigen entwickelt und 2019 aktualisiert hat (www.lvbayern-apk.de/index.html).

‚In einer Verantwortung‘ sahen sich einige Geschwister auch (sechs Nennungen), wenn das erkrankte Geschwister Suizidabsichten äußert, bereits Suizidversuche unternommen hat oder dessen Leben durch andere krankheitsbedingte Umstände gefährdet ist, wobei ihnen gleichzeitig schmerzlich bewusst ist, dass ihre Handlungsmöglichkeiten sehr begrenzt sind. Diese existentielle Herausforde­rung in Verbindung mit der empfundenen Hilflosigkeit, den Ängsten und vielfältigen anderen Gefühlen stellt für die betroffenen Geschwister eine extrem hohe (Dauer-) Belastung dar.

Dieses keinesfalls auf Einzelfälle beschränkte Thema konnte in dem vorgegebenen Rahmen nicht behandelt werden; dafür ist ein noch zu erarbeitendes anderes Format erforderlich.

Die dritte Gruppe nahm sich das Thema der allgegenwärtigen Ambivalenzen im Umgang mit der erkrankten Schwester bzw. dem erkrankten Bruder vor.

RP: Ambivalenzen können Wut erzeugen und neben Wut ist die Wahrnehmung von Neid ein belastendes Gefühl (Neid, da man selbst beruflich und sozial erfolgreich ist, die Schwester oder der Bruder aber erkrankungsbedingt in ihrer/seiner Entwicklung stecken geblieben ist). Aus der Literatur sind jedoch auch erkrankte Geschwister bekannt, die im Gegensatz dazu stolz auf die Erfolge ihrer Schwester bzw. ihres Bruder sind.

Die Gruppe hebt hervor: Die Gefühle der Erkrankten müssen nicht nur wahrgenommen werden, auch deren Ambivalenzen sollten gesehen werden. Und obgleich es schwer fällt, sei deren Recht auf eine Lebensweise, die mit einer ‚üblichen‘ wenig gemein hat, zu respektieren, man müsse ihnen ‚ein Recht auf Verlottern‘ zugestehen, so die unwidersprochene Äußerung eines Bruders.

Zum geschwisterlichen Umgang schlagen sie vor, Zeiten miteinander zu verbringen, in denen die Erkrankung sowie deren Folgen kein Thema seien, sondern das gemeinsame Erleben von angeneh­men Aktivitäten.

RP: Auch hierfür finden sich Entsprechungen in der Literatur. Viele befragte Geschwister in Deutschland und im Ausland sehen ihre Rolle als ‚ganz normale Schwester oder Bruder‘ im Sinne einer ganz normalen, üblichen Geschwisterbeziehung: sich streiten, gemeinsam etwas unternehmen etc., und ‚Lachen ist auch möglich.‘
Studien belegen, dass diese Haltung für das erkrankte Geschwister gesundheitsförderlich ist.

Dies vermittelt den Eindruck eines fast problemlosen Umgangs mit der oder dem Erkrankten. Dem stehen jedoch u.a. die Ablehnung jeglicher Hilfeangebote durch die oder den Erkrankten entgegen sowie Aggressionen, die immerhin von fünf der Anwesenden angesprochen wurden.

RP: Gemäß der internationalen Literatur sehen sich ca. die Hälfte aller Geschwister stark bis sehr stark vom Verhalten der Schwester bzw. des Bruders beeinträchtigt; selbst erlittene Aggressivität sowie Aggressivität gegenüber den Eltern zählen dazu.

RP berichtete aus seiner Monographie ‚Wie geht es denn den Schwestern und Brüdern‘ von den Distanzierungsstrategien, mit denen Geschwister in allen Ländern, aus denen Studien und Berichte vorliegen, sich bemühen, mit folgender Ambivalenz klar zu kommen: der erkrankten Schwester bzw. dem erkrankten Bruder hilfreich zur Seite zu stehen, die Eltern nicht zusätzlich zu belasten und zugleich die eigenen Ziele und Interessen verfolgen zu können.

RP: Folgende Strategien konnten identifiziert werden:

  • Die psychisch-mentale Distanzierung (schwächere Bindungen zum Geschwister und den Eltern unterhalten)
  • Die körperlich-physikalische Distanzierung: Das ‚Moratorium‘ (RP) bzw. die ‚konstruktive Flucht‘ (constructive escape) (Kinsella u.a.), in Abgrenzung zu ‚unhealthy escapes‘ wie unumstößliche Kontaktabbrüche oder Substanzmissbrauch. ‚Moratorium‘ steht für die sehr frühe ‚Flucht‘ von Geschwistern aus ihrer Herkunftsfamilie, um z.B. möglichst weit weg zu arbeiten oder zu studieren oder eine Partnerschaft zu pflegen. Dies dient der Entwicklung der eigenen Persönlich­keit ohne ‚Störungen‘ durch die schwierige familiäre Situation mit einem erkrankten Geschwister, hält allerdings trotz des räumlichen Abstands die Beziehungen kontrollierbar aufrecht und ermöglicht (soweit gewünscht) eine Rückkehr mit Rollenklärungen nach der Distanzierungsphase.
  • Die systemische Vermeidung, das ‚funktionale partielle familiäre Schweigen‘ (RP). Diese Strategie wurde erstmals in Gesprächen des GeschwisterNetzwerks mit Eltern über deren Umgang mit den gesunden Geschwistern so benannt und wird in der Monographie in einen familiendynamischen Kontext gestellt, außerdem werden die teilweise gravierenden Folgen beschrieben. Die Benennung eines belastenden Schweigens in Familien mit einer psychischen Erkrankung findet sich allerdings bereits in älteren angelsächsischen Studien.
    Kurz gesagt: Nach einer sehr schwierigen Zeit zu Beginn der Erkrankung spielen sich in der Familie Rollenverteilungen ein sowie das nachvollziehbare Bedürfnis, diese labile Ruhe nicht mit schwierigen Thematisierungen zu stören, nämlich über die Erkrankung und ihre Folgen zu sprechen, da dies sehr wohl Kontroversen hervorrufen könnte. Dieses Schweigen ist funktional: es hält die gefundene familiäre Ordnung aufrecht; es ist partiell: denn über alle anderen Themen wird sehr wohl kommuniziert.
    Allerdings muss dieses Schweigen irgendwann durchbrochen werden, um langfristige psychische Störungen bei den Beteiligten zu vermeiden und um Lösungen zu finden.
  • Die kognitive Vermeidung (von Stålberg u.a. als ‚cognitive avoidance‘ eingeführt). Diese Geschwister vermeiden die Beschäftigung mit den Problemen und Ambivalenzen, indem sie sich intensiv anderen Beschäftigungen zuwenden, sich also regelmäßig oder von Fall zu Fall handwerklich betätigen, Lesen, Sport treiben etc. etc.
  • Der kognitive Überstieg. RP verwendet diese Bezeichnung hier erstmals für eine Strategie, die offensichtlich eine Reihe von Geschwistern gewählt hat. Bei dieser Strategie beschäftigt man sich (zunächst nur halb-) professionell mit Psychiatrie, was zu einer beruflichen Karriere in der oder nahe der Psychiatrie hinführt. Viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der (Gemeinde-) Psychiatrie sind Geschwister, die damit offensichtlich für sich einen gangbaren Weg gefunden haben.
    So gibt es z.B. einen bedeutenden Forscher im Bereich Entwicklungspsychologie und -psychiatrie, der sein Forschungsinteresse eindeutig auf seine Rolle als Bruder einer erkrankten Schwester zurückführt, die sich schließlich suizidierte. Er kommt immer wieder auf sie zurück, sie war und ist so etwas wie ein subkutaner Wegweiser durch seine wissenschaftliche Biographie. (W. Thomas Boyce: Orchidee oder Löwenzahn? Warum Menschen so unterschiedlich sind und wie sich alle gut entwickeln können;
    Boyce-2019).

Die Strategie ‚kognitiver Überstieg‘ verweist auf einen weiteren Zusammenhang: Die positiven Effekte als Folge der Herausforderungen, Schwester oder Bruders eines erkrankten Geschwisters zu sein.

Ein Blick in die internationale Literatur zeigt: Selbst in den Jahren, als ausschließlich die Belastungen von Geschwistern auf vielfältige Weise erhoben wurden, haben viele der Geschwister für sich selbst ungefragt (!!!) positive Effekte der Herausforderungen zu Protokoll gegeben: Erweiterte Empathie, ein mit der Zeit gewachsenes Selbstvertrauen, die Fähigkeit, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen, eine deutlich gesteigerte Wahrnehmung der sozialen Verhältnisse in der Gesellschaft bis hin zu einer überdurchschnittlich häufigen Wahl von sozialen Berufen.

Eine Teilnehmerin unseres Geschwistertreffens sagte im Anschluss daran: Als die potentiell positiven Effekte angesprochen wurden habe sie dies erstmals auch für sich erkannt.

Bei der Frage potentieller Schuld und faktischer Schuldvorwürfe entstand eine Kontroverse.

RP stellte in den Raum, dass von Angehörigen sehr häufig Schuldvorwürfe erlebt würden, obwohl sie heute von professioneller Seite sowie in der Fachliteratur nicht mehr erhoben würden; allerdings wurden und werden in Studien und in theoretischen Überlegungen zur Rolle der Familie bei psychischen Erkrankungen sehr wohl nach wie vor Wirk-Effekte herausgestellt, aber nicht im Sinne der Verursachung. Diese würden häufig so gelesen, als würde damit Schuld zugewiesen, was aller­dings ganz und gar nicht der Fall sei (zumindest in den letzten Jahren).

Zu Recht wurde erwidert: „Es werden Schuldvorwürfe ausdrücklich erhoben – und zwar ganz ausdrücklich – z.B. von anderen Familienmitgliedern und von Bekannten, mitunter auch eher subtil von Mitarbeitenden im Sozial- und Gesundheitssystem.“ Dem ist so, und das ist eine große Belastung für alle Angehörigen. Diese Schuldzuweisungen verschärfen zudem die generelle Stigmatisierung aufgrund psychischer Erkrankungen.

Es ist sinnvoll, das subjektive Erleben von Schuldgefühlen auseinander zu halten von faktischen Schuldvorwürfen seitens anderer Personen, die es sehr wohl immer noch gibt. Allerdings wird häufig etwas gesagt, was sehr schnell eine Assoziation zu Schuldgefühlen hervorruft, obwohl dies nicht beabsichtigt war – und dann wird das Gesagte schnell als Schuldvorwurf verstanden, obwohl ein anderer und zumeist komplizierterer Zusammenhang gemeint war.

RP: Hier folgt ein Versuch, dieses Phänomen der ‚fälschlich verstandenen Schuldvorwürfe‘ zu erklären.

Es gibt viel Literatur, die sich mit familiären Strukturen und Dynamiken befasst, denen eine wie auch immer geartete Mitwirkung am Erkrankungs- und/oder Wieder-Erkrankungsgeschehen bescheinigt wird, indem gesundheitsförderliches und gesundheitsabträgliches Verhalten identifiziert wird. Dabei geht es um die Entschlüsselung der Bedingtheit jedes Einzelnen in der Abfolge der Generationen in einer je spezifischen Umwelt. Damit ist gemeint:

Jeder Einzelne (also auch jedes Familienmitglied) bringt zu jedem Zeitpunkt aus seiner individuellen Geschichte etwas Spezifisches in die aktuellen sozialen Situationen ein; sein Verhalten ist in diesem Sinne immer auch ‚bedingt‘, es hat sich ‚unter bestimmten Bedingungen‘ etwas herausgebildet, was in der aktuellen Situation in seinem Denken, Fühlen und Handeln mitwirkt. Der Mensch ist daneben grundsätzlich in der Lage, sich in Auseinandersetzung und Reflexion (einem Teil) seiner Bedingtheiten gewahr zu werden und sich zu verändern; nur so sind wir Menschen unter unseren sich ständig verändernden Lebensbedingungen zufriedenstellend lebensfähig.

Die Schwierigkeit bei der Debatte um Schuld ist diese Gleichzeitigkeit von Bedingtheit und der Möglichkeit, sich durch Weiterentwicklung (Lernen) Stück für Stück daraus zu befreien. Dabei darf nicht übersehen werden: Das ist ein oft langwieriger Prozess und nicht jeder hat die Möglichkeit dazu, wenn seine soziale Situation z.B. sehr begrenzend und/oder hoch belastet ist. Das Konzept von Schuld ist dazu geeignet, diese Dialektik von ‚Bedingtheit‘ und ‚Freiheit zur Weiterentwicklung‘ zu zer­schlagen! In dem hier beschriebenen Zusammenhang wird mit einer (die Kompliziertheit drastisch reduzierenden) Schuldzuweisung die Bedingtheit der Person negiert und eine völlige sowie verpflichtende Befreiung aus der (historischen) Bedingtheit verabsolutiert. Gleichzeitig wird den in der sozialen Situation (der familiären Interaktion) stattfindenden Austauschprozessen eine Bedeutung zugeschrieben, die diese Prozesse ihres Prozesscharakters beraubt – so als würden z.B. kritische, im Bemühen um Erziehung motivierte Bemerkungen losgelöst aus einem fortlaufenden Bindungs- und Interaktionsgeschehen eine Wirkung entfalten können, die als Ursache für eine psychische Erkrankung herangezogen werden könnten – womit dann der Schuldvorwurf begründet wäre.

Um den ersten Gesichtspunkt (die Negation der historischen Bedingtheit) an einem drastischen Beispielen zu verdeutlichen.
Wer wollte einer Mutter, die als Kind sexuelle Gewalt erleben musste und ihr psychisches Überleben sicherte, indem sie ihre grauenhaften Gefühle unterdrückt (fachlich korrekt: dissoziierte, abspaltete) dafür schuldig sprechen, dass sie damit zugleich weniger feinfühlig ihren eigenen Kindern gegenüber wurde, was sich auf deren Psyche auswirkt? Darf man dieser Mutter eine Schuld geben, wenn sie nicht die Möglichkeit hatte, dieses Handicap etwa über eine Therapie oder in einer Ehe mit einem sehr zugewandten Partner abzulegen? Möglichkeiten, die andere Frauen nach sexuellen Übergriffen hatten?
Wissen wir um die Belastungen unserer Eltern und Großeltern, die qua Bedingtheit ihres Verhaltens in gewissem Maße und irgendeiner Form an uns weiter gegeben wurden?

Vielleicht kann auch eine Analogie dazu beitragen, faktische Schuld abzugrenzen von der empfundenen Schuld:

Wie bekannt, wird davon ausgegangen, dass das Risiko für eine psychische Erkrankung zum einem Teil in den Genen verankert ist, also erblich von den Eltern an das Kind weitergegeben wird, demnach eine (Mit-) Verursachung bei den Eltern liegen könne. Aber wird irgendjemand daraus eine ‚Schuld‘ ableiten? Wohl kaum. Dennoch empfinden manche (oder auch viele) Eltern eine Schuld daran, dass diese (ihre) Gene ggf. für die Erkrankung ihres Kindes (mit-) ursächlich sein könnten.

Ähnliches gilt für das Verhalten, denn der Mensch ist ja nicht nur durch seine Gene definiert; sein Denken, Fühlen und Handeln hat sich – wie oben ausgeführt – unter bestimmten Bedingungen ausgeprägt; dazu gehören neben den jeweiligen Lebensbedingungen und -erfahrungen (im weitesten Sinne) auch generationsübergreifende Umstände. Um weniger günstige Prägungen durch Hinzulernen zu beeinflussen, bedarf es – wie ebenfalls oben ausgeführt – viel Zeit, vor allem aber zwei wesent­licher Voraussetzungen: 1. die Erkenntnis, dass bestimmte Denk- und Verhaltensweisen sich negativ auf die familiären Strukturen auswirken und 2. die Möglichkeit, an einer Weiterentwicklung zu arbeiten – die wiederum von der aktuellen Lebenssituation in vielerlei Hinsicht beeinflusst wird.
Solange nicht beide Voraussetzungen gegeben sind, ist diese Prägung neben der Genetik als Teil der ‚personalen Ausstattung‘ zu betrachten – und auch so zu behandeln.

Was bisher beschrieben wurde passt für die sog. Schuldfrage bei Eltern und Geschwistern gleicher­maßen. Bei Geschwistern vermischt sich dies mit subjektivem Schulderleben völlig anderer Herkunft, nämlich der ‚Solidaritätsschuld‘. Viele Geschwister haben das Gefühl, der oder dem Erkrankten in seinen Schwierigkeiten solidarisch zur Seite stehen zu müssen – und dies in den eigenen Augen nur begrenzt leisten zu können, was zum Erleben der Solidaritätsschuld führen kann; dies war in vielen der durchgesehenen Interviews zu finden. Vor vielen Jahren hat ein schwedischer Autor (Titelman) von der ‚Überlebensschuld‘ von Geschwistern gesprochen; er meinte damit das schlechte Gewissen von Geschwistern, im Gegensatz zur eigenen Schwester bzw. dem Bruder von einer psychischen Erkrankung verschont geblieben zu sein.

Dies sind Schuldgefühle, die bei den Geschwistern sozusagen aus sich selbst heraus entstehen, ohne dass irgendjemand ihnen diese zugewiesen hätte oder einen entsprechenden Vorwurf geäußert hätte. Auch bei Eltern gibt es diesen Anteil aus sich selbst heraus entwickelter Schuldgefühle. Angesichts der Erkrankung oder Behinderung oder starker Verhaltensauffälligkeiten des eigenen Kindes taucht der schmerzliche Gedanke auf, möglicherweise als Eltern ‚nicht gut genug gewesen zu sein‘, wobei wohl insbesondere Mütter darunter leiden, ggf. keine gute Mutter gewesen zu sein. Da ist es sehr leicht nachzuvollziehen, wie sehr insbesondere Mütter geneigt sind, auf jede nur erdenkliche Anspielung auf Schuld zu reagieren und wie massiv sie unter jedem von außen kommenden Schuldvorwurf leiden – siehe oben die zitierten Schuldvorwürfe aus dem weiteren familiären Kontext und/oder von Bekannten.

Wir Protokollanten haben an diesem Abschnitt des Protokolls lange diskursiv gerungen. Wir wünschen uns, dass diese Ausführungen uns Geschwistern eine Anregung geben können, empfundene Schuldgefühle daraufhin abzuklopfen, ob sie möglicherweise unseren eigenen, häufig ambivalenten Gefühlen geschuldet, und damit ‚objektiv gesehen‘ obsolet im Sinne von ‚unbegründet‘ sind. Wenn wir das erkennen, sind sie durch Selbstversicherung bzw. Selbstreflexion reduzierbar, wenn nicht sogar vermeidbar. Gemeint sind beide Seiten: die Schuldgefühle in Bezug auf sich selbst sowie jene im Hinblick auf die Strukturen und Dynamiken in der Familie.
Darüber hinaus könnten die Überlegungen dabei helfen zu erkennen, wenn Äußerungen Dritter auf diese aus uns selbst heraus empfundenen Schuldgefühle und Ambivalenzen treffen und wir dann dazu neigen, Schuldvorwürfe zu vermuten oder zu erahnen, ohne dass es dafür eine tatsächliche Grundlage gibt.
Dem gegenüber sollten wir mutiger werden, den von Außenstehenden tatsächlich und erkennbar erhobenen, in der Regel verkürzenden und pauschalisierenden Zuschreibungen nicht irritiert und verunsichert sondern selbstbewusst entgegen zu treten.

Diese Frage tönt das Problem an, das bei dem Treffen am häufigsten benannt wurde: Die Frage nach der Vererbung von psychischen Erkrankungen, das mit der sehr bedrängenden Frage verbunden ist: werde vielleicht auch ich psychisch erkranken, oder vielleicht meine Kinder?
Wie bereits bei früheren Treffen wurde die Problematik sowohl im Hinblick auf die schwelende Verunsicherung als auch im Hinblick auf anstehende oder bereits getroffene Lebensentscheidungen von mehreren Teilnehmenden thematisiert.

Die bereits als klassisch zu bezeichnende Frage lautet: ‚Angeboren oder erworben?‘ In Übersetzung in die heutige Sprache: ‚Genetisch verankert oder sozial verursacht?‘ Die allseits geschätzte Antwort geht der Brisanz der Frage geschickt aus dem Wege: ‚Multifaktoriell verursacht, es gibt genetische und psycho-soziale Anteile, in sehr unterschiedlicher Mischung‘.

RP: Diese Antwort ist beschwichtigend, allerdings wird dabei eine seit einigen Jahren wieder heftig entflammte Debatte über ‚angeboren oder erworben‘ übersehen.
Mit den sich ständig verbessernden Methoden genetischer Forschung und einer sich verbreiternden Basis für sozialwissenschaftliche Methoden werden laufend neue Erkenntnisse generiert.

RP greift diese für viele Geschwister hoch brisante Frage in seiner Monographie auf; dem Protokoll ist als Anlage ein entsprechender, gekürzter Auszug aus der Monographie beigefügt.

Die zentrale Aussage lautet: Übereinstimmend wird in zahlreichen Studien festgestellt, dass für viele Geschwister allein die Befürchtung eines erhöhten erblichen Risikos (für sich selbst und ihre Nachkommen) eine massive Belastung darstellt, die ihrerseits die Wahrscheinlichkeit psychischer Probleme oder gar einer Erkrankung erhöht.

Damit wird das ohnehin gravierende subjektive Belastungserleben weiter erhöht, und dafür sind die epidemiologisch gesicherten erhöhten Raten psychischer Erkrankungen unter den Geschwistern maßgeblich, und nicht die in vielen Studien behaupteten und in populärwissenschaftlichen Texten kontrafaktisch herausgestellte Sicherheit, genetische Risiken seien für die epidemiologischen oder in Zwillingsstudien gefundenen Effekte ausschlaggebend. Wie fragwürdig solche Behauptungen sind und wie viele Fragen nach wie vor ungeklärt sind, um eine genetische Verursachung mit Fug und Recht anzunehmen, kann in Texten von überzeugten Genetikern nachgelesen werden. Greg Gibson, einer der herausragenden Genetiker, bringt es auf den Punkt: ‚correlation is not causation‘ (Gibson in ‚Rare and common variants ….‘).
Mit anderen Worten: Selbst dann, wenn große, mehrere tausend Personen einschließende genetische Studien das gleichzeitige Auftreten von bestimmten genetischen Eigenschaften und bestimmten Krankheiten nachweisen (Korrelation), so ist dies noch lange kein Beweis dafür, dass diese genetischen Besonderheiten die Ursache der Erkrankung sind (Kausalität).
Der Zusammenhang ist ein anderer. In vielen genetischen Studien wird ausdrücklich darauf verwiesen, dass zu den jeweils gefundenen genetischen Veränderungen zwingend Umwelteinflüsse hinzu treten müssen, damit der Übergang vom Risiko zur Erkrankung erfolgen kann.
Wie oben betont dürften die besonderen Belastungen von Geschwistern psychisch Erkrankter die wesentlichen Umwelteinflüsse sein, die zu den erhöhten Raten psychischer Erkrankungen bei den Geschwistern führen.[1]

Die Botschaft an uns Geschwister ist eindeutig:
Die Vererbungsangst ist absolut nachvollziehbar, und es gibt auch erhöhte Krankheitsraten unter den Geschwistern – aber dies mit ‚angeboren‘ oder ‚genetisch‘ gleichzusetzen ist alles andere als sinnvoll: Die Überlegung ist wissenschaftlich nicht begründbar, vielmehr trägt sie selbst zu einer Erhöhung des Risikos bei.

Sinnvoll und gesundheitsrelevant ist demgegenüber alles, was die Belastungen aus der besonderen Situation als Geschwister reduziert und was dazu beiträgt, psychosomatischen Belastungsfolgen entgegen zu wirken, also alles, was das Stresserleben reduziert; dazu gehören entspannende Aktivitäten und an erster Stelle ‚sich etwas Gutes zu tun‘!

_______________
[1] Diese Aussagen gelten für die übergroße Zahl von psychischen Erkrankungen. Auf die sehr seltenen Fälle von über Generationen hinweg auftretenden familiären Häufungen von einzelnen psychischen Erkrankungen wird in der Monographie eingegangen.

Auf einer vorbereiteten Pinnwand haben die Teilnehmenden des Treffens mit Klebepunkten notiert, welche Unterstützungsangebote ihnen früher wichtig gewesen wären/geholfen hätten, und welche ihnen heute wichtig wären/helfen würden. Außerdem haben die meisten nach Abschluss des Treffens einen Rückmeldebogen mit offenen Fragen ausgefüllt.

Als Ergebnis sticht dabei ins Auge, dass es zwei Präferenzen bei den Bedürfnissen zu geben scheint:

  • das Interesse am Austausch der Erfahrungen unter den Geschwistern und
  • das Interesse an mehr und strukturierter Information.

Wir Protokollanten ziehen daraus die Schlussfolgerung, im kommenden Jahr zwei Typen von Treffen anzubieten: Ein überregionales Treffen, bei dem der Austausch von Erfahrungen im Vordergrund steht, was den Treffen in Kassel und Wiesbaden sehr nahe kommen wird. Häufig genannte Themenblöcke sollen in der Vorbereitung Berücksichtigung finden.

Wie bereits nach dem Treffen in Kassel 2018 haben sich auch nach diesem Treffen einige Geschwister gemeinsam auf den Weg gemacht und eine neue Geschwister-Selbsthilfegruppe für den Raum Stuttgart gegründet; Kontakt über Selbsthilfegruppen. Die Gruppe trifft sich in jedem zweiten Monat und hat bereits weitere Teilnehmende gewinnen können.

Daneben werden wir eine Veranstaltung planen, die eher einem Seminar nahe kommt, nämlich mit einigen Info-Blöcken und Diskussionen zum Stand des Wissens über Geschwister psychisch erkrankter Menschen sowie zu grundlegendem Hintergrundwissen, z.B. zum heutigen Verständnis psychischer Erkrankungen, Möglichkeiten und Grenzen gegenwärtiger Therapie-Verfahren, etc., jeweils ergänzt um Literatur zum weiteren ‚Selbststudium‘.

Auch denken wir gerade über Arbeitsblätter nach zur Rekonstruktion der eigenen ‚Geschwister-Biographie‘, was einerseits die Reflexion des Erlebten unterstützt und andererseits auf eine Verallgemeinerung ausgerichtet sein wird. Ein solches Arbeitsblatt kann ein Zeitstrahl sein, auf dem markante biographische Ereignisse sowie deren Bewertung eingetragen werden können, ergänzt um etwaige Schlussfolgerungen, die die jeweilige Person daraus gezogen hat. Dies hat für die Teilnehmenden eine andere Qualität als mündlich darüber zu berichten: Die Schriftform veranlasst zu Verdichtungen und der Konzentration auf einschneidende Erlebnisse und macht es zudem leichter möglich, anschließend in der Gruppe herausstechende Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu identifizieren, die Eingang in Unterstützungsmaßnahmen finden können.

Mit diesem Seminartyp sollen auch solche Geschwister angesprochen werden, die (z.B. nach einer Teilnahme an einem der bisherigen Geschwistertreffen) daran interessiert sind, künftig bei Veranstaltungen als Schwester oder Bruder zu referieren bzw. Diskussionsbeiträge beizusteuern. Außerdem wäre dieser Seminartyp geeignet für die Geschwister, die an weiteren fachlichen Klärungen im Kontext ‚Geschwister‘ interessiert sind.

„Die Angst, selbst an einer psychischen Störung zu erkranken – und die objektivierbaren Risiken“

Auszug aus dem Kapitel „Die Erkrankung der Schwester bzw. des Bruders zeigt lebensgeschichtliche Wirkung“ der noch unveröffentlichten Geschwister-Monographie von Reinhard Peukert

Förderung der Veranstaltung:
Wir bedanken uns für die Unterstützung der Veranstaltung beim AOK Bundesverband für die Selbsthilfeförderung gemäß § 20h SGB V

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Vorbereitungsprojekt zu einem geplanten Projekt

Laufzeit: März - November 2019

Ziel des Projektes war, den Rahmen zu schaffen, in dem ein Unterstützungsprojekt für Geschwister psychisch erkrankter Menschen realisiert werden kann auf Basis des Papiers „Gesichtspunkt für ein Geschwisterprojekt“ aus dem Jahr 2017 (Anlage zum Projektantrag 2019).

Das Projekt wurde wie vorgesehen realisiert, wobei sich im Verlauf einige neue Aspekte sowie Differenzierungen ergeben haben, auf die weiter unten eingegangen wird. Die Fördermittel (Reisekosten) waren beantragt worden, um Abstimmgespräche mit Persönlichkeiten durchzuführen, die bereit sind, im Rahmen einer Steuerungsgruppe das zukünftige Projekt fachlich zu begleiten, sowie Aufwendungen zur Prüfung technischer Realisierungsoptionen. Die Fördermittel wurden nicht ausgeschöpft, da alle Experten-Kontakte telefonisch und/oder per Email durchgeführt werden konnten, Kontakte mit erwachsenen Geschwistern und deren Eltern im Rahmen von ohnedies durchgeführten Veranstaltungen.

Im Zentrum des Vorbereitungsprojektes stand die Ermittlung des Einflusses einer psychisch erkrankten Schwester oder eines psychisch erkrankten Bruders auf die gesunden Geschwister. Dazu wurde eine sehr umfangreiche Recherche durchgeführt, für die mehr als 300 deutsch- und englischsprachige Quellen ausgewertet wurden, wobei in Deutschland nur sehr wenige Studien identifiziert werden konnten. Federführend war hierbei Prof. Dr. Reinhard Peukert, selbst Bruder und bis zum Ruhestand tätig als Professor für Gemeindepsychiatrie. Die wesentlichen Ergebnisse:

  • Alle Studien liefern dieselben Hinweise auf die Belastungen der gesunden Geschwister, die in der Regel im Kindes- oder Jugendalter eintreten und bei einem Teil der Geschwister über viele Jahre, oft lebenslang ihre Wirkung entfalten und nicht selten so massiv sind, dass sie zu reaktiven somatischen oder psychischen Erkrankungen führen.
  • Ein anderer Teil der gesunden Geschwister konstatiert für sich, dass die in jungen Jahren erlebten Herausforderungen durch den frühen Erwerb von vornehmlich sozialen Kompetenzen die eigene Persönlichkeitsentwicklung gefördert haben.
  • Beide Erfahrungen bzw. Entwicklungen teilen die Geschwister einer psychisch erkrankten Schwester bzw. eines psychisch erkrankten Bruders in wesentlichen Punkten zum einen mit Kindern mit einem psychisch erkrankten Elternteil und zum anderen mit solchen Geschwistern, die mit einem chronisch somatisch erkrankten oder behinderten Geschwisterkind aufgewachsen sind.
  • Dazu passen Studienergebnisse, die im Falle von psychischen Erkrankungen keinen oder nur einen geringen Einfluss der Diagnose und des Schweregrads der Erkrankung auf das gesunde Geschwister(kind) sehen.
  • In einigen Studien wird der protektive Charakter einer guten Geschwisterbeziehung sowohl für die erkrankten als auch die gesunden Geschwister herausgearbeitet.
  • Für Deutschland sind keine Aussagen darüber verfügbar, wie viele Geschwister in welcher Weise von der Erkrankung der Schwester bzw. des Bruders betroffen sind. Auf der Basis internationaler Studien sowie statistischer Daten aus Deutschland wurde daher eine grobe Abschätzung vorgenommen; demnach sind etwa 0,5 Millionen Kinder und Jugendliche sowie etwa 1,5 Millionen Geschwister im Erwachsenenalter von mittleren oder schweren Belastungen betroffen.
  • Während bei schwer belasteten oder traumatisierten Geschwistern (z.B. als Folge von Gewalter­fahrungen) ein Unterstützungsbedarf durch eine Psychotherapie angezeigt sein kann, ist davon auszugehen, dass für die weniger schwer belasteten Geschwister eine Unterstützung durch Gesprächsangebote, etwa in Selbsthilfegruppen oder als Peer-Beratung, hinreichend sein kann.
  • Eine wichtige Funktion nehmen dabei auch Angebote im Rahmen des Behandlungssettings ein. Anders als in anderen Ländern finden in Deutschland die Geschwister von erkrankten Kindern und Jugendlichen und erst recht die Geschwister von erwachsenen Erkrankten jedoch noch immer kaum Beachtung.

Als weiterer zentraler Punkt konnte herausgearbeitet werden, dass und welche Einflüsse auf die Entwicklung der gesunden Geschwister familiendynamische Prozesse und die Interaktion bzw. blockierte Interaktion mit dem eigenen sozialen Umfeld haben, was sich wiederum auf die Ausbildung von Bewältigungsstrategien auswirkt. Die beiden wichtigsten Aspekte sind dabei:

  • die Bewusstmachung und Reflexion der eigenen Ambivalenzen und
  • der offene Umgang mit der Erkrankung innerhalb und außerhalb der Familie bzw. das Gegenteil davon, was bis hin zu einem extrem belastenden ‚Schweigegebot‘ führen kann.

Beispielhaft kommen diese beiden Punkte in einem Kommentar zum Ausdruck, den eine Schwester kürzlich auf der Website des GeschwisterNetzwerks geschrieben hat:

„Hallo, mein Name ist Lydia und ich bin die Schwester eines psychisch kranken Bruders. Dieser Text hat mich zu Tränen gerührt. Ich bin 29 Jahre alt, bei meinem Bruder ist Schizophrenie diagnostiziert worden, da war ich 7 oder 8 Jahre alt und ich bin erst jetzt soweit, mich mit dieser Situation und allem, was gewesen ist, auseinander zu setzen. Ich habe mich noch nie mit anderen Menschen in ähnlicher Situation austauschen können und hätte nicht gedacht, dass mir beim ersten Text, den ich lese, die Tränen kommen und bemerke, dass ich nicht alleine bin mit solchen Gefühlen. Danke für diesen wahren Text.“ (Link)

Einzelne Aspekte der aus der Recherche sowie den eigenen Erfahrungen abgeleiteten Hypothesen wurden mit Persönlichkeiten mit einschlägigen Erfahrungen diskutiert sowie mit erwachsenen Geschwistern im Rahmen von drei überregionalen Treffen, davon zwei unter Einbeziehung der Eltern.

Einzelne Aspekte der aus der Recherche sowie den eigenen Erfahrungen abgeleiteten Hypothesen wurden mit Persönlichkeiten mit einschlägigen Erfahrungen diskutiert (in alphabetischer Reihenfolge):

  • Dr. Volkmar Aderhold, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und (Mit-)Begründer des noch relativ neuen Behandlungssettings ‚Open Dialog‘
  • Prof. Dr. Thomas Bock, Psychologe und Autor; Autor einer der wenigen deutschen Studien zu Geschwistern psychisch Erkrankter
  • Dr. Ulrike Hoffmann-Richter, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Forscherin und zertifizierte Gutachterin
  • Prof. Dr. Renate Schepker, Chefärztin einer Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie; tätig in diversen Berufs- und Fachverbänden [1]
  • zwei journalistisch tätige Geschwister mit fachlichem Hintergrund
  • sowie erwachsene Geschwister im Rahmen von drei überregionalen Treffen, davon zwei unter Einbeziehung der Eltern.

Ergebnisse:

  1. Unterstützungsangebote müssen für die verschiedenen Altersgruppen unterschiedlich konzipiert werden; Unterstützungsangebote für Kinder- und Jugendliche können allein mit Angeboten der Selbsthilfe nicht umgesetzt werden; hier bedarf es kompetenter fachlicher Begleitung;
  2. Angebote aus der Selbsthilfe heraus, also vorrangig Gesprächsangebote, können wirksam werden vor allem für Geschwister mit mittelschweren Belastungen; dabei muss erkannt werden, wann Belastungen oder Traumatisierungen ein Ausmaß erreicht haben, dass den betroffenen Geschwistern zu einer psychotherapeutischen Maßnahme zu raten ist; ein Selbsthilfe-Gesprächsangebot kann begleitend hilfreich sein;
  3. Beratung und Unterstützung auch für Dritte (im Interesse der gesunden Geschwister), vorrangig für Eltern sowie weitere Familienangehörige;
  4. ‚Weckruf‘, der sich an das professionelle Hilfesystem richtet mit dem Ziel, die Geschwister (aller Altersgruppen) mit ihren speziellen Problemstellungen nicht länger zu übersehen;
  5. (Weitere) Unterstützung bei der Bildung eigener Selbsthilfegruppen für Geschwister, die sich in den allgemeinen Angehörigengruppen häufig nicht ausreichend wahrgenommen fühlen;
  6. Schaffung von Kommunikationsstrukturen, die den Austausch unter bekannten Geschwistern zusätzlich zu persönlichen Begegnungen ermöglicht; erkennbar ist ein großes Bedürfnis nach Vertrauensschutz; das seit 2017 betriebene Forum des GeschwisterNetzwerks, das zwar anonym aber dennoch öffentlich ist, wird von vielen Geschwistern allenfalls als Einstieg gesehen;
  7. Qualifikation von geeigneten (erwachsenen) Geschwistern als Moderatoren für Geschwister- und Eltern-Geschwister-Seminare und fürs Forum
  8. Qualifikation von geeigneten (erwachsenen) Geschwistern für die individuelle Peer-Beratung;
  9. Konzeption und Bereitstellung niederschwelliger Informationsmaterialien; auch in diesem Bereich gibt es in Deutschland – anders als seit langem in Ländern aus dem englischsprachigen Raum – bisher keine Angebote.

Da das GeschwisterNetzwerk noch recht jung ist und bisher ausschließlich ehrenamtlich betrieben wird und somit sowohl in personeller als auch finanzieller Hinsicht über begrenzte Ressourcen verfügt, wird der Schwerpunkt seiner Aktivitäten im ersten Abschnitt eines Unterstützungsprojektes auf den Punkten 2, 6 und 7 liegen.

_________

[1] Frau Prof. Dr. Schepker hat einen Brief des GeschwisterNetzwerks mit gezeichnet, der sich an die vom Bundestag eingesetzte Sachverständigen-Arbeitsgruppe ‚Kinder psychisch kranker Eltern‘ wendet und darauf aufmerksam macht, dass viele der benannten Probleme auch für Geschwisterkinder relevant sind. (Link)

Förderung des Projektes:
Wir bedanken uns für die Unterstützung des Projektes beim BKK Dachverband für die Selbsthilfeförderung gemäß § 20h SGB V

Dieser Inhalt ist passwortgeschützt. Um ihn anschauen zu können, bitte das Passwort eingeben:

Gründungsgeschichte

Als sich in den 1970er Jahren erste Selbsthilfegruppen von Angehörigen psychisch erkrankter Menschen bildeten, musste ‚Angehörige‘ in der Regel gleichgesetzt werden mit ‚Eltern‘, meistens sogar vorrangig mit ‚Müttern‘, noch genauer: Mütter von erwachsenen Kindern mit psychotischen Erkrankungen. Andere Angehörige wie Partner, Kinder oder auch Geschwister kamen höchst selten als Einzelfälle vor, ebenso erkrankte Angehörige mit anderen Diagnosen. Dies setzte sich fort, als sich in den 1980er und 1990er Jahren Bundes- und Landesverbände gründeten. Viele Anliegen und Forderungen ‚der Angehörigen‘ an das Versorgungssystem sind nahezu identisch und werden bis heute ähnlich formuliert; das sind Fragen zu Krankheitsbildern, Therapiemöglichkeiten, ambulanten, klinischen und rehabilitativen Versorgungsstrukturen, Krisenhilfen, auch juristische Themen wie Sozialrecht und Betreuungsrecht. Lange unbeachtet blieb aber, dass die verschiedenen Angehörigengruppen durch ihre jeweiligen Rollen in der Familienstruktur sehr unterschiedlich von der psychischen Erkrankung eines Familienmitglieds betroffen sind.

Während sich in den letzten Jahren Partner mit ihrer spezifischen Sichtweise vermehrt zu Wort meldeten und auch Kinder von psychisch erkrankten Eltern (endlich) deutlich mehr Aufmerksamkeit erfahren können, gilt dies nicht für die Geschwister kranker Kinder und Jugendlicher, die noch immer häufig in ihrer Betroffenheit übersehen werden – von den Eltern genauso wie von im Versorgungssystem Tätigen und von wenigen Ausnahmen abgesehen auch in der Forschung. Und dies, obgleich sie oft über Jahrzehnte hinweg mit in dieser Zeit (und später) erlebten Belastungen, teilweise auch Traumatisierungen leben müssen und nicht selten ein Risiko haben, dadurch selbst zu erkranken.

Es dauerte 20 Jahre, bis sich nach dem ersten ‚Weckruf‘ einer Schwester (Lotte Mucha 1982, Link) erstmals 2003 einige Geschwister im Rahmen einer Angehörigentagung zusammenfanden (Link) und nochmals 14 Jahre, bis sich 2017 ebenfalls im Rahmen einer Angehörigentagung das Netzwerk von Geschwistern psychisch erkrankter Menschen (GeschwisterNetzwerk.de) gründete (Link).

Gründungsidee

Manche Schwestern und Brüder im GeschwisterNetzwerk haben Erfahrungen als Teilnehmende in den herkömmlichen Selbsthilfegruppen von Angehörigen, wobei sie die Teilnahme oft als wenig hilfreich erlebt haben, denn nach wie vor werden die meisten Gruppen von Eltern resp. Müttern mit deren Sorgen und Problemen dominiert. Fast alle Geschwister haben zwar Verständnis für die mitunter großen Belastungen der Eltern, fühlen sich in diesen Gruppen aber mit ihren eigenen Ängsten und Konflikten wenig oder gar nicht wahrgenommen. Ganz anders die Erfahrungen aus den wenigen reinen Geschwistergruppen, die als äußerst hilfreich beschrieben werden.

Triebfeder für die Gründung des GeschwisterNetzwerks war folgerichtig der Wunsch, Kontakt zu Menschen mit ähnlichen Erfahrungen herzustellen und sich mit diesen auszutauschen.

Herausforderungen

Übereinstimmung bestand von Beginn an darin, dass das Netzwerk:

  • eine Website aufbaut mit Informationen für ‚neue‘ Geschwister und tiefergehenden Informationen für besonders Interessierte (ist vorhanden und wird ständig erweitert), Link;
  • ein Forum für erwachsene Geschwister zur Verfügung stellt (wurde unmittelbar nach der Netzwerkgründung eingerichtet und wächst seither langsam aber kontinuierlich; inzwischen auch mit einem nicht-öffentlichen Teil), Link;
  • persönliche Begegnungsmöglichkeiten organisiert (wurde mit mehreren Veranstaltungen und Seminaren realisiert), Link;
  • die Gründung weiterer Geschwister-Selbsthilfegruppen fördert und unterstützt (2018 wurde eine Gruppe im Raum Kassel gegründet, 2019 eine Gruppe im Raum Stuttgart), Link;
  • eine Peer-to-Peer-Beratung konzipiert, telefonisch, per Email und/oder durch andere digitale Verfahren, Link;
  • Öffentlichkeitsarbeit betreibt, um zum einen die Wahrnehmung der Geschwisterbedürfnisse gegenüber den Eltern zu befördern und zum anderen in der Fachöffentlichkeit ein Bewusstsein für die ‚übersehenen Geschwister‘ zu wecken (initiiert durch mehrere Publikationen in Fachzeitschriften, Workshopangebote, Empfehlungen, Stellungnahmen), Link (Artikel) und Link (Aktivitäten und Projekte).

Noch nicht abgeschlossen ist die Diskussion über den organisatorischen Rahmen des Netzwerks, wobei folgende Punkte Berücksichtigung finden sollen:

  • Form und Häufigkeit von persönlichen Begegnungen (Zeit- und Finanzbedarf bei überregionalen Veranstaltungen);
  • Wunsch der Netzwerk-Mitglieder nach weitgehender Autonomie bei möglichst geringem Verwaltungs-Overhead;
  • Entwicklung einer ‚modernen‘, d.h. den heutigen Lebensverhältnissen angepasste Selbsthilfestruktur; hierbei soll besonderes Augenmerk darauf gerichtet werden, dass die herkömmlichen Strukturen in der Selbsthilfe (nicht nur bei Angehörigen psychisch erkrankter Menschen) für viele Menschen an Attraktivität verloren haben;
  • die erfreuliche Erfahrung seit Bestehen des Netzwerks, dass sich (anders als bei den herkömmlichen Selbsthilfeangeboten) ein vergleichsweise hoher Anteil an jungen Menschen sowie an Menschen mit Migrationshintergrund dem Netzwerk anschließen, was sich auch in der Struktur widerspiegeln soll;
  • formalisierte Kooperationsverfahren mit Landes- und Bundesverbänden sowie Selbsthilfegruppen von Angehörigen psychisch erkrankter Menschen;
  • formalisierte Kooperationsverfahren mit Geschwisterorganisationen im deutschsprachigen und im angelsächsischen Raum (bereits 2017 wurde die Europäische Geschwisterorganisation EUSIMI gegründet, Link);
  • Institutionalisierung eines Beratungsgremiums, auf dessen Expertisen bereits in verschiedenen Zusammenhängen zurückgegriffen werden konnte, Link.

Trägerverein „AngehörigenNetzwerke.de“

Auch wenn angestrebt wird, organisatorische (verbandliche) Zwänge so gering wie möglich zu halten, so bedarf es doch eines rechtlichen Rahmens, um handlungsfähig zu werden. Wir können beobachten, dass neben dem GeschwisterNetzwerk sich auch andere Angehörigengruppen auf den Weg hin zu einem Netzwerk gemacht haben. Diese werden sich, wenn es denn zu einer Netzwerkgründung kommt, den gleichen juristischen Herausforderungen gegenüber sehen wie das GeschwisterNetzwerk. Darum haben wir uns entschieden, nicht wie ursprünglich angedacht, einen „GeschwisterNetzwerk e.V.“ zu begründen sondern den „AngehörigenNetzwerke e.V.“, dem sich auch weitere Netzwerke unter Wahrung weitestgehender Autonomie anschließen können (Link). Die Gründung erfolgte im November 2018.

Ziel dieses Vereins ist es, der Pluralität der Angehörigenpotenziale gerecht zu werden und ergänzend zu den bestehenden Selbsthilfe-Strukturen einen Rahmen zu gestalten, in dem ein Netzwerk bzw. Netzwerke sich mit einem Minimum an verbandlichen Verbindlichkeiten entfalten können. Die Wahrnehmung, dass über solche Netzwerke offenkundig Menschen erreicht werden können, die die traditionelle Selbsthilfe – zumindest in unserem Indikationsbereich – bisher nur schwer oder gar nicht erreichen oder halten kann, hat uns darin bestärkt.

Als Selbsthilfe-Organisation ist der Verein ausschließlich den Interessen der Menschen in den von ihm vertretenen Netzwerken von Angehörigen psychisch erkrankter Menschen verpflichtet. Zweck des Vereins ist, durch gemeinsame, solidarische Anstrengungen die Lebensbedingungen für die Menschen in den von ihm vertretenen Netzwerken, sowie für deren Familien und die erkrankten Familienmitglieder zu verbessern. Wesentliche Aufgaben des Vereins sind deshalb u.a., den Netzwerken eine Infrastruktur zur Verfügung zu stellen, wie sichere und geschützte Kommunikationswege, Webseiten, Foren und ähnliches sowie die Entwicklung und Implementierung von Standards für die Peer-to-Peer-Beratung. Ziele und Aufgaben sind in der Satzung des Vereins niedergelegt (herunterladen).

Der Verein AngehörigenNetzwerke.de legt großen Wert auf seine Unabhängigkeit und auf Transparenz in seiner Geschäftsführung. Daher lehnt er finanzielle Zuwendungen von Wirtschaftsunternehmen im Gesundheitswesen ab, erkennt dessen ungeachtet aber die Leitlinien an, die die Dachorganisationen der gesundheitlichen Selbsthilfe, die BAG Selbsthilfe und FORUM im Paritätischen zur Zusammenarbeit mit Wirtschaftsunternehmen festgeschrieben haben (herunterladen).

Keinesfalls wird der Verein medizinische Produkte oder Verfahren bewerben oder entsprechende Empfehlungen aussprechen; dies gilt auch für die angeschlossenen Netzwerke.

Um die Unabhängigkeit des Vereins gegenüber seinen Mitgliedern, den durch ihn vertretenen Netzwerken, den Förderern und der Öffentlichkeit zu dokumentieren, veröffentlicht er jährlich neben dem Geschäftsbericht auch einen vollständigen Finanzbericht, erstmals für das Jahr 2019, dem Jahr der Eintragung ins Vereinsregister.

Seminar für Eltern und Geschwister am 26.10.2019 in Hamburg

Nach einem Impulsreferat fanden sich Eltern und Geschwister von psychisch erkrankten Menschen in getrennten Gesprächsgruppen zusammen, um anschließend die erarbeiteten Schwerpunkte ihrer jeweiligen Sichten in einer gemeinsamen Gesprächsrunde zu diskutieren.
Neben vielen Überschneidungen wurden auch unterschiedliche Wahrnehmungen in den Bedürfnissen der jeweils anderen Gruppe deutlich sichtbar und in einer sehr offenen und konstruktiven Atmosphäre angesprochen.
Die Teilnehmenden – je zur Hälfte Eltern und Geschwister – äußerten am Ende des intensiven Tages mehrheitlich den Wunsch, den Dialog fortzusetzen.

Veranstalter:
Landesverband Hamburg der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen und
Netzwerk von Geschwistern psychisch erkrankter Menschen

Impulsreferat: 
Dr. Christiane Pohl; Philosophische Beratungspraxis Hamburg

Moderation:
Tagungsmoderation: Dr. Hans Jochim Meyer; LV Hamburg ApK
Elterngruppe: Claudia Wetterhahn; LV Hamburg ApK
Geschwistergruppe: Ingeborg Schwalbe; LV Hamburg ApK
Gesamtgruppe: Dr. Christiane Pohl; Philosophische Beratungspraxis Hamburg

Protokoll: 
Leonore Julius; GeschwisterNetzwerk.de
Henny Hansen, LV Hamburg ApK
Claudia Wetterhahn; LV Hamburg ApK

Aus der Einladung: Die psychische Erkrankung eines jungen Menschen hat Auswirkungen auf die nicht erkrankten Geschwister, auf ihre Beziehung zu den gemeinsamen Eltern, auf die Beziehung der Geschwister untereinander. Wie steht es mit dem gegenseitigen Verständnis zwischen Eltern und nicht erkrankten Geschwisterkindern? Müssen Geschwister Verantwortung für ihren erkrankten Bruder oder ihre erkrankte Schwester übernehmen? Wie kann der familiäre Zusammenhalt gewahrt bleiben?

Das Seminar war mit 30 Teilnehmerinnen und Teilnehmern ausgebucht, etwa eine Hälfte waren Eltern bzw. Elternteile, die andere Hälfte Geschwister. Bei knapp der Hälfte der Teilnehmenden aus beiden Gruppen waren Eltern und Geschwister gemeinsam gekommen – ein Hinweis darauf, dass in diesen Familien eine Auseinandersetzung mit den Erfahrungen von Geschwisterkindern zumindest begonnen hat.

Dr. Christiane Pohl berät in ihrer philosophischen Beratungspraxis Menschen, die sich in einer inneren Not befinden, keinen Ausweg wissen, eine schwierige Entscheidung treffen müssen, sich fragen, wie sie ihr Leben führen sollen; darunter immer wieder auch Geschwister und Angehörige von psychisch erkrankten Menschen – deshalb arbeitet sie schon seit 12 Jahren eng zusammen mit dem Landesverband psychisch erkrankter Menschen in Hamburg.

Im Hinblick auf Geschwister, die ihre Beratung suchen, verweist sie auf das Logo des GeschwisterNetzwerks „Ihr seid auch meine Eltern“, das ihrer Meinung nach die häufig von Geschwistern empfundene Situation aufgreift: das Geschwisterkind, das sich am Rande oder außerhalb des Familienverbundes sieht. Wichtig ist ihr, dass es auf gar keinen Fall um Vorwürfe an die Eltern gehen kann – die Familie als „Ort der Fürsorge, der Liebe und des Vertrauens“ für all ihre Mitglieder bricht unter den Belastungen durch ein psychisch erkranktes Familienmitglied häufig zusammen.

In einem von ihr als typisch bezeichneten Beispiel schildert sie die Probleme einer ‚Schwester‘ Ende 20 (verheiratet, berufstätig), die auch aus vielen anderen Interviews mit Geschwistern bekannt sind:

  • Sie ist wütend auf den (älteren)Bruder, der die gesamte Aufmerksamkeit der Eltern absorbiert, seit sie 14 Jahre alt ist (erster psychotischer Schub mit 19 Jahren nach Drogenkonsum) – und mit dem sie nur wenige schöne Erinnerungen aus der Kindheit verbinden.
  • Sie streitet mit den Eltern, denen sie zu große Nachgiebigkeit gegenüber dem Bruder vorwirft – gleichzeitig aber anerkennt, dass die Eltern durch dessen Erkrankung zutiefst getroffen sind.
  • Sie fühlt sich übersehen, weil sie ja ‚funktioniert‘ und fühlt sich überfordert von dem Druck, der Eltern, Verständnis für den erkrankten Bruder aufbringen zu müssen.
  • Sie erlebt belastende Aggressionen gegenüber dem auch drohend auftretenden Bruder, Wut auf die Eltern, die medizinische Betreuung, Scham, weil sie froh ist, wenn ihr Bruder wegen Depressionen klinisch untergebracht ist.
  • Und sie ist konfrontiert mit der Erwartung der älter werdenden Eltern, dass sie sich stärker in die Sorge um den Bruder einbringen soll – bis hin zur offiziellen Betreuung.

Aus Sicht der Referentin fehlt das Bemühen oder die Kraft, die Situation der Schwester wirklich zu verstehen und ihre schwierige Lage anzuerkennen. ‚Es fehlt an Verständnis, an innerer Verbindung oder philosophisch ausgedrückt:  an  ‚Resonanz‘.

Im Folgenden erläutert die Referentin die Bedeutung von ‚Resonanz‘ für jedes Individuum und für das Verstehen (und Lösen) von Konflikten: „In Resonanz zu leben ist die Basis unseres Daseins!“ Resonanz ist wechselseitig – wie  zwei Stimmgabeln, die im Resonanzgeschehen die Schwingungen der jeweils anderen aufnehmen.

Sie bezieht sich auf Martin Buber: ‚Wer wir sind, wie wir mit einem Problem umgehen, das bildet sich nur im Austausch mit der Welt heraus, vorzüglich mit anderen Menschen‘ und Hartmut Rosa: ‚Menschen … sind existenziell vom Verlangen nach Resonanzbeziehungen geprägt‘.

Gründe für wegbrechende Resonanz sind vielfältig – einen zentralen Grund sieht sie in der zu hohen Stressbelastung, der alle Familienmitglieder nach dem Auftreten einer psychischen Erkrankung ausgesetzt sind. Die vielfältigen Folgen und die damit einhergehende  Beeinträchtigung der Resonanzbeziehungen  können  auch nach langer Zeit noch fortwirken. Sie sieht es als äußerst wichtig an, den Versuch zu unternehmen, wieder in ein ‚Resonanzverhältnis‘ zu kommen – trotz der damit verbundenen Ängste und Risiken.

Die Annäherung an die Frage der Verantwortungsübernahme sieht sie zunächst als die Wiederherstellung der Resonanz mit sich selbst, d.h. sich darüber klar zu werden, wer man bzw. frau ist,  und was die eigenen Vorstellungen und Ziele sind bzw. sein könnten. In Verantwortung steckt Antwort – und es geht um die ganz eigene, auch mit Blick auf die Gefühle, die dabei eine Rolle spielen.  Mit offenen Antennen für die äußere Welt den eigenen Weg zu suchen – dies könne auch helfen, ein ‚Grenzland‘ zu bestimmen, nicht starre Grenzen zu setzen: Bis hierher und nicht weiter. Grenzland sei viel flexibler,  und zwar in beide Richtungen,  außerdem  beinhalte es immer auch das Recht, ‚Nein‘ zu sagen.

Die Ausführungen der Referentin liefern damit eine philosophische Erklärung für das, was in Studien als lebenslange Herausforderung für Geschwister gesehen wird: die Nähe-Distanz-Regulierung sowie die sich scheinbar widersprechende Herausforderung von Individuation und sozialer Beteiligung (qua positiver Antwort auf die Ansprüche der Anderen) – diese müssen  immer wieder an sich verändernde Gegebenheiten angepasst werden.

Frau Dr. Pohl  beendet ihr Referat mit einem Zitat von Willy Kremp: „Das Sein insgesamt fragt uns mit tausend Fragen. Zu jeder Stunde anders. … Immerfort sind wir gefragt. Das ist unsere Gabe und Last als Mensch. … Lebendig sein heißt: In jeder Stunde die ganz andere und neue Frage hören, die das Leben uns stellt und mit einem Wort antworten, das immer wieder ein gleichsam erstes Wort ist“.

Beteiligt waren 14 Eltern bzw. Elternteile, deren Kinder überwiegend schon vor längerer oder sehr langer Zeit erkrankten und heute zwischen 20 und 50 Jahre alt sind. In zwei Familien gab es mehrere erkrankte Kinder, in einer dieser Familien außerdem ein erkranktes Enkelkind. Auffällig war, dass zu den meisten Familien mehrere gesunde Geschwister (bis zu vier) gehören.

In der Elterngruppe wurde in Kategorien abgebildet, was die Beziehung zwischen Eltern und den gesunden Geschwistern belastet oder behindert und was sich positiv auf diese Beziehung auswirkt.

Stolpersteine

  • Scham (Widerwille, sich als Geschwister/Eltern oder die/den Kranke/n zu outen, darüber zu reden)
  • Schuldgefühle, selbst gesund geblieben zu sein
  • Gefühl der Wut, Kränkung bei gleichzeitigen Verantwortungsgefühlen
  • Sehnsucht nach innerer Verbindung bei fehlender Resonanz in der Beziehung
  • Funktionieren müssen
  • Mangelnde Betreuung durch Institutionen
  • Zukunftsangst aufgrund der ethischen Verpflichtung zur Versorgung des kranken Geschwisters, wenn Eltern krank sind oder versterben; Erbschaftsregelungen
  • Schwierige gefühlsbetonte Familienzeiten (z.B. Weihnachten)
  • Trauer über die Krankheit in der Familie

Was hilft den Geschwistern?

  • Körperkontakt zum erkrankten Geschwisterkind; nonverbale Signale
  • Radikale Akzeptanz der Erkrankung
  • Mal alleine etwas miteinander erleben! (Kontakte ohne kranke Geschwister innerhalb der Familie, ‚normale‘ Unternehmungen; auch im Gespräch die Krankheit aussparen ohne schlechtes Gewissen)
  • Abgrenzung gegenüber dem Erkrankten
  • Stärkung angesichts von Stigmatisierung
  • Hilfesysteme kennenlernen und nutzen
  • Erkenntnis: Unter jedem Dach ein großes Ach

Was brauchen die Eltern?

  • Mit sich selbst in Resonanz zu gehen, das ‚Grenzland‘ zu bestimmen…
  • Akzeptanz der gesunden Geschwister
  • Ablehnung einer Therapeutenrolle beim Erkrankten
  • Stärkung durch andere, gesunde Angehörige von Betroffenen
  • Unterstützung der gesamten Familie durch Einbeziehung aller Angehörigen bei der Behandlung und Begleitung des psychisch erkrankten Familienmitgliedes

Für Geschwisterkinder und Eltern kann professionelle Unterstützung sinnvoll sein:
Klärungshilfe, um Tabus zu brechen und Resonanz zu stärken.

Ohne Vorstellungsrunde brauchte es einige Zeit, um miteinander ins Gespräch zu kommen. Dann allerdings war die Atmosphäre von Vertrauen und großer Offenheit geprägt. Vertreten waren Geschwister, die das ganze Spektrum der Geschwistererfahrungen abbildeten, wie sie auch in früheren Geschwistertreffen angesprochen wurden; mit dabei waren auch mehrere Teilnehmende aus der Hamburger Geschwistergruppe.

  • Mehrfach geäußert wurden:
    • die permanente Ambivalenz der Gefühle gegenüber dem erkrankten Geschwister;
    • die ständige Angst vor ‚der großen Krise‘;
    • die Unsicherheiten bezüglich der zukünftigen Entwicklungen, was die mögliche oder wahrscheinliche Übernahme von mehr Verantwortung mit einschließt;
    • Erfahrungen mit schwierigem innerfamiliären Kommunikationsverhalten;
    • Stigmatisierungserfahrungen bzw. die Befürchtung von Stigmatisierung.
  • Bestätigt wurde auch die Erfahrung, dass Geschwister sich überdurchschnittlich häufig für soziale Berufe entscheiden.
  • Eine Schwester beschreibt, wie die Erkrankung des jüngeren Bruders die Familie zusammen schweißt; es wurde von Beginn an viel gesprochen in der Familie; sie empfindet, dass die Rollen geklärt sind. Sie fühlt sich nicht belastet von Ängsten vor Stigmatisierung; so hat sie sich auch am Arbeitsplatz für einen offenen Umgang mit der Erkrankung des Bruders entschieden, räumt aber ein, dass dies bei einer Tätigkeit im sozialen Bereich leichter sei als in anderer Umgebung.
  • Eine andere Schwester äußert ihre Traurigkeit darüber, dass sie in ihrer Patchwork-Familie das genaue Gegenteil erleben muss. Die nicht vorhandene Kommunikation stellt für sie eine Herausforderung dar, für die sie derzeit keine Lösung sieht, sodass sie eine therapeutische Bearbeitung in Erwägung zieht.
  • Zwei Brüder (im jungen Erwachsenenalter) berichten fast gleichlautend von engem Kontakt zu einem weiteren (gesunden) Bruder, aber nur gelegentlichem Kontakt zu dem erkrankten Geschwister. Beide sind auf Wunsch der Eltern bzw. eines Elternteils zum Treffen gekommen; sie erleben die Belastung der Eltern und sehen die Frage der ‚Verantwortungsübernahme‘ am Horizont.
  • Eine Schwester sieht eine ‚Konstellation, die ihr ein soziales Leben ermöglichte‘ darin, dass sie früh die (vor allem emotionale) Unterstützung einer nicht zur Familie gehörenden Person hatte, die sie rückblickend als Vize-Mutter sieht.
  • Eine Teilnehmerin fühlt sich sehr belastet durch die Sprachlosigkeit, die sie vor allem auf den unterschiedlichen Zugang zu psychischen Erkrankungen in ihrer multikulturellen Familie zurück- führt. Auch eine weitere Schwester spricht von zusätzlichen Problemen durch kulturelle Traditionen in ihrer Familie.
  • Sowohl aus anderen Geschwistertreffen als auch aus Studien bekannt ist das ‚schlechte Gewissen‘, das hier zwei Geschwister zum Ausdruck brachten:
    • ‚Ich wünschte, ich wäre erkrankt statt des Geschwisters‘ und
    • ‚Ich würde sofort mein Leben dafür geben, wenn es meinem Bruder dadurch wieder gut ginge‘.
  • Relativ breiten Raum nahm die Frage ein, ob und in welcher Weise das ‚Sich Kümmern‘ um ein erkranktes Geschwister die eigene Partnerschaft bzw. Familie beeinflusst. Alle Teilnehmenden, die sich dazu äußerten, sahen solche Auswirkungen, allerdings in sehr unterschiedlichem Ausmaß.
    Eine Teilnehmerin sieht sich nach vielen Jahren aktuell im Konflikt zwischen der etwas jüngeren erkrankten Schwester und den eigenen halbwüchsigen oder bereits erwachsenen Kindern, bei denen sie Anzeichen von Eifersucht zu erkennen glaubt. Sie spitzt ihre eigene Gefühlslage in der Aussage zu, sie ‚habe es satt, über ihre Rollen definiert zu werden, sie wolle einfach nur als Mensch gesehen werden‘.

Bei allen Unterschieden im Erleben und Miterleben der Erkrankung eines Geschwisters wurde eine wesentliche Erkenntnis aus allen bisherigen Treffen von Geschwistern sowie von Eltern und Geschwistern bestätigt:
Die Belastungen durch die Erkrankung können nicht behoben werden, wohl aber können zusätzliche Belastungen vermieden werden, die sich z.B. durch die überstarke Fokussierung auf das erkrankte Familienmitglied ergeben oder durch die oft übersehenen Störungen aufgrund der in den Familien Raum greifenden Sprachlosigkeit.
Die Beiträge der Geschwister haben gerade dies deutlich gemacht:
Wo über die jeweils eigenen Erfahrungen und Gefühle in der Familie gesprochen werden kann, werden weniger Belastungen erlebt; wo das (noch) nicht möglich ist, erhöhen sich die Belastungen – nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass jeder auf Vermutungen über die Wahrnehmungen und Gefühle der anderen Familienmitglieder angewiesen ist.

In der gemeinsamen Gruppe von Eltern und Geschwistern wurden die in den getrennten Gruppen angesprochenen Aspekte vorgetragen und um weitere Gesichtspunkte ergänzt.

Aus der Elternperspektive

  • Aus Elternsicht wurde festgestellt, dass es bei den angesprochenen Problemen und in den Blick genommenen Lösungsmöglichkeiten zu zahlreichen Überschneidungen kommt. Was den Eltern hilft, hilft häufig auch den gesunden Geschwistern und dadurch wiederum auch dem psychisch erkrankten Geschwister.
  • Eine Rolle spielt immer wieder die allgegenwärtige ‚Schuldfrage‘:
    Herausgearbeitet wurden die unterschiedlichen Motivationen für Schuldgefühle – die ‚Verursachungsschuld‘, die in der Psychiatrie über lange Zeit und gelegentlich auch heute noch den Eltern, vornehmlich den Müttern, zugeschrieben wurde und wird und demgegenüber die ‚Solidaritätsschuld‘, die viele Geschwister empfinden.
    Die Moderatorin gibt zu bedanken, dass die ‚Solidaritätsschuld‘ Anteile von den Eltern (Müttern) enthalten können, die auf die Geschwisterkinder  übertragen wurden – Signale der Zustimmung zeigten, dass dies Geschwisterkindern zu schaffen machte. Sie wiesen darauf hin, dass sie sich auch die Frage gestellt hätten, ob sie Schuld seien an der Erkrankung des Bruders oder der Schwester – bis hin zur Überlebensfrage: Warum hat es sie/ihn erwischt und nicht mich?
  • Zur Sprache kam in diesem Zusammenhang auch das Problem der Suizidgefahr, das Frau Dr. Pohl zufolge eine ungute Verquickung mit ‚vorweggenommener Schuld‘ erzeugen kann: „Wenn ich jetzt nicht helfe, dann…“ Eine für alle Familienmitglieder sehr belastende Verquickung von Schuld und Angst, die in der Kommunikation nicht verschwiegen werden sollte.

Aus der Geschwisterperspektive

  • Gefühle brauchen Zeit und Ruhe.
  • Es tut gut, Zusammenhalt in der Familie zu erleben …
  • Der Austausch unter Geschwistern ist befreiend!
  • Die psychische Erkrankung kann wie eine Wolke über der Familie schweben
    > frischer Wind nötig!
  • Das Recht auf ein eigenes, positiv geprägtes Leben anerkennen.
  • In Resonanz mit sich selbst bleiben!
  • Jeder Mensch hat das Recht, dafür zu sorgen, dass das eigene Leben gelingt!

Kontrovers diskutiert wurde die Frage des Schweigens über die psychische Erkrankung eines Familienmitgliedes – innerhalb der Familie und nach außen. Während in der Elterngruppe der Eindruck entstanden war, immer mehr Eltern seien  willens und in der Lage, die Erkrankung eines Kindes zu akzeptieren und darüber zu sprechen, wurde von Geschwisterseite deutlich gemacht, dass die anwesenden Eltern keinesfalls als repräsentativ anzusehen seien. Frau Dr. Pohl wies darauf hin, dass das Schweigen, mitunter auch ein von den Eltern auferlegtes explizites Schweigegebot, belastender sein kann als die Erkrankung selbst, bis hin zu psychosomatischen Erscheinungen, die zudem die Entwicklung eigener sozialer Kontakte massiv beeinträchtigen. Andererseits betonte sie, dass ein temporäres oder funktionales  Schweigen nach dem ersten Auftreten einer psychischen Erkrankung ganz hilfreich sein kann, bis die Familienmitglieder sich ‚sortiert‘ haben und sich über die schwierigsten Schritte der Verarbeitung verständigt haben.

In der Diskussion kam auch zur Sprache, dass die häufig geäußerten Ambivalenzen in der Beziehung zwischen gesunden und erkrankten Geschwistern einen wesentlichen Grund in der Besonderheit von Geschwisterbeziehungen haben. Sie unterscheiden sich generell von allen anderen Beziehungen im Leben schon allein durch ihre Dauer – in der Regel sind es die längsten Beziehungen im Leben eines Menschen, geprägt von den gemeinsamen Erfahrungen (Studien belegen, dass sie auch bei Konflikten und sogar bei Kontaktabbruch in der einen oder anderen Form weiterbestehen).

Der ‚Verlust‘ von Bruder oder Schwester durch eine späte Erkrankung ist sehr belastend, ebenso wie die Trauer und der Schmerz, nie einen (z.B. großen) Bruder gehabt zu haben.

Beim Thema ‚radikale Akzeptanz‘ und Entstigmatisierung der psychischen Erkrankung  wurde klar: Es braucht viel Zeit und Mut, unter der Maßgabe von Resonanz mit sich selbst und Selbstschutz – Offenheit nicht immer und nicht jedem gegenüber.
Als Basis ist eine weitreichende Kenntnis von psychischen Erkrankungen notwendig, um in Gesprächen Berührungsängste von Verwandten und Freunden abbauen zu können.

Hier wurde deutlich, dass die Geschwister in den meisten Fällen viel zu wenig wissen über psychische Erkrankungen – Aufklärung fehlt überall. In der Schule wie insgesamt in der Gesellschaft. Psychische Erkrankungen sind alltäglich geworden, werden aber nicht als alltägliches Problem behandelt.

Die meisten Teilnehmenden wünschen sich 1-2x im Jahr eine Fortsetzung von Eltern-Geschwister-Seminaren, jedoch mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung:

  • mehr Zeit für die getrennten Gruppen
  • Intensivierung des Austauschs in der gemeinsamen Gruppe
  • Schwerpunkt auf der Bearbeitung einzelner Theme
  • getrennte Workshops für Eltern und Geschwister – erst danach wieder ein gemeinsames
    Eltern-Geschwister-Seminar

Über die Realisierungsmöglichkeiten einer Fortsetzung  in 2020 werden sich das GeschwisterNetzwerk und der Landesverband psychisch erkrankter Menschen HH beraten. Einladungen sollen an die Teilnehmergruppe des Seminars in 2019 verschickt werden.

Förderung der Veranstaltung:
Wir bedanken uns für die Unterstützung der Veranstaltung beim AOK Bundesverband für die Selbsthilfeförderung gemäß § 20h SGB V

Leonore Julius, Henny Hansen, Claudia Wetterhahn (2019)

Bericht vom Eltern-Geschwister-Seminar am 28. Oktober 2019 in Hamburg

Nach einem Impulsreferat fanden sich Eltern und Geschwister von psychisch erkrankten Menschen in getrennten Gesprächsgruppen zusammen, um anschließend die erarbeiteten Schwerpunkte ihrer jeweiligen Sichten in einer gemeinsamen Gesprächsrunde zu diskutieren.

Neben vielen Überschneidungen wurden auch unterschiedliche Wahrnehmungen in den Bedürfnissen der jeweils anderen Gruppe deutlich sichtbar und in einer sehr offenen und konstruktiven Atmosphäre angesprochen.

Die Teilnehmenden – je zur Hälfte Eltern und Geschwister – äußerten am Ende des intensiven Tages mehrheitlich den Wunsch, den Dialog fortzusetzen.

Christiane Pohl (2019)

Impulsreferat beim Eltern-Geschwister-Seminar am 26. Oktober 2019 in Hamburg

Christiane Pohl gibt Einblicke in die Arbeitsweise ihrer ‚Philosophischen Beratungspraxis‘, in der gelegentlich auch Geschwister psychisch erkrankter Menschen Rat und Hilfe suchen.

An Beispielen zeigt sie auf, dass die Fragestellungen dieser Geschwister sich nicht unterscheiden von denen, die wir aus Geschwistertreffen und Interviews kennen. Sie versucht gemeinsam mit diesen Geschwistern eine Annäherung an mögliche Antworten aus philosophischer Sicht.

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